Vor etwas über einem Jahr erschütterte der BGH einen vergaberechtlichen Glaubenssatz, als er entschied, dass bietereigene AGB doch nicht zwingend zum Angebotsausschluss führen, wenn davon auszugehen ist, dass der Bieter sie versehentlich beigefügt hat. Der Auftraggeber kann und muss in solchen Fällen den Angebotsinhalt aufklären und im Rahmen der Auslegung auf den maßgeblichen Inhalt der Vergabeunterlagen zurückführen. (vgl. BGH, Urt. v. 18.06.2019 – X ZR 86/17). Diese Linie führte das OLG Düsseldorf nun fort. In dem entschiedenen Fall ging es um ein Formular zum Nachunternehmereinsatz.
GWB § 160 Abs. 3; VOB/A 2019 § 15 EU Abs. 1 Nr. 1, § 16a EU Abs. 1 Satz 1
Leitsatz
Sachverhalt
Bei der europaweiten Vergabe von Kanalbauarbeiten im offenen Verfahren mussten die Bieter in einem vorgegebenen Angebotsformular durch Ankreuzen und Ausfüllen von Texteingabefeldern Angaben zu Art und Umfang eines etwaigen Nachunternehmereinsatzes machen. Ohne entsprechende Angaben erklärten die Bieter diesem Formular zufolge automatisch, dass sie alle Leistungen im eigenen Betrieb ausführen werden. Der Bestbieter ließ das Formular unausgefüllt, obwohl er tatsächlich zumindest für die Rohrvortriebsleistungen auf ein Drittunternehmen angewiesen war.
Der Auftraggeber wollte das Angebot dennoch bezuschlagen, nachdem dieser Bieter in einem Aufklärungsgespräch erklärt hatte, einen Nachunternehmer für diese Leistungen einzusetzen.
Die Entscheidung
Zu Recht! Das OLG Düsseldorf entschied, dass das Angebot nicht auszuschließen war.
Eindeutiges Angebotsformular war unklar
Die Auslegung ergebe nämlich, dass das Angebot hinsichtlich des Nachunternehmereinsatzes unklar sei, obwohl das Angebotsformular dem Wortlaut nach in diesem Punkt eindeutig war. Zwar sei der Wortlaut ein ganz zentraler, nicht aber der einzige Gesichtspunkt, der bei der Angebotsauslegung eine Rolle spiele. Vielmehr seien auch die Begleitumstände zu berücksichtigen.
Kenntnisse des Auftraggebers sind zu berücksichtigen
Insbesondere habe der Auftraggeber aus vorangegangenen Aufträgen gewusst, dass der Bieter die Leistungen immer durch Dritte ausführen ließ und zur Eigenausführung der Leistungen gar nicht in der Lage gewesen wäre. Da der Auftraggeber ständig derartige Arbeiten ausschrieb, sei auch davon auszugehen, dass er wusste, dass die betroffenen Leistungen am Markt überhaupt nur von drei bis vier Unternehmen angeboten würden. Ein weiteres Indiz dafür, dass das Angebotsformular zum Nachunternehmereinsatz versehentlich nicht ausgefüllt worden war, ergab sich aus einem inhaltlichen Vergleich mit Nebenangeboten desselben Bestbieters.
Unter Berücksichtigung dieser Kenntnisse musste der Auftraggeber es für überwiegend wahrscheinlich halten, dass das Angebotsformular des Bestbieters in Bezug auf den Nachunternehmereinsatz entweder aus einem Missverständnis heraus oder aus Nachlässigkeit unzutreffend ausgefüllt war.
Rechtsfolge: Aufklärung und Nachforderung
Da das Angebotsformular unklar war, war es gemäß § 15 EU VOB/A aufzuklären. Nachdem die Aufklärung ergab, dass tatsächlich ein Nachunternehmer vorgesehen war, waren die diesbezüglichen Angaben gemäß §16a EU Abs. 1 Satz 1 VOB/A nachzufordern.
Rechtliche Würdigung
Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass das OLG Düsseldorf eine Nachforderung in Bezug auf ein Formular zuließ, das dem Auftraggeber bereits vorlag, und zwar formal völlig einwandfrei. Bislang galt nämlich immer: nachgefordert werden darf nur, was fehlt und es fehlen nur Unterlagen, die (körperlich) nicht oder formal unzureichend vorliegen. Inhaltlich unzureichende Unterlagen sind hingegen nicht als fehlend einzuordnen (vgl. so erst jüngst wieder zu § 56 Abs. 2 und 3 VgV: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18.09.2019, Az.: Verg 10/19).
Wie passt das zum Nachbesserungsverbot?
Bedeutet diese Entscheidung also eine Abkehr von der bisherigen Linie? Nicht, wenn man davon ausgeht, dass die geforderte Erklärung zum Nachunternehmereinsatz im entschiedenen Fall tatsächlich gar nicht vorlag.
