Ein langjähriger Dauerbrenner in der öffentlichen Beschaffungsdiskussion ist das Verhältnis vom ausschreibungspflichtigen Bauauftrag einerseits und vergabefreien Mietvertrag andererseits. Dabei geraten häufig die mieterseitigen Wünsche und Anforderungen in einen vergaberechtlichen Abgrenzungskonflikt zu den Wesensmerkmalen eines öffentlichen Bauauftrages. Insbesondere dann, wenn das Mietobjekt noch nicht gebaut wurde, stellt sich die Frage, in welchem Umfang der künftige Mieter Einfluss auf die Gestaltung des noch zu errichtenden Gebäudes nehmen darf, ohne dass die rote Linie des Vergaberechts überschritten wird.
§§ 103 Abs. 3 Satz 2, 107 Abs. 1 Nr. 2 GWB; Art. 2 Abs. 1 Nr. 6, 10 Buchst. a) RL 2014/24/EU.
Leitsatz
Öffentliche Auftraggeber gestalten ein geplantes Gebäude im Sinne eines Bauauftrages entscheidend mit, wenn die architektonische Gebäudestruktur beeinflusst wird, wie Größe, Außenwände und tragende Wände. Anforderungen dagegen, welche die bloße Gebäudeeinteilung betreffen, müssen sich aufgrund ihrer Eigenart oder ihres Umfanges abheben, um einen entscheidenden Einfluss zu belegen.
Sachverhalt
Die größte kommunale Hausverwaltung Europas (Wiener Wohnen) hat im Mai 2012 einen mindestens 25 Jahre laufenden Mietvertrag über einen Bürokomplex für wenigstens 750 Mitarbeiter abgeschlossen. Ein wettbewerbliches Vergabeverfahren erfolgte nicht. In dem Mietvertrag verpflichtete sich die private Vermieterin und Grundstückseigentümerin den Bürokomplex zu errichten. Mietgegenstand waren jeweils das Erdgeschoss bis zum fünften Obergeschoss zweier Bauteile. Zwischen beiden Bauteilen waren ferner Verbindungsbrücken optional vorgesehen. Außerdem bestand für Wiener Wohnen die Möglichkeit für einen Bauteil auch die Obergeschosse sechs bis acht anzumieten. In einer Bebauungsstudie aus dem Januar 2012 waren diese baulichen Grundzüge bereits festgelegt.
Im Jahr 2015 ging wegen des Mietvertrages bei der Europäischen Kommission eine Beschwerde ein. Sie reichte deshalb 2019 beim EuGH eine Vertragsverletzungsklage gegen Österreich ein. Die EU-Kommission war der Ansicht, dass der Abschluss des langfristigen Mietvertrages vor Errichtung der Immobilie die Vergabe eines öffentlichen Bauauftrages darstellen würde. Denn Wiener Wohnen habe die Planungen des Bürokomplex so stark beeinflusst, dass von üblichen Vorgaben eines Mieters keine Rede mehr sein könne.
Die EU-Kommission behauptete insbesondere, dass Wiener Wohnen die Gebäudegestaltung hinsichtlich der Verbindungsbrücken zwischen den Bauteilen und der Obergeschosse 6 bis 8 beeinflusst habe. Außerdem berief sich die Brüsseler Behörde auf das Fehlen einer Baugenehmigung, die lange Laufzeit des Mietvertrages, die von Wiener Wohnen beauftragte baubegleitende Kontrolle der Ausführung der Arbeiten und die zu ausgeprägte Eigenart des Bauwerks.
Österreich entgegnete, dass für Wiener Wohnen nur die Anmietung eines bestehenden oder fix und fertig geplanten Bürokomplexes in Betracht gekommen sei. Eine von Wiener Wohnen beauftragte Standortanalyse von Februar 2012 habe ergeben, dass der Bürokomplex bereits fertig entwickelt gewesen und daher auch kein Einfluss auf die architektonische Gestaltung oder konkrete Projektplanung der beiden Bauteile genommen worden sei. Ebenso seien die Verbindungsbrücken von Beginn an Teil des Bürokomplexes und kein Bestandteil der Mietflächen gewesen. Ebenso hätten die Obergeschosse sechs bis acht in jedem Fall hergestellt werden müssen. In der Bau- und Ausstattungsbeschreibung seien überdies nur Anforderungen festgelegt worden, denen jede zeitgemäße Büroimmobilie zu entsprechen habe. Auch die Beauftragung eines externen Baukontrolleurs durch einen Mieter sei üblich. Ferner werde der Bürokomplex nicht nur durch Wiener Wohnen genutzt, sondern auch durch andere Mieter. Schließlich sei auch die langfristige Mietdauer nötig gewesen, um große Flächen zu günstigen Preisen anmieten zu können.
