Kaum ein Auftraggeber möchte wohl einen Bieter noch zu Selbstreinigungsmaßnahmen befragen, der als ehemaliger Vertragspartner wegen schwerer Verfehlungen gerade erst strafrechtlich belangt wurde, wenn der Betreffende nicht schon von sich aus Compliance-Maßnahmen darlegt. Der EuGH entschied nun aber, dass Auftraggeber das grundsätzlich müssen.
Richtlinie 2014/24/EU Art. 57 Abs. 4, 6, 7
Tenor
- Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG in der durch die Delegierte Verordnung (EU) 2015/2170 der Kommission vom 24.11.2015 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer Praxis entgegensteht, nach der ein Wirtschaftsteilnehmer verpflichtet ist, bei der Einreichung seines Teilnahmeantrags oder Angebots unaufgefordert den Nachweis für ergriffene Abhilfemaßnahmen zu erbringen, um seine Zuverlässigkeit trotz des Umstands darzulegen, dass bei ihm ein in Art. 57 Abs. 4 dieser Richtlinie in der durch die Delegierte Verordnung 2015/2170 geänderten Fassung genannter fakultativer Ausschlussgrund vorliegt, sofern sich eine solche Verpflichtung weder aus den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften noch aus den Auftragsunterlagen ergibt. Dagegen steht Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie in der durch die Delegierte Verordnung 2015/2170 geänderten Fassung einer solchen Verpflichtung dann nicht entgegen, wenn sie in den nationalen Rechtsvorschriften klar, genau und eindeutig vorgesehen ist und dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer über die Auftragsunterlagen zur Kenntnis gebracht wird.
- Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 in der durch die Delegierte Verordnung 2015/2170 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkung entfaltet.
Sachverhalt
Bei einer europaweiten Vergabe von Straßenbauleistungen schloss ein belgischer Auftraggeber einen Bieter wegen „schwerer beruflicher Verfehlungen“ aus, die das Unternehmen bei früheren Verfahren desselben öffentlichen Auftraggebers begangen hatte und die größtenteils mit Strafmaßnahmen geahndet worden waren. Der Bieter griff diesen Ausschluss an und berief sich dabei unmittelbar auf Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24/EU. Der Auftraggeber habe ihm demnach vor einem Ausschluss zumindest Gelegenheit geben müssen, nachzuweisen, dass er durch geeignete Compliance-Maßnahmen inzwischen eine ordnungsgemäße Auftragsausführung gewährleisten könne. Der Auftraggeber hingegen berief sich auf eine belgische Gesetzesbestimmung, derzufolge Bieter etwaige Abhilfemaßnahmen unaufgefordert und aus eigenem Antrieb nachzuweisen hätten.
Die Entscheidung
Der Bieter bekam im Grundsatz Recht!
Ohne entgegenstehende Regelung: Anspruch auf Aufklärung!
Der EuGH stellte klar, dass Artikel 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24/EU im nationalen Recht unmittelbar anwendbar ist und Bietern einen Anspruch gibt, vor einem Ausschluss geeignete Compliance-Maßnahmen nachweisen zu dürfen. Zwar obliege die konkrete Ausgestaltung den Mitgliedstaaten. Sie könnten daher insbesondere auch – wie in dem belgischen Gesetz offenbar geschehen – regeln, dass Bieter diesen Nachweis aus eigenem Antrieb erbringen müssen. Aus dem Transparenz- und Gleichbehandlungsgrundsatz folge aber, dass die Vergabeunterlagen die Bieter dann im Vorfeld transparent über eine solche Verpflichtung informieren oder auf die einschlägige nationale Rechtsvorschrift verweisen müssen. Daran fehlte es im entschiedenen Fall.
Letztlich kam es darauf aber nicht einmal an, denn die betreffende belgische Bestimmung war erst deutlich nach der Ausschlussentscheidung in Kraft getreten und damit im entschiedenen Fall noch gar nicht anwendbar. Unter diesen Umständen durfte der Bieter auf der bloßen Grundlage des Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24/EU davon ausgehen, dass der Auftraggeber ihn später zu geeigneten Abhilfemaßnahmen anhören würde.
Prämisse: Art. 57 Abs. 6 RL 2014/24/EU anwendbar
Zumindest galt dieses Ergebnis unter der Prämisse, dass auch Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24/EU im konkreten Fall überhaupt anwendbar war. Zweifel gab es daran, weil der Auftraggeber noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie 2014/24/EU in belgisches Recht eine europaweite Vorinformation für das Vergabeverfahren veröffentlicht hatte. Nach den Maßstäben des EuGH könnte darin eventuell schon der Beginn dieses Vergabeverfahrens zu sehen sein, mit der Folge, dass dann noch die früher geltende Richtlinie 2004/18/EG anwendbar gewesen wäre, die keine vergleichbare Bestimmung enthielt. Entscheidend war dafür, ob der Auftraggeber zum Zeitpunkt der Vorinformation bereits die Art des Verfahrens ausgewählt und endgültig über seine Verpflichtung zur Durchführung eines Vergabeverfahrens entschieden hatte – das zu beurteilen, war aber letztlich Sache des vorlegenden Gerichts.
