Als relativ junges Rechtsgebiet weist das Vergaberecht viele nicht abschließend diskutierte und durch die Nachprüfungsinstanzen nicht „durchentschiedene“ Rechtsfragen auf. Gleichzeitig haben sich aber einige handfeste vergaberechtliche Mythen etabliert, die auf den ersten Blick mit einer nahezu unumstößlichen Gewissheit daherkommen, die jedoch bei einem genauerem Blick ins Detail schnell verfliegt. Einer dieser Mythen betrifft den § 3 Abs. 9 VgV und lautet:
„Die Zuordnung der zum Bagatellkontingent von 20% des Gesamtauftragswertes gehörenden Lose, erfolgt bei einem Gesamtprojekt zum Zeitpunkt der Schätzung des Auftragswerts und der Bildung der Lose durch den Auftraggeber. Eine nachträglich im Projektverlauf vorgenommene Zuordnung bestimmter Lose zum 20%-Bagatellkontingent ist ausnahmslos unzulässig.“
Die Kommentarliteratur ist sich auch in dieser Sache überwiegend einig
(Greb, in: Ziekow/Völlink, 4. Aufl. 2020, § 3 VgV Rn. 29; Marx, in: Kulartz/Kus/Marx/Portz/Prieß, 1. Aufl. 2017, § 3 Rn. 20; Alexander, in: Pünder/Schellenberg, 3. Aufl. 2019, § 3 VgV Rn. 73; Dieckmann, in: Dieckmann/Scharf/Wagner-Cardenal, 2. Aufl. 2019, § 3 VgV Rn. 38; Wieddekind, in: Willenbruch/Wieddekind, 4. Aufl. 2017, § 3 VgV, 24).
Nicht viel anders sieht das Meinungsbild in der Rechtsprechung aus. Auch hier wird die obige Auffassung von der ausnahmslosen Unzulässigkeit einer nachträglichen Zuordnung einzelner Lose zum 20%-Bagatellkontingent vertreten
(OLG Koblenz, Beschl. v. 15.03.2003 – 1 Verg 3/03; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.02.2009 – Verg 69/08; OLG München, Beschl. v. 06.12.2012 – Verg 25/12; OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.06.2014 – 17 U 5/14; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.12.2019 – Verg 18/19; VK Südbayern, Beschl. v. 29.10.2013 – Z3-3-3194-1-25-08/13).
Eine differenzierte Begründung für diese strikte Auffassung ist weder in der Kommentarliteratur noch in der Rechtsprechung zu finden. Die Kommentarliteratur führt in knappen Worten zur Begründung lediglich aus, dass die nachträgliche Zuordnung einzelner Lose zum Bagatellkontingent aus Gründen der Manipulationsprävention erforderlich sei. Wo genau die Manipulationsgefahr verortet wird, wird nicht ausgeführt. Stattdessen verweisen die meisten Kommentare pauschal auf eine Entscheidung des BayObLG aus dem Jahr 2001 (BayObLG, Beschl. v. 01.10.2001 – Verg 6/01) und/oder auf eine spätere Entscheidung des OLG Düsseldorf aus 2009 (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.02.2009 – Verg 69/08), in denen die Manipulationsgefahr erstmals erwähnt wurde.