Zu diesem Ergebnis kann man kommen, wenn man sich vor Augen hält, dass das Angebotsformular seiner Struktur nach die Erklärung, dass kein Nachunternehmer eingesetzt werde, im Fall unterbleibender Angaben fingierte. Tatsächlich aber hatte der Bestbieter eine solche Erklärung gar nicht abgeben wollen, es hatte ihm insoweit offenbar das erforderliche Erklärungsbewusstsein gefehlt. Seit der eingangs zitierten Entscheidung des BGH zu bietereigenen AGB gilt im vergaberechtlichen Kontext, dass öffentliche Auftraggeber unter bestimmten Voraussetzungen versehentlich erfolgte Erklärungen mittels Auslegung und Aufklärung unberücksichtigt lassen müssen bzw. Bietern Gelegenheit geben müssen, von diesen Abstand zu nehmen. Übertragen auf den hier entschiedenen Fall käme man dann folgerichtig zu dem Ergebnis, dass die durch das Angebotsformular fingierte Erklärung nach vergaberechtlich erforderlicher Aufklärung und Auslegung als nicht vorliegend zu behandeln war. Da die Vergabeunterlagen eine solche Erklärung jedoch forderten, fehlte sie dann aber noch und war nachzufordern.
Auslegung entgegen dem klaren Wortlaut
Interessant ist auch, dass die Auslegung des Angebotsformulars sich im entschiedenen Fall fast ausschließlich auf sonstige Kenntnisse des Auftraggebers stützte, also auf Umstände außerhalb des Angebots selbst und diesen Umständen im Ergebnis sogar den Vorrang gegenüber dem klaren Wortlaut des Angebotsformulars einräumte. Dabei hat möglicherweise allerdings auch eine Rolle gespielt, dass die Hürde für eine versehentlich (unzutreffend) abgegebene Erklärung im Angebotsformular nicht hoch lag. Da das Formular die betreffende Erklärung fingierte, reichte schon bloße Untätigkeit des Bieters, etwa aufgrund flüchtigen Überlesens oder Überblätterns. Da erscheint es plausibel, den Wortlaut des nicht ausgefüllten Angebotsformulars nicht allzu hoch zu gewichten und eine Aufklärung und ggf. anschließende Nachforderung auch aufgrund außerhalb des Wortlauts liegender Hinweise auf ein Versehen zuzulassen.
Auch in anderen Fällen scheint sich aktuell ein eher großzügiger Umgang mit formularmäßig abzugebenden Erklärungen abzuzeichnen (vgl. z.B. VK Berlin, Beschluss vom 6.01.2020, VK B 1-39/19 in Bezug auf die Ergänzung einer Unternehmensbezeichnung in einem Vordruck und zur möglichen Korrektur eines Schreibfehlers bei den Jahreszahlen für erforderliche Umsatzangaben im Anwendungsbereich der VgV).
Weiterführende Hinweise
Allerdings setzen die vergaberechtlichen Grundsätze, insbesondere des Wettbewerbs und der Gleichbehandlung, der Auslegung und Nachforderung weiterhin Grenzen. Schon der BGH hat in besagter Entscheidung zu bietereigenen AGB erkennen lassen, dass eine Auslegung entgegen dem klaren Wortlaut nur in Betracht kommt, wenn und soweit keine Manipulationsgefahr besteht (vgl. BGH, Urteil vom 18.06.2019, Az.: X ZR 86/17). Aus diesem Grund dürfte man auch weiterhin nicht pauschal bei jeder formularmäßigen Abfrage annehmen dürfen, dass nachträgliche Änderungen im Wege der Angebotsauslegung und nachforderung möglich sind (vgl. z.B. in Bezug auf falsche Produkt- und Typenbezeichnungen: OLG Koblenz, Beschluss vom 30.03.2012, Az.: 1 Verg 1/12).
Zudem gelten auch die sonstigen Grenzen einer Nachforderung gemäß §16a EU VOB/A unverändert fort. Insbesondere lässt die Vorschrift eine Nachforderung dann nicht mehr zu, wenn der Auftraggeber dies im Vorfeld ausgeschlossen hat (vgl. dazu weiterführend: Pfarr, Nachforderung von Unterlagen: Das ändert sich durch die neue VOB/A 2019 Ein kurzer Überblick; Vergabeblog.de vom 03/06/2019, Nr. 40975)
Praxistipp
Ob und in welchem Umfang Auslegung, Aufklärung und Nachforderung zulässig sind, ist im Einzelfall oft eine schwierige Gratwanderung, die Auftraggebern viel abverlangt. Sie sind gut beraten, Angebotsunterlagen und insbesondere formularmäßige Erklärungen möglichst wenig fehleranfällig zu gestalten. Umgekehrt sollten sich aber auch Bieter nicht auf eine großzügige Nachforderungspraxis verlassen und im Zweifelsfall lieber eine Aufklärungsfrage mehr stellen, um Unklarheiten im Vorfeld zu beseitigen.
Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.
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