Rechtliche Bewertung
Ebenso wie Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24/EU regelt auch der deutsche § 125 GWB nicht explizit, ob ein Unternehmen Maßnahmen der Selbstreinigung eigeninitiativ nachweisen muss oder ob dies erst auf eine Aufforderung des Auftraggebers hin erforderlich ist. Grundsätzlich haben nach dieser EuGH-Entscheidung also auch hierzulande Bieter einen Anspruch darauf, vor einem Ausschluss gemäß § 123 oder § 124 GWB ausdrücklich aufgefordert zu werden, etwaige Selbstreinigungsmaßnahmen darzulegen.
Grenzen der Aufklärungspflicht
Etwas anderes dürfte aber gelten, wenn die Vergabeunterlagen im Kontext der Abfrage von Ausschlussgründen die Bieter explizit auffordern, ggfs. auch hinreichende Selbstreinigungsmaßnahmen im Sinne des §125 GWB bereits mit dem Angebot darzulegen.
Auch dürfte eine solche Aufklärung zumindest dann nicht mehr erforderlich sein, wenn der Auftraggeber bereits sicher ausschließen kann, dass hinreichende Selbstreinigungsmaßnahmen vorliegen – etwa, weil der betroffene Bieter die Chance zur Kooperation bei der Aufklärung endgültig vertan hat. Andererseits ist eine Selbstreinigung nicht bereits dadurch ausgeschlossen, dass der Bieter den Schaden noch nicht beglichen hat. Insoweit reicht es aus, wenn der Bieter den Anspruch dem Grunde und der Höhe zumindest verbindlich anerkannt hat (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Vergaberechts (Vergaberechtsmodernisierungsgesetz – VergRModG), BT-Drs. 18/6281, 108).
Für Auftraggeber eine gute Nachricht: auf entsprechende Rüge hin ist eine Aufklärung nach hiesiger Rechtsprechung auch noch nachholbar (vgl. VK Bund, Beschluss vom 12.10.2020 – VK 2-77/20).
Praxisrelevanz?
Nun mag man sich fragen, weshalb Bieter überhaupt versucht sein könnten, Selbstreinigungsmaßnahmen nicht von sich aus darzulegen, schließlich sprechen diese doch zu ihren Gunsten? Denkbar wäre das insbesondere, wenn Bieter bereits bestreiten, eine relevante Verfehlung begangen zu haben, diese darum nicht angeben und sich die Berufung auf Selbstreinigungsmaßnahmen allenfalls als „Notlösung“ offen halten möchten. Eine solche Strategie ist allerdings gefährlich, wenn der Auftraggeber diesbezüglich Angaben gefordert hat, denn das Verschweigen eines potentiellen Ausschlussgrundes kann gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 8 GWB ebenfalls zum Angebotsausschluss berechtigen.
Zwar wird sich durch das Wettbewerbsregister einiges ändern. Verfehlungen im Sinne des § 2 WRegG werden dann direkt an die Registerbehörde gemeldet. Diese Behörde entscheidet dann über die Eintragung, ebenso wie über eine etwaige vorzeitige Löschung nach erfolgreicher Selbstreinigung gemäß § 8 WRegG. Zumindest, soweit das Unternehmen (noch) keinen Antrag auf vorzeitige Löschung gestellt hat, wird die Prüfung hinreichender Selbstreinigungsmaßnahmen aber weiterhin bei dem jeweiligen öffentlichen Auftraggeber liegen.
Praxishinweis
Grundsätzlich sollten Auftraggeber Bietern vor einem Ausschluss gemäß §§ 123, 124 GWB hinreichend Gelegenheit zum Nachweis ausreichender Selbstreinigungsmaßnahmen geben. Auf eine gesonderte Aufforderung sollten sich Bieter dennoch nicht verlassen, je nach Gestaltung der Vergabeunterlagen kann diese nämlich entbehrlich sein. Darüber hinaus sollten sie im Falle einer Aufklärung umfassend die getroffenen Maßnahmen darlegen, denn sie tragen hinsichtlich der Selbstreinigung die Darlegungs- und Beweislast.
Dr. Valeska Pfarr, MLE
Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.
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