Die Entscheidung
Der EuGH erinnert zunächst daran, dass die bloße Bezeichnung als Mietvertrag unerheblich ist für die Frage, ob ein nicht ausschreibungspflichtiges Immobiliengeschäft oder ein vergabegebundener Bauauftrag vorliegt (Rdnr. 43). Letzterer liegt nämlich auch vor, wenn eine Vertragspartei über einen Rechtstitel verfügen soll, die ihr die Verfügbarkeit der betreffenden Bauwerke hinsichtlich ihrer öffentlichen Zweckbestimmung sicherstellt (Rdnr. 44).
Haben im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses – wie hier – die Bauarbeiten noch nicht begonnen, kann ein Vertrag zwar nicht unmittelbar die Immobilienvermietung zum Ziel haben: Vertragsziel war vielmehr die Errichtung des Bürokomplexes, der anschließend Wiener Wohnen im Wege eines Mietvertrages zur Verfügung gestellt wurde (Rdnr. 47). Allerdings erstreckt der EuGH die Vergabeausnahme der Anmietung von vorhandenen Gebäuden auch auf noch nicht errichtete Bauwerke (Rdnr. 48).
Diese Ausnahme greift aber nicht, wenn die Errichtung des Bauwerkes den vom öffentlichen Auftraggeber genannten Erfordernissen entspricht. Das ist der Fall, wenn er die Merkmale der Bauleistung festgelegt oder zumindest einen entscheidenden Einfluss auf deren Planung genommen hat (Rdnr. 49 f.). So verhält es sich insbesondere, wenn die vom öffentlichen Auftraggeber verlangten Spezifikationen über die üblichen Vorgaben eines Mieters für eine Immobilie hinausgehen. Ferner sind zwar auch die Höhe des Mietzinses oder die Art und Weise ihrer Zahlung nicht gänzlich unbeachtlich (Rdnr. 51 f.). Jedoch sind diese hier ohne Bedeutung, weil die beweisbelastete EU-Kommission keine Angaben zu den Baukosten des Bürokomplexes oder Informationen zum Verhältnis zwischen diesen Baukosten und dem damaligen Barwert des Gesamtbetrages der Mietzinsen für einen angenommenen Zeitraum von 20 Jahren getroffen hat (Rdnr. 96).
Deshalb war zu prüfen, ob Wiener Wohnen wenigstens einen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung des Bürokomplexes genommen hat. Dieser Einfluss muss die architektonische Struktur des Gebäudes betreffen, wie seine Größe, seine Außenwände und seine tragenden Wände. Anforderungen dagegen, die lediglich die Gebäudeeinteilung berühren, müssen sich aufgrund ihrer Eigenart oder ihres Umfanges abheben, um einen entscheidenden Einfluss anzunehmen (Rdnr. 53).
Nach Ansicht der Luxemburger Richter hat die EU-Kommission vorliegend zum einen nicht nachgewiesen, dass Wiener Wohnen auf die Pläne der privaten Vermieterin und Grundstückseigentümerin Einfluss genommen hat. Denn im Zeitpunkt ihrer eigenen Standortanalyse im Februar 2012 waren die baulichen Grundzüge des Bürokomplexes bereits in der Bebauungsstudie aus dem Januar 2012 festgelegt. Darin waren auch die Obergeschosse sechs bis acht des einen Bauteils und die Verbindungsbrücken zwischen beiden Bauteilen aufgeführt. Eine Einflussnahme auf die eigentliche Gestaltung der architektonischen Struktur durch Wiener Wohnen kann deshalb nicht abgeleitet werden (Rdnr. 57 ff.).