Die Verweise auf diese von der Kommentarliteratur als Grundsatzentscheidungen aufgefassten Beschlüsse tragen jedoch nicht. Die Entscheidung des BayObLG stellt kein generelles Verbot der nachträglichen Zuordnung von Losen zum 20%-Bagatellkontingent nach § 3 Abs. 9 VgV auf. Das BayObLG behandelt die hiesige Fragestellung ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der verfahrensrechtlichen Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrags. Um die Anwendbarkeit des Oberschwellenvergaberechts sicherzustellen und dem Antragsteller eines Nachprüfungsverfahrens den Rechtsschutz nicht vorzuenthalten, nimmt es dem Auftraggeber die Möglichkeit, die Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrags dadurch zu beeinflussen, indem er ein vom Nachprüfungsantrag umfasstes Los nachträglich kurzerhand zum 20%-Bagatellkontingent verschiebt und dadurch den Nachprüfungsantrag in die „Unzulässigkeit treibt“. Dazu führt das BayObLG (Beschl. v. 01.10.2001 – Verg 6/01) aus:
„Durch die Angabe der Vergabekammer als Nachprüfungsbehörde hat die Vergabestelle den rechtlichen Rahmen für die Nachprüfung festgelegt. Die Wirkung dieser Festlegung besteht in einer Selbstbindung der Verwaltung im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens, ob sie ein Los wie das vorliegende dem 20%-Kontingent zuordnet, das nicht EU-weit ausgeschrieben werden muß. Die Antragstellerin hat hier somit einen Anspruch auf Durchführung des Nachprüfungsverfahrens. Die Vergabestelle konnte im Beschwerdeverfahren wirksam nicht mehr erklären, ein Nachprüfungsverfahren stehe nicht zur Verfügung, weil die Vergabe des Loses dem 20%-Kontingent zugerechnet werde.“.
Überzeugender ist auch der Verweis auf die Entscheidung des OLG Düsseldorf nicht. Auch das OLG Düsseldorf (Beschl. v. 11.02.2009 – Verg 69/08) hat sich mit der hiesigen Frage nur in knappen Worten im Rahmen der Zulässigkeit beschäftigt. Zudem hat es seine Auffassung auch nicht begründet. Kurz angebunden führt es zur hiesigen Frage lediglich aus:
„Es ist allein der objektive Gesamtwert der Baumaßnahmen […] maßgebend. Zwar liegt das streitgegenständliche Los mit einem geschätzten Wert von cirka 550.000 Euro unterhalb von 1 Million Euro und überschreitet auch die 20% des Gesamtwertes aller Lose nicht. Die Ausnahmevorschrift (20% Regelung) des § 2 Nr. 7 VgV greift aber nicht ein, da die Festlegung der Lose, die unter die 20% Grenze fallen sollen, zum Zeitpunkt der Einleitung der Vergabeverfahren, Schätzung des Auftragswerts und der Bildung der Lose zu erfolgen hat (vgl. Art. 9 Abs. 2 Richtlinie 2004/18/EG; BayObLG VergabeR 2002, 61, 63). Nur auf diese Weise können Umgehungen des Vergaberechts vermieden werden.“
Die Begründung des OLG Düsseldorf für die Ablehnung der nachträglichen Zuordnung von Losen zum 20%-Bagatellkontingent besteht wiederrum aus der bloßen Behauptung, dass nur durch das Verbot dieser Zuordnung eine Umgehung des Vergaberechts und damit eine Manipulation verhindert werden könne. Die Notwendigkeit einer Manipulationsprävention ist auch der einzige Grund, den andere Entscheidungen zur Ablehnung der nachträglichen Bagatelllosbildung immer wieder aufführen
(OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.12.2019 – Verg 18/19; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.12.2019 – Verg 53/18; OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.06.2014 – 17 U 5/14; OLG München, Beschl. v. 06.12.2012 – Verg 25/12).
Bei näherer Betrachtung ist die vielbeschworene Manipulationsgefahr nicht feststellbar. Sie taugt nicht als Begründung für ein generelles Verbot der nachträglichen Zuordnung einzelner Lose zum 20%-Bagatellkontingent des § 3 Abs. 9 VgV.
