Die Auftraggebereigenschaft ist eine grundlegende Voraussetzung, europäisches Vergaberecht anwenden zu müssen. Sie wirft deshalb häufig Fragen auf. Dies gilt vor allem für öffentliche Einrichtungen nach § 99 Nr. 2 GWB und ihre unbestimmten Tatbestandsmerkmale. Steht eine Organisation aus einem eher weniger mit dem Öffentlichen Auftragswesen verbundenen Sektor im Mittelpunkt europäischer Rechtsprechung, wie der italienische Fußballverband, so stellt sich auch für deutsche Sportverbände, wie dem Deutscher Fußball-Bund e.V. (DFB) oder Deutscher Olympischer Sportbund e.V. (DOSB), die generelle Frage nach der EU-Vergabepflicht.
§ 99 Nr. 2 Buchst. b) GWB; Art. 2 Abs. 1 Nr. 4 RL 2014/24/EU
Leitsatz
Die Verbandsleitung eines nach dem nationalen Recht leitungsautonomen Sportverbandes untersteht nur dann einer Aufsicht (i.S.d. § 99 Nr. 2 Buchst. b GWB), wenn sich aus einer Gesamtwürdigung der Befugnisse einer öffentlichen Stelle ergibt, dass eine aktive Aufsicht über die Verbandsleitung vorliegt, welche die Autonomie faktisch so sehr in Frage stellt, dass es der öffentlichen Stelle ermöglicht wird, die Entscheidungen des Sportverbandes im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge zu beeinflussen.
Sachverhalt
Der italienische Fußballverband hat einen Dienstleistungsauftrag im Wert von 1 Mio. Euro für die Begleitung der nationalen Fußballmannschaften vergeben. Ein nicht bezuschlagter Dienstleister monierte die ohne Beachtung des Vergaberechts erfolgte Auftragsvergabe in erster Instanz erfolgreich. Denn das Nachprüfungsgericht ordnete den italienischen Fußballverband als vergaberechtspflichtigen öffentlichen Auftraggeber ein. Das in zweiter Instanz angerufene Gericht ersuchte jedoch den EuGH um Vorabentscheidung. Es wollte wissen, ob der italienische Fußballverband eine öffentliche Einrichtung im Sinne des EU-Vergaberechts ist, also insbesondere im Allgemeininteresse liegende Tätigkeiten nicht gewerblicher Art ausübt, und vom italienischen Nationalen Olympischen Komitee (NOK) kontrolliert wird.
Die Entscheidung
Der EuGH stellt klar, dass ein öffentlicher Auftraggeber i.S.d. § 99 Nr. 2 GWB nur eine Stelle sein kann, die entweder ab ihrer Gründung oder danach die Erfüllung im Allgemeininteresse liegender Aufgaben erfüllt (Rdnr. 36). So wird der Sport in Italien von den nationalen Sportverbänden im Rahmen der ihnen durch Gesetz ausdrücklich zugewiesenen und in der Satzung des italienischen NOK abschließend aufgeführten öffentlichen Aufgaben ausgeübt (Rdnr. 38). Dabei nimmt der EuGH an, dass die satzungsmäßigen Aufgaben des italienischen NOK, wie die Kontrolle des ordnungsgemäßen Ablaufes von Wettkämpfen und Meisterschaften, die Dopingprävention und bekämpfung oder die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele, Aufgaben nicht gewerblicher Art sein können (Rdnr. 39). Wenn daher ein nationaler Sportverband, wie der italienische Fußballverband, solche Aufgaben tatsächlich wahrnimmt, dann wurde er auch zu dem besonderen Zweck gegründet, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art zu erfüllen. Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der italienische Fußballverband als privatrechtlicher Verein geführt wird (Rdnrn. 40 f.) und er größtenteils gewerbliche sowie eigenfinanzierte Tätigkeiten verfolgt (Rdnrn. 42 ff.).
Weiter erinnern die Luxemburger Richter daran, dass eine aktive Aufsicht über die Leitung der betreffenden Einrichtung nach § 99 Nr. 2 Buchst. b) GWB vorliegt, wenn mit ihr Entscheidungen bei der Auftragsvergabe beeinflusst werden können (Rdnr. 50). Dementsprechend genügt keine bloß nachträgliche Kontrolle solcher Entscheidungen (Rdnr. 51). Ob daher eine aktive Aufsicht im vorgenannten Sinne besteht, muss im Wege einer Gesamtwürdigung der Befugnisse festgestellt werden, die einer Stelle (hier: das italienische NOK) gegenüber der betreffenden Einrichtung (hier: italienischer Fußballverband) eingeräumt wurden. Hierbei wird es in der Regel ein Bündel von Indizien sein, aus dem sich die aktive Aufsicht und die Möglichkeit der Einflussnahme im Bereich der Auftragsvergabe ergibt (Rdnr. 73).
