Ein Nachprüfungsantrag ist unzulässig, wenn der Bieter den behaupteten Verstoß nicht zunächst gegenüber dem Auftraggeber gerügt hat. Das OLG Karlsruhe entschied nun überraschend: Das gilt nicht, wenn die Geltendmachung seiner Rechte gefährdet ist. Dann darf der Bieter zunächst den Nachprüfungsantrag stellen, wenn die Rüge kurz darauf folgt.
Was war geschehen?
Ein öffentlicher Auftraggeber schrieb einen Auftrag über Leistungen zur Digitalisierung der Ausbildung von Fach- und Nachwuchskräften EU-weit aus. Nachdem er den unterlegenen Bietern die Vorabinformationsschreiben zustellte, reichte ein Bieter am letzten Tag vor Fristablauf einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer und erst eine halbe Stunde später eine Rüge beim Auftraggeber ein. Der Auftraggeber hält den Nachprüfungsantrag für unzulässig, da die Rüge nach Einreichen des Nachprüfungsantrags verfristet sei. Denn § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB fordere, dass der Bieter einen erkannten Verstoß „vor Einreichen des Nachprüfungsantrags“ rügt.
Die Entscheidung
Dem folgte der Vergabesenat des OLG Karlsruhe nicht! Er lehnt eine Verletzung der Rügeobliegenheit ab.
§ 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB verlangt zwar, dass erkannte Vergaberechtsverstöße vor Einreichung des Nachprüfungsantrags innerhalb von 10 Tagen ab Kenntnis gerügt werden. Eine Wartefrist zwischen Rüge und Nachprüfungsantrag ist der Vorschrift aber nicht zu entnehmen. Der Vergabesenat führt hierzu aus:
„Allein durch die Verwendung des Perfekts in Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB („gerügt hat“) wird eine verbindliche Wartefrist nicht gesetzlich normiert … Auch wenn die Vorschrift intendiert, dass der Vergabestelle die Möglichkeit gegeben wird, etwaige Vergaberechtsverstöße möglichst frühzeitig zu beseitigen, … lehnte es die h.M. schon unter Geltung der Vorgängervorschrift des § 107 Abs. 3 GWB … ab, … eine Wartefrist anzuerkennen.“
Mit der Rüge erhält der Auftraggeber zwar die Möglichkeit, aufgezeigten Verstößen abzuhelfen, bevor ein Bieter gerichtlich vorgeht. Dieser Zweck tritt aber dann zurück, so der Vergabesenat, wenn der Rechtsschutz eines Bieters gefährdet ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Bieter erst sehr spät von einem Vergaberechtsverstoß erfährt. Verlangt man in diesem Fall zwingend eine vorherige Rüge, folgt daraus zu Lasten des Bieters, dass er:
„entweder die … Rügefrist von 10 Tagen nicht ausschöpfen [kann] oder … Gefahr [läuft], dass der öffentliche Auftraggeber nach Ablauf der Wartefrist den Zuschlag erteilt und damit keine Überprüfung mehr erfolgt.“
Denn nicht die Rüge, sondern erst die Zustellung des Nachprüfungsantrags durch die Vergabekammer setzt das Vergabeverfahren aus.
Das Bestehen auf einer Abhilfemöglichkeit sei in diesem Fall reine Förmelei. Denn bei einer Rüge wenige Minuten vor Einreichen des Nachprüfungsantrags wäre eine sachgerechte Abhilfe ohnehin nicht mehr zu erwarten. Dann kann es unter Beachtung des Rechtsschutzes eines Bieters auf eine vorherige Rüge nicht ankommen.
Außerdem spricht § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB von vollen Kalendertagen und nicht von Stunden oder Minuten, so der Vergabesenat. Demnach genügt es, die Rüge mit dem Nachprüfungsantrag innerhalb von 10 Tagen zu erheben. Eine etwa 30 Minuten nach Einreichung des Nachprüfungsantrags beim Auftraggeber eingegangene Rüge macht den Nachprüfungsantrag dann nicht unzulässig. Schließlich, so der Vergabesenat weiter, kann der Auftraggeber einer Rüge auch noch im laufenden Nachprüfungsverfahren jederzeit abhelfen. Erledigt sich das Nachprüfungsverfahren hierdurch, können dem Bieter, wenn es billig erscheint, die Kosten des Verfahrens auferlegt werden.