Eine Manipulationsgefahr, zu deren Bekämpfung das Verbot erforderlich sein könnte, wäre auf den ersten Blick denkbar in Fällen, in denen der Auftraggeber durch den Rückgriff auf § 3 Abs. 9 VgV in einem laufenden Nachprüfungsverfahren über den Umfang des dem Bieter zur Verfügung stehenden Rechtsschutzes entscheidet. Ein solcher Fall lag der Entscheidung des BayObLG zu Grunde. Dort schrieb der Auftraggeber ein zu einem Gesamtbauvorhaben gehörendes Bagatelllos in einem EU-weiten Oberschwellenvergabeverfahren aus. Erst nachdem ein vom Vergabeverfahren ausgeschlossener Bieter das Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer beschritt und dort zu obsiegen drohte, berief sich der Auftraggeber erstmalig im Beschwerdeverfahren auf das 20%-Bagatellkontingent und trug vor, dass infolge dessen der Schwellenwert nicht überschritten und der Nachprüfungsantrag unzulässig sei. Sachliche bauablauftechnische Gründe für eine nachträgliche Zuordnung des Loses zum 20%-Bagatellkontingent lagen nicht vor. Die Zuordnung des Loses erfolgte allein aus prozesstaktischen Gründen, um dem Bieter den Rechtsschutz im Nachprüfungsverfahren abzuschneiden. Infolge der nachträglichen Zuordnung des Auftrages zum 20%-Bagatellkontingent wäre der Nachprüfungsantrag nach Auffassung des BayObLG (Beschl. v. 01.10.2001 – Verg 6/01) unzulässig.
Dieses Vorgehen ist gewiss manipulativ und entspricht nicht der Zwecksetzung des § 3 Abs. 9 VgV. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, dem Auftraggeber bei diesen im Verhältnis zum Gesamtauftrag untergeordneten Losen eine größere Flexibilität bei der Vergabe zu ermöglichen und ihm den Aufwand eines europaweiten Verfahrens bei diesen für den Binnenmarkt weniger interessanten Aufträgen zu ersparen
(Kau, in: Burgi/Dreher – VergabeR, 3. Aufl. 2019 Bd. 1, § 3 Rn. 60; Radu, in: Müller-Wrede – VgV, 1. Aufl. 2017, § 3 Rn. 57).
So richtig die Auffassung des BayObLG in dem damals entschiedenen Fall auf den ersten Blick auch scheint, so wenig kann diese aus dem Jahr 2001 stammende Auffassung auf die heutige Rechtslage übertragen werden. Die Entscheidung erging zu einer Zeit, in der sich das Vergaberecht mit seinen subjektiven Verfahrensrechten sowie dem dazugehörigen Primärrechtschutz nur langsam durchsetzen und viele Details dazu noch (mehr als heute) vollständig unklar waren. Das wird bereits daran deutlich, dass das BayObLG in seinem Beschluss noch davon ausging, der Auftraggeber habe es in der Hand, durch die Angabe der Vergabekammer „den Rahmen für die Nachprüfung“ festzulegen. Nach über 20 Jahren Rechtsentwicklung seit der Entscheidung des BayObLG gehört es zum gesicherten Wissen, dass der Auftraggeber den Rahmen für die Nachprüfung nicht festlegen kann. Der Rechtsschutzweg nach §§ 155ff GWB steht nicht zur Disposition der Parteien
(OLG Naumburg, Beschl. v. 15.04.2016 – 7 Verg 1/16; OLG Celle, Beschl. v. 08.08.2013 – 13 Verg 7/13; OLG München, Beschl. v. 05.10.2012 – Verg 15/12; Röwekamp, in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß – GWB, 5. Aufl. 2020, § 98 Rn. 44 m.w.N.)
