§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ist auch zu Corona-Zeiten als Ausnahmevorschrift eng und unter Zugrundelegung der Vorgaben des EuGHs bzw. der Europäischen Kommission sowie der Konkretisierungen durch das Bundeswirtschaftsministerium auszulegen.
Das Nachprüfungsverfahren betrifft den Vertrag über die Erprobung der digitalen Identifizierungsmöglichkeit via Self-Ident-Verfahren, den die Antragsgegnerin mit der Beigeladenen im Juni 2020 ohne vorherige Durchführung eines europaweiten Vergabeverfahrens abgeschlossen hat. In ihrer Entscheidung setzt sich die Vergabekammer des Bundes trotz der von ihr festgestellten Unzulässigkeit des Antrags inhaltlich mit der Frage auseinander, ob tatsächlich die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zur Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb mit bloß einem Unternehmen vorliegen. Dabei argumentiert sie nicht durchweg nachvollziehbar.
§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV
Sachverhalt
Bei der Antragsgegnerin handelt es sich um eine Einrichtung der öffentlichen Verwaltung, deren Dienststellen auf Antrag über die Gewährung von gesetzlichen Geldleistungen entscheiden. Die hierbei grundsätzlich zwingend erforderliche Sichtprüfung eines Ausweisdokuments der Antragsteller vor Ort zur Verifizierung der Identität war aufgrund der Corona-Pandemie nicht mehr möglich. Die Pflicht zur persönlichen Identifizierung wurde daher zunächst bis Ende September ausgesetzt. Mit der hier gegenständlichen Beschaffung sollte der Einsatz einer Software zur elektronischen Identifizierung erprobt werden.
Im Rahmen der Bedarfsanforderung im April 2020 stellte die Antragsgegnerin durch einen Vergleich mehrerer Software-Anbieter fest, dass die Beigeladene derzeit die Einzige auf dem Markt sei, die eine nicht manipulierbare elektronische Identifizierung mittels Künstlicher Intelligenz bereitstelle und dabei einen Echtheitsnachweis des Ausweisdokuments anbiete, ohne dass bei dem Vorgang eine natürliche Person beteiligt sein müsse. Die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb begründete sie mit dem Ziel der Eindämmung der Pandemie und der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwaltung.
Nach Erstellung der Leistungsbeschreibung forderte die Antragsgegnerin die Beigeladene zur Abgabe eines Angebots auf. Zwischen dem Eingang der Beschaffungsanforderung und der Zuschlagserteilung lagen ca. 2 Monate.
Nach Bekanntmachung des Vertragsschlusses beantragte die Antragstellerin die Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens bei der Vergabekammer des Bundes (VK Bund). Sie war insbesondere der Ansicht, der zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen abgeschlossene Vertrag sei mangels vorheriger Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union für unwirksam zu erklären, da die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV mangels Dringlichkeit nicht vorlägen. Jedenfalls hätte sich die Antragsgegnerin nicht auf einen einzigen Anbieter beschränken dürfen, insbesondere auch weil es nicht zutreffe, dass nur das Produkt der Beigeladenen die von der Antragsgegnerin aufgestellten Anforderungen erfülle.
Die Entscheidung
1. Der Nachprüfungsantrag hat keinen Erfolg. Die VK Bund entscheidet, dass der Antrag mangels Antragsbefugnis im Sinne des § 160 Abs. 2 GWB bereits unzulässig ist. So habe die Antragstellerin nicht hinreichend darlegen können, dass ihr Verfahren geeignet sei, den Leistungsbedarf der Antragsgegnerin zu befriedigen, sodass ihr also – selbst wenn man unterstellen würde, der Vertragsschluss der Antragsgegnerin mit der Beigeladenen wäre vergaberechtswidrig erfolgt – hierdurch kein Schaden im Sinne des § 160 Abs. 2 GWB entstanden wäre.
2. Im Übrigen spreche viel dafür, dass eine Bekanntmachung nicht habe erfolgen müssen, da die Voraussetzungen des 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vorlägen.
a) Mit der Corona-Pandemie und der hieraus bedingten epidemischen Lage von nationaler Tragweite liege ein für die Antragsgegnerin unvorhersehbares Ereignis im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vor.
b) Die Einschätzung der Antragsgegnerin, dass im Zusammenhang mit diesem unvorhersehbaren Ereignis äußerst dringliche, zwingende Gründe vorlagen, die es nicht zuließen, die vorgeschriebenen Mindestfristen für andere Verfahrensarten als ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb einzuhalten, erscheine nachvollziehbar.