Für den EuGH scheint deshalb das italienische NOK als Dachorganisation im Wesentlichen eine Regelungs- und Koordinierungsfunktion auszuüben, die hauptsächlich für die nationalen Sportverbände gemeinsame sportliche, ethische und strukturelle Vorschriften aufstellen soll, insbesondere im Zusammenhang mit sportlichen Wettkämpfen und der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele (Rdnr. 53). Dagegen regelt es nicht die Organisation und die alltägliche Ausübung der verschiedenen Sportdisziplinen, weshalb das italienische NOK die Leitung der nationalen Sportverbände dem ersten Anschein nach nicht kontrolliert, weil die betreuten Sportdisziplinen weitgehend autonom sind (Rdnrn. 55 f.). Die den nationalen Sportverbänden, wie dem italienischen Fußballverband, in Italien gewährte Leitungsautonomie scheint somit a priori gegen eine aktive Aufsicht des italienischen NOK gemäß § 99 Nr. 2 Buchst. b) GWB zu sprechen (Rdnr. 57).
Allerdings kann die vorstehende Vermutung widerlegt werden, wenn die verschiedenen Befugnisse des italienischen NOK gegenüber dem italienischen Fußballverband faktisch bewirken, dass damit die Entscheidungen des italienischen Fußballverbandes im Bereich der Vergabe von Aufträgen beeinflusst werden können (Rdnr. 58). Hierzu weist der EuGH das vorlegende Gericht auf insgesamt sechs Befugnisse des italienischen NOK hin, die in ihrer Gesamtheit eine solche Einflussmöglichkeit erkennen lassen können und deshalb vom Vorlagegericht näher zu prüfen sind (Rdnr. 59).
Erstens: die Befugnis zur Anerkennung der italienischen Sportverbände zu sportlichen Zwecken (Rdnrn. 60 ff.). Zweitens: die Befugnis gegenüber den italienischen Sportverbänden Leitlinien, Entscheidungen, Richtlinien und Anweisungen zur sportlichen Ausübung zu erlassen (Rdnr. 64). Drittens: die Befugnis zur Genehmigung der Satzungen der italienischen Sportverbände für sportliche Zwecke (Rdnr. 65). Viertens: die Befugnis zur Genehmigung der Jahresabschlüsse und Haushalte der Sportverbände in Italien (Rdnrn. 66 ff.). Fünftens: die Befugnis zur Ernennung von Rechnungsprüfern in den italienischen Sportverbänden (Rdnr. 70). Sechstens: die Befugnis zur Kontrolle der ordnungsgemäßen Arbeitsweise und Ausübung der den italienischen Sportverbänden anvertrauten Tätigkeiten (Rdnrn. 71 f.).
Wenn dementsprechend eine Aufsicht über die Leitung gemäß § 99 Nr. 2 Buchst. b) GWB festgestellt werden kann, ist der Umstand, dass die Sportverbände im italienischen NOK mehrheitlich an dessen wichtigsten beratenden Kollegialorgangen beteiligt sind, nur dann maßgeblich, wenn jeder dieser italienischen Sportverbände für sich genommen in der Lage ist, einen so erheblichen Einfluss auf die vom italienischen NOK über seine Leitung geführte Aufsicht auszuüben, dass diese Aufsicht neutralisiert und er damit die Entscheidungshoheit über seine Leitung wiedererlangen würde, und zwar ungeachtet des Einflusses der anderen italienischen Sportverbände (Rdnr. 74).
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung des EuGH beleuchtet zwei Aspekte der öffentlichen Auftraggebereigenschaft nach § 99 Nr. 2 GWB näher. Zum einen wird für den Sportsektor das Tatbestandsmerkmal der Erfüllung von im Allgemeininteresse liegender Aufgaben nichtgewerblicher Art näher untersucht. Zum anderen werden die tatbestandlichen Anforderungen an die Aufsicht über die Leitung eines nationalen Sportverbandes i.S.d. § 99 Nr. 2 Buchst. b) GWB diskutiert.