Der Rahmen für die Nachprüfung wird folglich nicht durch den Auftraggeber, sondern alleine durch die gesetzlichen Vorschriften definiert. Das hat aber auch zur Folge, dass für manipulative Eingriffe des Auftraggebers, die den Zugang zum Rechtsschutzweg nach §§ 155ff GWB versperren, nach gegenwärtiger Rechtslage kein der Revision durch die Nachprüfungsinstanzen entzogener Raum besteht. Der Rückgriff des BayObLG auf eine etwaige Manipulationsgefahr, der durch eine restriktive Auslegung des § 3 Abs. 9 VgV zum Zwecke des effektiven Rechtsschutzes entgegengewirkt werden müsste, überzeugt nach dem heutigen Stand des Vergaberechts nicht. Der Grund dafür ist, dass etwaige Manipulationen dem Auftraggeber nach der gegenwärtigen Rechtslage keine Vorteile bringt. Insbesondere können Manipulationen des Auftraggebers nicht den Rechtsschutzweg nach §§ 155ff GWB versperren. Dazu im Einzelnen:
– Der heutige § 3 Abs. 9 VgV ist eine 1:1-Umsetzung des Art. 5 Abs. 10 Richtlinie 2014/24/EU (Vergaberichtlinie). Dieser lautet:
„Ungeachtet der Absätze 8 und 9 können öffentliche Auftraggeber bei der Vergabe einzelner Lose von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichen, wenn der geschätzte Wert des betreffenden Loses ohne MwSt. bei Lieferungen oder Dienstleistungen unter 80 000 EUR und bei Bauleistungen unter 1 000 000 EUR liegt. Allerdings darf der kumulierte Wert der in Abweichung von dieser Richtlinie vergebenen Lose 20 % des kumulierten Werts sämtlicher Lose, in die das Bauvorhaben, der vorgesehene Erwerb gleichartiger Lieferungen oder die vorgesehene Erbringung von Dienstleistungen unterteilt wurde, nicht überschreiten.“ [Hervorhebung durch Verfasser]
Die Vergaberichtlinie nimmt damit die Bagatelllose von der Anwendung der Richtlinie nicht pauschal aus. Die Bagatelllose bleiben öffentliche Aufträge im Sinne der Richtlinie. Die Vergaberichtlinie sieht für diese öffentlichen Aufträge lediglich eine Privilegierung vor, indem sie eine Vergabe dieser Aufträge unter Abweichung von den Verfahrensregelungen der Vergaberichtlinie gestattet. Die Vergabe dieser Lose muss daher nicht nach den detaillierten Verfahrensvorschriften der Vergaberichtlinie erfolgen. Diese Lose bleiben aber öffentliche Aufträge im Sinne der Vergaberichtlinie. In der Praxis wird diese Privilegierung dahingehend genutzt, dass die Bagatelllose in „nationalen Vergabeverfahren“ ohne EU-weite Verfahrensbekanntmachung vergeben werden.
– Diese nationalen Vergabeverfahren finden jedoch bekanntermaßen nicht im „rechtlosen Raum“ statt. Anders als im Jahr 2001, dem Jahr der Entscheidung des BayObLG, gelten für „nationale Vergabeverfahren“ ‑ je nach der Art des öffentlichen Auftraggebers – vergleichbar strikte Verfahrensvorschriften wie im Oberschwellenbereich. Für diese Verfahren gelten regelmäßig die Verfahrensvorschriften der VOB/A, der UVgO sowie diverse Landesvergabegesetze und stellenweise auch noch der VOL/A. Diese sehen eine Vielzahl subjektiver Rechtspositionen für die Bieter/Bewerber vor, die regelmäßig vor den Zivilgerichten und teilweise auch vor den Vergabekammern durchgesetzt werden können (Rechtschutz im Unterschwellenbereich besteht gegenwärtig in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und ab dem 01.06.2021 auch in Rheinland-Pfalz). Hinzu kommt, dass bei binnenmarktrelevanten Bagatelllosen, regelmäßig auch eine EU-weite Bekanntmachung der „nationalen Vergaben“ erforderlich ist. Die Binnenmarktrelevanz eines Bagatellloses, das zu einem größtenteils oberschwellig vergebenen Gesamtvorhaben gehört, wird bei sorgsamer Abwägung häufig vorliegen. Der mit Manipulationsabsicht handelnde Auftraggeber wird durch eine „Flucht in die nationale Vergabe“ relativ wenig Freiheit gewinnen.
– Wie wenig diese Freiheit wiegt, wird durch einen Blick in die Rechtsmittelrichtlinie noch deutlicher. Anders als Art. 5 Abs. 10 Richtlinie 2014/24/EU enthält die Rechtsmittelrichtlinie für Bagatelllose keine Privilegierung, die diese öffentlichen Aufträge vom Anwendungsbereich der Rechtsmittelrichtlinie ausnehmen oder für diese spezielle Verfahrensvorschriften vorsehen würde. Zum Anwendungsbereich der Richtlinie 89/665/EWG (Rechtsmittelrichtlinie) in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG heißt es unter Art 1 der Rechtsmittelrichtlinie schlicht:
„Diese Richtlinie gilt für Aufträge im Sinne der Richtlinie 2004/18/EG […] [Nunmehr Richtlinie 2014/24/EU], sofern diese Aufträge nicht gemäß den Artikeln 10 bis 18 der genannten Richtlinie ausgeschlossen sind.