Stärkung effektiven Rechtsschutzes – dem Gesetzgeber zum Trotz
Die Entscheidung fügt sich ein in eine Reihe von Entscheidungen, die die Anforderungen an die Rügeobliegenheit von Bietern großzügig handhaben. So entschied das OLG Düsseldorf schon vor einiger Zeit, dass eine Vorabinformationsfrist bereits nicht wirksam in Gang gesetzt wird, wenn – wie häufig über Ostern oder Weihnachten der Fall – praktisch nur 4 bis 5 Tage von der 10-Tages-Frist übrigbleiben (OLG Düsseldorf, 05.10.2016, VII-Verg 24/16). Bei einer faktischen Verkürzung der Vorinformationsfrist auf 3 Werktage soll die Rügeobliegenheit zudem vollständig entfallen (OLG Düsseldorf, 05.11.2014, VII-Verg 20/14).
Auch das OLG Karlsruhe sieht nun den effektiven Rechtsschutz von Bietern gefährdet, wenn sie – u.a. wenn sie sehr spät von Vergaberechtsverstößen erfahren – nicht die volle Rügefrist von 10 Kalendertagen ausschöpfen können. In diesem Fall gewichtet es die Rechtsschutzinteressen des Bieters höher als die Einräumung einer Abhilfemöglichkeit.
Im entschiedenen Fall kam es zwar nicht auf die Rügepräklusion an, da der Nachprüfungsantrag aus anderen Gründen erfolglos blieb. Bieter werden die Entscheidung gleichwohl begrüßen. Schließlich sehen sie sich regelmäßig unter erhebliche Zeitdruck, wenn die Vorabinformationsschreiben versandt wurden. Interne Überlegungen, Konsultationen mit einem Anwalt, die Abstimmung einer Rüge und eines Nachprüfungsantrags – all dies müssen sie in wenigen Tagen leisten, wenn sie eine Zuschlagserteilung verhindern und die Vergabeentscheidung zur Überprüfung stellen wollen.
Hinzu kommt, dass Vergabekammern Anträge häufig nur zustellen, wenn sie am Tag vor der möglichen Zuschlagserteilung bis zur Mittagszeit eingehen. Schon dies ist eine bedenkliche Verkürzung des Rechtsschutzes, die im Gesetz keine Stütze findet und den Bieter der individuellen Handhabung der jeweiligen Vergabekammer aussetzt. Regelmäßig geht Bietern so ein weiterer halber Werktag verloren.
Dabei wäre dieser Missstand einfach zu beheben, indem für Nachprüfungsanträge die gewöhnlichen gesetzlichen Fristen, also bis 24:00 Uhr des letzten Tages der Frist gelten würden und ein Zuschlagsverbot schon durch Einreichung des Antrags und nicht erst durch dessen Vorprüfung und Zustellung ausgelöst wird, wie es § 169 Abs. 1 GWB vorsieht. Bieter könnten dazu verpflichtet werden, den Auftraggeber parallel über den eingereichten Nachprüfungsantrag in Kenntnis zu setzen. Im Rahmen der sofortigen Beschwerde gilt dies nach § 172 Abs. 4 GWB schon heute (ohne dass es hier entscheidend auf die Fristwahrung ankäme).
Solange der Gesetzgeber aber gegen alle Kritik eine Reform des vergaberechtlichen Rechtsschutzsystems ablehnt und damit effektiven Rechtsschutz erheblich erschwert, sind derartige Entscheidungen nur zu begrüßen. Letztlich dient es dem Rechtsfrieden und steigert die Akzeptanz aller Beteiligten, wenn Vergabeentscheidungen unter zumutbaren Bedingungen überprüft werden können.
Auftraggebern ist zu raten, die Vorabinformationsschreiben so zu datieren, dass der Druck auf Bieter nicht unnötig erhöht wird. Schließlich dürften alle Vergaberechtler/innen Fälle kennen, in denen ein Nachprüfungsverfahren hätte verhindert werden können, wenn der Zeitdruck weniger hoch gewesen wäre.
Herr Dr. Daniel Soudry ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner der Sozietät SOUDRY & SOUDRY Rechtsanwälte (Berlin). Herr Soudry berät bundesweit öffentliche Auftraggeber und Unternehmen bei Ausschreibungen, in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren und im Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Darüber hinaus publiziert er regelmäßig in wissenschaftlichen Fachmedien zu vergaberechtlichen Themen und tritt als Referent in Fachseminaren auf.
Zunächst möchte ich daran erinnern, dass eine Zustellung des NPA für das Entstehen des Zuschlagsverbots nicht notwendig ist. Es genügt, dass die VK den Auftraggeber in Textform über den Eingang des NPA informert.
Wer einen NPA stellt, behauptet in aller Regel, vor Einreichung des NPA mindestens einen Vergaberechtsverstoß erkannt zu haben. Damit besteht eine Rügeobliegenheit.
Nach § 161 Abs. 2 GWB muss der Antragsteller in der Antragsbegründung darlegen, „dass die Rüge gegenüber dem Auftraggeber erfolgt ist“. Dieser Anforderung kan ein Unternehmen nur genügen, wenn es tatsächlich vor Einreichung des NPA gerügt hatte.