Zum ersten Aspekt bestätigen die Luxemburger Richter ihre bisherige Rechtsprechung (EuGH, Urt. v. 10.11.1998 – C-360/96 BFI Holding, Rdnr. 62), wonach es für die öffentliche Auftraggebereigenschaft nach § 99 Nr. 2 GWB nicht auf die Rechtsform der betreffenden Einrichtung ankommt, sondern funktionale Auslegungserwägungen nötig sind. Ebenso genügt es, dass die in Frage kommende Einrichtung überhaupt im Allgemeininteresse liegende Tätigkeiten ausübt (EuGH, Urt. v. 10.11.1998 C-360/96 BFI Holding, Rdnr. 55). Insoweit sind daneben verfolgte andere, z.B. gewerbliche Tätigkeiten mit einem erheblichen Eigenfinanzierungspotential, wie dies vor allem im Profisport der Fall sein kann, für die öffentliche Auftraggebereigenschaft i.S.d. § 99 Nr. 2 GWB unschädlich. Der Sport in Italien selbst wird vom EuGH als im Allgemeininteresse liegende Aufgabe qualifiziert, was die gesetzliche Aufgabenzuweisung an die italienischen Sportverbände unterstreicht. In Deutschland findet der Sport z.B. in nahezu allen Verfassungen der Bundesländer Erwähnung (Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, Ausarbeitung Sport als Staatsziel im Grundgesetz v. 06.09.2018 WD 10-3000-069/18, S. 19). Auch der DOSB versteht den Sport als öffentliche Aufgabe (DOSB, Staatsziel Sport Positionspapier v. 09.12.2006, S. 5). Dem Sport kommt somit in Deutschland, neben seiner unbestrittenen gesellschaftlichen, ebenso eine im öffentlichen Interesse liegende Dimension zu.
Hinsichtlich des zweiten Themas führt der EuGH seine Spruchpraxis ebenfalls fort. Danach muss die Leitungsaufsicht i.S.d. § 99 Nr. 2 Buchst. b) GWB so aktiv ausgestaltet sein, dass Entscheidungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe beeinflusst werden können (EuGH, Urt. v. 27.02.2003 C-373/00 Adolf Truley, Rdnrn. 68 f., 73). Bei bloß nachträglichen Kontroll-/Aufsichtsmöglichkeiten scheidet eine solche Einflussnahme per se aus (EuGH, Urt. v. 12.09.2013 C-526/11 IVD, Rdnr. 29). Maßgeblich ist stets eine Gesamtwürdigung sämtlicher einer Stelle eingeräumten Befugnisse gegenüber der fraglichen Einrichtung (EuGH, Urt. v. 01.02.2001 C-237/99 KOM/Frankreich, Rdnr. 59). Für den Bereich des Sports, der in Deutschland weitgehend autonom strukturiert ist, kommt es daher entscheidend darauf an, (a.) ob überhaupt, (b.) in welchem Umfang und (c.) für wen Befugnisse gegenüber den deutschen Sportverbänden bestehen, welche die (öffentliche) Auftragsvergabe des betreffenden Sportverbandes beeinflussen können.
Praxistipp
Die öffentliche Auftraggebereigenschaft nach § 99 Nr. 2 GWB verlangt eine funktionale und einzelfallbezogene Gesamtwürdigung aller Umstände, insbesondere des Buchst. b). Auch für den Sport in Deutschland und die dortigen Akteure, wie z.B. den DFB, DOSB oder die einzelnen Bundessportfachverbände, kann daher das EU-Vergaberecht nicht nur in ihrer möglichen Rolle als Zuwendungsempfänger (i.S.d. § 99 Nr. 4 GWB) von Relevanz sein. Eine pauschale Einordnung der im Sportsektor tätigen Akteure verbietet sich aber ebenso wie eine unreflektierte Übertragung der italienischen Rahmenbedingungen im Sport auf die entsprechenden Strukturen in Deutschland. So ist z.B. die öffentliche Auftraggebereigenschaft des italienischen NOK als mögliche aufsichtführende Stelle (i.S.d. § 99 Nr. 2 Buchst. b) GWB) gegenüber dem italienischen Fußballverband unstreitig gegeben gewesen. Was für das italienische NOK gilt, muss aber nicht zwangsläufig für den DOSB oder andere Sportorganisationen/-verbände in Deutschland gelten. Zu beachten ist außerdem, dass der EuGH das alternative Tatbestandsmerkmal der überwiegenden öffentlichen Finanzierung nach § 99 Nr. 2 Buchst. a) GWB nicht weiter prüfen musste. Selbst wenn also eine Einzelfallprüfung ergeben würde, dass z.B. keine Aufsicht über die Leitung eines deutschen Sportverbandes i.S.d. § 99 Nr. 2 Buchst. b) GWB besteht, so kann möglicherweise eine überwiegende staatliche Finanzierung gemäß § 99 Nr. 2 Buchst. a) GWB vorliegen.
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.
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