Aufträge im Sinne der vorliegenden Richtlinie umfassen öffentliche Aufträge, Rahmenvereinbarungen, öffentliche Baukonzessionen und dynamische Beschaffungssysteme. Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/18/EG fallenden Aufträge die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der Artikel 2 bis 2f der vorliegenden Richtlinie auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können […]“ [Kürzungen, Einfügungen und Hervorhebungen durch den Verfasser]
Die Rechtsmittelrichtlinie wird nach dieser Bestimmung auf sämtliche Vergaben öffentlicher Aufträge nach der Richtlinie 2014/24/EU angewendet. Eine Ausnahme für Bagatelllose oder auch nur eine Privilegierung, wie sie Art. 5 Abs. 10 Richtlinie 2014/24/EU festlegt, sieht die Rechtsmittelrichtlinie nicht vor.
Daraus folgt, dass der zur Umsetzung der Rechtsmittelrichtlinie etablierte vergaberechtliche Rechtsschutzweg nach §§ 155ff GWB auch für die (nationale) Vergabe von Bagatelllosen Anwendung findet. Ein Auftraggeber, der in einem laufenden Projekt nachträglich Bagatelllose bildet und durch eine „nationale“ Vergabe hofft, dem Rechtsschutzweg nach den §§ 155ff GWB zu entgehen, wird in dieser Hoffnung aus den vorstehenden Gründen enttäuscht werden. Wenn aber für die „national“ vergebenen Bagatelllose auch im Unterschwellenbereich ähnliche Verfahrensregeln wie im Oberschwellenbereich gelten und zudem für diese Lose auch der Rechtsschutzweg nach den §§ 155ff GWB gilt, kann die vielbeschworene Manipulationsgefahr nicht als Grund für das Verbot der nachträglichen Bagatelllosbindung angeführt werden. Der mit Manipulationsabsicht handelnde Auftraggeber gewinnt dadurch nichts. Das BayObLG müsste, wenn es nach heutigen Maßstäben zu entscheiden hätte, die Frage der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags nicht problematisieren, denn der Rechtsschutzweg nach den §§ 155ff GWB wäre ungeachtet der Manipulation des Auftraggebers eröffnet gewesen. Ein Verbot der nachträglichen Zuordnung einzelner Lose zum 20%-Bagatellkontingent wäre demnach gar nicht erforderlich gewesen, um der auftraggeberseitigen Manipulation des Rechtsweges entgegen zu treten. Die Entscheidung des BayObLG und die dortige Fallkonstellation können daher nach heutigen Maßstäben nicht mehr als Begründung für die restriktive Auslegung des § 3 Abs. 9 VgV herangezogen werden.
Bei genauerem Hinsehen lässt sich eine relevante Manipulationsgefahr nicht feststellen. Fällt aber wie gezeigt, die vermeintliche Manipulationsgefahr als Begründungssatz für ein Verbot der nachträglichen Bagatelllosbildung aus, gibt es keinen Grund, dem Auftraggeber in einem laufenden Projekt die nachträgliche Zuordnung einzelner Lose zum 20%-Bagatellkontingent zu untersagen
(im Ergebnis auch: Radu, in: Müller-Wrede – VgV, 1. Aufl. 2017, § 3 Rn. 62).