Zum anderen sind die weiteren von der Europäischen Kommission angeführten tatsächlichen Gesichtspunkte (Baugenehmigung, Laufzeit, Kontrolle und Eigenart) hier ungeeignet, den in Rede stehenden Mietvertrag in einen Bauauftrag umzudeuten (Rdnr. 72).
So ist eine fehlende Baugenehmigung bei Abschluss eines Mietvertrages bei Großbauvorhaben gängige Geschäftspraxis. Das Baugenehmigungsverfahren wird üblicherweise erst dann eingeleitet, wenn ausreichende Mietzusagen vorliegen. Entsprechend dieser Marktpraxis setzt die Bindung potenzieller Mieter kein vollständiges Bauvorhaben voraus. Dementsprechend kann aus dem Fehlen einer Baugenehmigung nicht gefolgert werden, dass auf die Gestaltung des betreffenden Gebäudes entscheidend Einfluss genommen wurde (Rdnr. 74 f.).
Weiter ist der Abschluss eines langfristigen Mietvertrages unabhängig von den im Einzelfall gegebenen Umständen an sich nicht unüblich. Die Vertragslaufzeit alleine belegt also keinen öffentlichen Bauauftrag (Rdnr. 76 f.).
Keineswegs ungewöhnlich sind zudem baubegleitende Kontrollen durch einen Mieter, der den Einzug in die Räumlichkeiten zum vorgesehenen Zeitpunkt sicherstellen will. Durch eine solche begleitende Kontrolle hat Wiener Wohnen keinen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung des Bürokomplexes ausgeübt (Rdnr. 78 f.).
Schließlich führen die von Wiener Wohnen gestellten Anforderungen an die Eigenart des Bürokomplexes nicht über das hinaus, was ein Mieter üblicherweise verlangen kann. Das Bauwerk wurde als klassisches Bürogebäude konzipiert, ohne dass auf bestimmte Mieterkategorien oder auf besondere Erfordernisse abgestellt würde. Die beiden Bauteile folgen nach Ansicht des EuGH einem für Büroimmobilien üblichen Rastersystem, das eine für künftige Mieter passende, möglichst flexible Innenaufteilung gewährleistet. Insoweit ist es auch gewöhnlich, dass ein Mieter bestimmte Wünsche zu den Büroflächen äußert, ganz gleich, ob es sich um ein noch zu errichtendes oder vorhandenes Gebäude handelt (Rdnr. 80 f.).
So war die Anforderung von Wiener Wohnen, dass bei den Mietflächen die Spezifikationen kraft Gesetzes geltender technischer Normen eingehalten werden oder die Merkmale des Bürogebäudes dem marktüblichen Stand der Technik entsprechen, weder eine Einflussnahme auf die Gestaltung noch mieterunüblich. Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der Anforderungen an die Verbesserung der Energieeffizienz. Der mieterseitige Wunsch, über ein Gebäude zu verfügen, dessen Eigenschaften sich nicht auf die Einhaltung der bei Vertragsabschluss geltenden Standards beschränken, sondern auch eine gewisse mittel- und langfristige Nachhaltigkeit aufweist, kann nicht als übermäßige Anforderung eines langfristigen Mieters wie Wiener Wohnen angesehen werden (Rdnr. 83 ff.).
Auch wenn die Zahl der mieterseitigen Anforderungen und ihr Detaillierungsgrad hier hoch waren, wie etwa die Verbindung aller Mietgeschosse durch sämtliche Aufzüge, die Hohlraumböden zur Gewährleistung der Modularität der Innenausstattung, die durchschnittliche Bruttohöhe, die Tragfähigkeit des Bodens, die bauteilaktivierten Decken für die Kühlung, das Green-Building-Zertifikat ÖGNI-GOLD und der Umfang der Elektroverteilung, so hat die EU-Kommission nicht nachgewiesen, dass mit den von Wiener Wohnen als künftige Mieterin gestellten Anforderungen die Nutzung des Bürokomplexes als Bürogebäude durch nachfolgende Mieter in Frage gestellt wurde (Rdnr. 86 ff.).
Demnach hat der EuGH im Ergebnis festgestellt, dass die aus diesen Anforderungen resultierenden Anpassungen nicht über das hinausgehen, was ein Mieter üblicherweise verlangen kann. Ein öffentlicher Bauauftrag liegt somit nicht vor (Rdnr. 95 ff.).