Zunächst sei davon auszugehen, dass jede andere Verfahrensart aufgrund der vergaberechtlichen Vorgaben mindestens 25 Tage länger gedauert hätte als das jetzt durchgeführte Verfahren. Gerade weil die Antragsgegnerin ein digitales Identifizierungsverfahren zunächst nur für einen Probebetrieb beschafft habe, spreche viel dafür, dass ihr ein solches Zuwarten nicht möglich gewesen wäre. Zwar könne der Antragsgegnerin nicht darin gefolgt werden, dass die Beschaffung eines solchen Identifizierungsverfahrens erforderlich gewesen sei, um die fortdauernde Gewährung der Geldleistungen an die Empfänger sicherzustellen und einen Missbrauch durch Antragsteller zu verhindern, da die vorgeschriebene persönliche Identifizierung von der Antragsgegnerin zunächst bis zum 30. September 2020 ausgesetzt worden sei. Darum sei es der Antragsgegnerin jedoch beim Vertragsschluss mit der Beigeladenen auch gar nicht gegangen. Vielmehr hätte sie anlässlich der aktuellen pandemischen Lage vorübergehend ein alternatives Verfahren testen wollen, um festzustellen, ob dieses generell für ihre Anforderungen in solchen Krisensituationen geeignet sei. Da der Fortgang der Pandemie und die in diesem Zusammenhang von der Antragsgegnerin zur Fortführung ihrer gesetzlichen Aufgaben zu ergreifenden Maßnahmen immer noch nicht eingeschätzt werden könnten, erscheine die maßgebliche damalige Einschätzung der Antragsgegnerin, sie müsse sich dringend mit Alternativen zum persönlichen Erscheinen eines Leistungsberechtigten in einer ihrer Dienststellen auseinandersetzen, umso richtiger. Zu berücksichtigen sei auch, dass sich zahlreiche Mitarbeiter im Homeoffice befunden hätten und die IT-Systeme der Antragsgegnerin schon deswegen anders ausgelastet gewesen wären. Eine umfangreiche Marktrecherche zur Frage, ob neben der Beigeladenen auch andere Anbieter in Frage kämen, stünde dem hier eng gesteckten Zeithorizont entgegen. Vor diesem Hintergrund erscheine es nicht nur gerechtfertigt, dass die Antragsgegnerin ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb durchgeführt, sondern ebenso, dass sie an diesem Verfahren nur die Beigeladene beteiligt habe. Die Beteiligung weiterer Unternehmen hätte aufgrund des hierdurch wahrscheinlich erhöhten Bieterfragenaufkommens und Prüfungsaufwandes zu Verzögerungen geführt. Angesichts des dringenden Bedarfs, ein Online-Identifizierungsverfahren zumindest im Rahmen eines Probebetriebs zu testen, um für zukünftige Krisen gerüstet zu sein, erscheine die Vorgehensweise der Antragsgegnerin, insbesondere auch vor dem Hintergrund der zu dem Zeitpunkt eingeschränkten Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter, alternativlos.
c) Auch die Voraussetzung, dass die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit nicht der Antragsgegnerin zuzurechnen sein dürfen, sei hier erfüllt. Der Zeitraum zwischen der hausinternen Bedarfsanforderung und der Angebotsaufforderung sowie zwischen der Angebotsaufforderung und der Zuschlagserteilung erscheine jeweils nicht vorwerfbar zu lang.
Rechtliche Würdigung
Zu Unrecht geht die Vergabekammer davon aus, dass die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vorlägen.
Da bei der Durchführung des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb vom vergaberechtlichen Transparenzgrundsatz abgewichen wird, handelt es sich um eine Verfahrensart mit Ausnahmecharakter. Aus diesem Grund sind sämtliche Voraussetzungen der Vorschrift nach ständiger Rechtsprechung des EuGHs eng auszulegen (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2009, Rs. C-275/08). Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs sind die Voraussetzungen jedoch nicht als erfüllt anzusehen.
Selbstredend handelt es sich bei der Corona-Pandemie um ein unvorhergesehenes Ereignis.
Es lagen jedoch keine äußerst dringlichen und zwingenden Gründe vor, die die Einhaltung der für die anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zuließen. Bei der Beurteilung, ob diese Voraussetzung vorliegt, hat stets eine Abwägung zwischen dem Transparenzgrundsatz und den betroffenen Rechtsgütern zu erfolgen. Dabei ist auch das Rundschreiben zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen SARS-CoV-2 vom 19. März 2020 des Bundeswirtschaftsministeriums für Wirtschaft und Energie zu berücksichtigen. Hier wird ausgeführt, dass die Ausbreitung des Virus zu einem kurzfristigen Beschaffungsbedarf führen werde, bei dem aufgrund bestehender Gefährdungen fundamentaler Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit Aufträge zügig vergeben und ausgeführt werden müssten. In dieser Situation seien die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV für den Einkauf von Leistungen gegeben, die der Eindämmung und kurzfristigen Bewältigung der Corona-Epidemie und/oder der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwaltung dienten. Beispielhaft und nicht abschließend wird die Beschaffung von medizinischem Material sowie IT-Geräten zur Einrichtung von Homeoffice-Arbeitsplätzen aufgezählt.