Dieses Ergebnis entspricht auch den Bedürfnissen der Praxis. Insbesondere bei Bauprojekten kommt es häufig vor, dass trotz aller gebotenen Sorgfalt bei deren Planung und der Vorbereitung der Vergabeverfahren, unvorhersehbare, aus dem Bauablauf folgende Umstände dazu führen, dass nachträglich kleinere Leistungen erforderlich werden oder nach einer Kündigung während der Vertragsausführung einzelne Teilleistungen neu vergeben werden müssen. Der Bedarf nach diesen Leistungen ist planerisch zu Beginn des Projekts nicht abschließend vorhersehbar. Die Durchführung eines EU-weiten Vergabeverfahrens wäre in Anbetracht des geringen quantitativen Umfangs dieser Leistungen eine zeitraubende und vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 97 Abs. 1 GWB) vergaberechtlich fragwürdige Maßnahme, für die die Unternehmen am Markt schwerlich Verständnis aufbringen würden. Hinzu kommt auch, dass in diesen Fällen der Hinweis auf eine etwaige Manipulationsgefahr noch weniger überzeugt. In Fällen der planerischen Unvorhersehbarkeit ist es dem Auftraggeber unmöglich, diese Leistungen „bei Einleitung des Vergabeverfahrens“ – d.h. dem Beginn der ersten Vergabe im Bauvorhaben – dem 20 %-Kontingent zuzuordnen. Es ist auch nicht zu befürchten, dass Auftraggeber die planerische Unvorhersehbarkeit dieser Leistungen manipulativ nutzen könnten, um einer EU-weiten Vergabe zu entgehen. Ob eine Leistung planerisch unvorhersehbar ist oder nicht, unterliegt der vollen Nachprüfbarkeit durch die Nachprüfungsinstanzen. Diese können zur Frage der planerischen (Un-)Vorhersehbarkeit bestimmter Leistungen im Zweifelsfall auch ein Sachverständigengutachten zur fachlichen Klärung einholen. Der manipulativ handelnde Auftraggeber muss also damit rechnen, das nachgeprüft wird, ob der Bedarf nach diesen Leistungen planerisch tatsächlich unvorhersehbar war
(Kafedžić, VergabeR 2020, 803f. – Anmerkung zu OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.12.2019 – VII-Verg 18/19).
Vor dem Hintergrund der uneingeschränkten Nachprüfungsmöglichkeit dürfte die Bereitschaft der Auftraggeber, nachträglich (manipulativ) neue Lose „zu entdecken“, um sie durch § 3 Abs. 9 VgV leichter „national vergeben“ zu können, als gering einzuschätzen sein. Dies gilt umso mehr als wie dargelegt, die Flucht in die „nationale“ Vergabe dem Auftraggeber keinen nennenswerten Vorteil bringt und das Verfahren auch nicht dem Rechtsschutzweg nach §§ 155ff GWB entzieht.
Im Ergebnis der vorstehenden Ausführungen ist gegen die im Projektverlauf nachträglich vorgenommene Zuordnung bestimmter Lose zum 20%-Bagatellkontingent des § 3 Abs. 9 VgV nichts einzuwenden. Der Anwendungsbereich des § 3 Abs. 9 VgV darf nicht länger mit Verweis auf eine nicht bestehende, „mythologische Manipulationsgefahr“ künstlich eingeschränkt werden. § 3 Abs. 9 VgV muss frei von solchen Altlasten angewendet werden. Nur dadurch kann diese Vorschrift ihr für alle Beteiligten vorteilhaftes Potenzial ausspielen, indem sie (zeit-)aufwändige EU-weite Vergaben über Bagatelllose überflüssig macht und dadurch die Einhaltung der Zeitplanung bei in der Realisierung befindlichen Projekten, trotz unvorhersehbarer Zusatzleistungen, ermöglicht.
Anmerkung der Redaktion
Dieser Beitrag ist Teil der vom Autor betreuten Serie: Vergabemythen.
Anes Kafedzic
Anes Kafedžić ist Rechtsanwalt bei LANGWIESER RECHTSANWÄLTE Partnerschaft mbB. Das Tätigkeitsspektrum von Herrn Kafedžić umfasst die gesamte Bandbreite des Vergaberechts. Im Rahmen dessen berät er seine Mandanten bei der Vorbereitung und Durchführung von Ausschreibungen sowie bei der Erstellung von Angeboten. Darüber hinaus übernimmt er die Vertretung seiner Mandanten in vergaberechtlichen Rechtschutzverfahren sowie bei der Durchsetzung und Abwehr von Ansprüchen vergaberechtlichen Ursprungs, z.B. Schadensersatz- und Akteneinsichtsansprüche.
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