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung des EuGH erging zwar noch zur alten Vergabe-RL 2004/18/EG. Sie bietet aber sowohl für die heute anwendbare Vergabeausnahme von Immobiliengeschäften gemäß § 107 Abs. 1 Nr. 2 GWB als auch für die tatbestandliche Auslegung des öffentlichen Bauauftrages nach § 103 Abs. 3 Satz 2 GWB wertvolle Anhaltspunkte.
Im Hinblick auf das Begriffsverständnis der Anmietung eines vorhandenen Gebäudes bestätigen die Luxemburger Richter ihre bisherige Rechtsprechung, wonach die Vergabeausnahme auch auf noch nicht errichtete Gebäude erstreckt werden kann (Urt. v. 10.07.2014 C-213/13 Impresa Pizzarotti, Rdnr. 42). Die Auslegung des EuGH ist allerdings problematisch, weil sie dem klaren Wortlaut zuwiderläuft. Die auch von der Generalanwaltschaft insoweit angemeldeten Zweifel, ob sich die Ausnahme tatsächlich auf die Miete von nicht vorhandenen Gebäuden erstrecken kann, wurden ohne weitere Begründung zurückgewiesen. Die genauen Beweggründe der Luxemburger Richter bleiben daher weiter im Dunklen.
Für die Frage des Vorliegens eines öffentlichen Bauauftrages in der Variante eines Drittbaus zeigt der EuGH erstmals auf, wann ein entscheidender Einfluss des Auftraggebers auf die Gestaltung eines Gebäudes vorliegt, nämlich dann, wenn die architektonische Struktur (Größe, Außenwände und tragende Wände) beeinflusst werden. Soweit der öffentliche Auftraggeber lediglich Wünsche zur Gebäudeeinteilung trifft, müssen sie nach ihrer Eigenart und ihrem Umfang von erheblichem Gewicht sein, um einen öffentlichen Bauauftrag annehmen zu können. Dies dürfte wohl der Fall sein, wenn die Anforderungen die eines wirklichen Bauherren entsprechen, der im Rahmen der Planung und Errichtung eines Gebäudes seine eigenen Lösungen durchsetzt.
Schließlich ist zu begrüßen, dass der EuGH klarstellt, dass alleine das Fehlen einer Baugenehmigung oder die lange Laufzeit eines Mietvertrages oder die mieterseitige Baukontrolle per se keinen öffentlichen Bauauftrag begründen können. Das Gleiche haben die Luxemburger Richter grundsätzlich auch für die zahlreichen und detaillierten Mieteranforderungen (bspw. zur Energieeffizienz) von Wiener Wohnen festgestellt.
Praxistipp
Die wirtschaftliche Bedeutung von Immobiliengeschäften ist immens. Deshalb wird mit weiteren Vertragsverletzungsklagen oder Vorabentscheidungsersuchen zu rechnen sein. Alle einschlägigen Urteile, wie etwa Auroux (Urt. v. 18.01.2007 C-220/05), Köln Messe (Urt. v. 29.10.2009 C-536/07), Helmut Müller (Urt. v. 25.03.2010 C-451/08), Impresa Pizzarotti (Urt. v. 10.07.2014 C-213/13) und vor allem Wiener Wohnen zeigen auf, welche Bedeutung den jeweiligen Einzelfallumständen bei der vergaberechtlichen Bewertung zukommt und welche juristischen Unwägbarkeiten bei der Abgrenzung von vergabefreien Immobilienbedarfsgeschäften und ausschreibungspflichtigen Bauaufträgen weiter bestehen. Dies wird hier nicht zuletzt durch die gegensätzliche Rechtseinschätzung der Generalanwaltschaft bestätigt. Sie hat anders als der EuGH einen öffentlichen Bauauftrag angenommen (Generalanwalt Campos Sànchez-Bordona, Schlussanträge v. 22.10.2020 C-537/19, Rdnr. 103). Öffentliche Auftraggeber sind daher auch in Zukunft gut beraten, vor allem Vergabeausnahmen kritisch und unvoreingenommen zu beurteilen.
Holger Schröder
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss „Fachanwalt für Vergaberecht“ der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.
Schreibe einen Kommentar