Die dort genannten Umstände sind jedoch mit der hier gegenständlichen Situation nicht vergleichbar. Eine Gefährdung fundamentaler Rechtsgüter im oben genannten Sinne bestand nicht. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin die Pflicht zur persönlichen Identifizierung vor Ort ohnehin bis zum 30. September 2020 ausgesetzt hat. Die Gefahr, dass Berechtigte die beantragten Geldleistungen aufgrund der zu dem Zeitpunkt nicht möglichen Identifizierung vor Ort nicht erhielten, bestand damit nicht. Vor diesem Hintergrund standen einer Einhaltung der für die anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen keine Gründe im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV entgegen.
Auch diente die beschaffte Software zur Online-Identifizierung nicht der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwaltung. Der Betrieb war auch ohne die Identifizierungssoftware möglich. Zwar dürfte zu Gunsten der Antragsgegnerin zum einen zu berücksichtigen sein, dass zu diesem Zeitpunkt eine Einschränkung ihrer Arbeitsfähigkeit vorlag und zum anderen, dass es ihr bei der Beschaffung lediglich um einen kurzfristigen probeweisen Einsatz ging, um auch zukünftig für Krisensituationen gerüstet zu sein. Dieser probeweise Einsatz hätte jedoch auch ein bis zwei Monate später stattfinden können.
Auch überzeugt die Argumentation der Vergabekammer bezüglich der im Ergebnis wohl durchaus gerechtfertigten Beteiligung nur der Beigeladenen nicht. Nach der Europäischen Kommission ist eine direkte Vergabe des Auftrags an einen vorab ausgewählten Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb ausschließlich dann möglich, wenn nur ein Wirtschaftsteilnehmer in der Lage sein wird, den Auftrag unter den durch die zwingende Dringlichkeit auferlegten technischen und zeitlichen Zwänge zu erfüllen [vgl. Leitlinien der Europäischen Kommission zur Nutzung des Rahmens für die Vergabe öffentlicher Aufträge in der durch die COVID-19-Krise verursachten Notsituation vom 1.4.2020 (2020/C 108 I/01) sowie Mitteilung der Kommission vom 9.9.2015, COM (205) 454 final)]. Zwar war die Beigeladene ohnehin die einzige Anbieterin, die die von der Antragsgegnerin in der Leistungsbeschreibung aufgestellten Anforderungen erfüllen konnte. Die Ausführungen der Vergabekammer dahingehend, dass die Beteiligung weiterer Unternehmen aufgrund des hierdurch wahrscheinlich erhöhten Bieterfragenaufkommens und Prüfungsaufwandes zu Verzögerungen geführt hätte, geht vor diesem Hintergrund jedoch fehl.
Praxistipp
Die Verbreitung des Coronavirus stellte nicht nur öffentliche Auftraggeber gerade zu Beginn der Pandemie vor große Herausforderungen. Angesichts des nicht abschätzbaren Fortgangs der Situation war und ist auch nach wie vor die Möglichkeit einer schnellen und verfahrenseffizienten Beschaffung von herausragender Bedeutung. Dennoch muss sich der öffentliche Auftraggeber vor Augen führen, dass es sich bei den Vorschriften, die Möglichkeiten der schnelleren Verfahrensgestaltung vorsehen, um solche mit Ausnahmecharakter handelt. Der öffentliche Auftraggeber hat auch in nicht vorhersehbaren Situationen, die mit einer gewissen Dringlichkeit einhergehen, insbesondere die in § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV festgeschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen eng auszulegen und genau zu subsumieren. Insbesondere hat er auch zu prüfen, ob nicht andere, weniger einschneidende Möglichkeiten bestehen, wie etwa eine Fristverkürzung bei einem Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb gemäß § 17 Abs. 8 VgV. Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Umstände dürften durchaus in vielen Fällen die Tatbestandsvoraussetzungen von vergaberechtlichen Ausnahmevorschriften erfüllen. Dennoch sollte auch in diesen Fällen die Wahl der Verfahrensart stets ordnungsgemäß begründet und dabei die Vorgaben des EuGHs, der Europäischen Kommission sowie die durch das Bundeswirtschaftsministerium vorgenommenen Konkretisierungen beachtet werden.
Kontribution
Der Beitrag wurde gemeinsam mit Frau Rechtsanwältin Elina Kohl verfasst.
Die Autorin Elina Kohl ist Rechtsanwältin bei LLR - Legerlotz Laschet Rechtsanwälte PartG mbB in Köln. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt in der Beratung und Vertretung von öffentlichen Auftraggebern und Bietern in allen Fragen des Vergaberechts.
Bastian Gierling ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht bei LLR - Legerlotz Laschet Rechtsanwälte PartG mbB in Köln. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen in der Beratung und Vertretung von öffentlichen Auftraggebern in allen Fragen des Vergaberechts sowie von Unternehmen und Gebietskörperschaften im Öffentlichen Bau- und Planungsrecht. Dabei erstreckt sich sein Tätigkeitsfeld auch auf die baubegleitende Rechtsberatung bei großen Bau- und Infrastrukturprojekten der öffentlichen Hand.
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