Erst im Februar diesen Jahres hat der EuGH einen ausschreibungsfreien Auftragnehmerwechsel bei Insolvenz erleichtert (vgl. Vergabeblog.de vom 28/02/2022, Nr. 48994). Nun legen die Luxemburger Richter für Inhouse-Geschäfte und Unternehmensumstrukturierungen einen strengeren Maßstab an. Der EuGH entschied, dass der Rechtsnachfolger die Leistungen eines inhouse-beauftragten Auftragnehmers nicht nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB fortführen darf, wenn die Inhouse-Voraussetzungen zum Rechtsnachfolger nicht vorliegen.
Art. 72 Abs. 1 Buchst. d) Unterbuchst. ii) RL 2014/24/EU, Art. 12 Abs. 1 bis 3 RL 2014/24/EU; § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB, § 108 Abs 1 bis 5 GWB.
Leitsatz
Das EU-Vergaberecht steht einer Beschaffungspraxis entgegen, wonach ein Inhouse-Auftrag automatisch vom Rechtsnachfolger fortgeführt wird, ohne dass der öffentliche Auftraggeber am Rechtsnachfolger beteiligt ist und auch keine Kontrolle wie über eine eigene Dienststelle ausübt.
Sachverhalt
Die italienische Gemeinde Lerici (Gemeinde) hatte 2005 ihre Abfallbewirtschaftung bis Ende 2028 an eine ausschließlich mit anderen Kommunen kontrollierte Aktiengesellschaft (ACAM) im Wege eines Inhouse-Geschäftes vergeben. ACAM betraute ihre Tochtergesellschaft (ACAM Ambiente) mit der Abfallentsorgung. Aufgrund einer Krise der ACAM wählte diese 2013 im Rahmen eines Bieterverfahrens eine staatliche börsennotierte Gesellschaft (IREN) aus, die alle kommunalen ACAM-Aktien erwarb. Im Gegenzug haben – mit Ausnahme der Gemeinde – die anderen Kommunen entsprechende Anteile an IREN erhalten. Die zwischenzeitlich für die Abfallbewirtschaftung zuständige Provinz La Spezia (Provinz) genehmigte ACAM Ambiente die Abfallentsorgung in der Gemeinde, ohne ein Vergabeverfahren durchzuführen. Die Gemeinde war der Ansicht, dass wegen ihrer fehlenden Kapitalbeteiligung an IREN keine Inhouse-Vergabe zugunsten von ACAM Ambiente möglich sei und erhob Klage.
Die Entscheidung
Der EuGH nimmt an, dass die Gemeinde und Kommunen gemeinsam die ACAM mit Abfalldienstleistungen im Wege eines Inhouse-Geschäftes ursprünglich beauftragt hatten (Rdnr. 32 f.). Die Übernahme einer inhouse-beauftragten Gesellschaft (ACAM) durch ein anderes Unternehmen (IREN) während der Laufzeit eines öffentlichen Auftrages (Abfallbewirtschaftung in der Gemeinde) kann die Auftragsbedingungen aber so grundlegend ändern, dass ein neues Vergabeverfahren nötig sein kann. Denn eine solche Änderung kann dazu führen, dass der Auftragnehmer praktisch keiner eigenen Dienststelle des öffentlichen Auftraggebers mehr gleichgestellt werden kann (Rdnr. 37 f.).
Eine vergabefreie Auftragsänderung nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB wegen der Übernahme des ursprünglichen Auftragnehmers (ACAM) durch den neuen Auftragnehmer (IREN) scheidet aus. Aufgrund des Wortlauts von § 132 Abs. 2 GWB ist der Anwendungsbereich auf den Fall beschränkt, in dem der Rechtsnachfolger des ursprünglichen Auftragnehmers die Ausführung des öffentlichen Auftrages, der Gegenstand des einstigen Vergabeverfahrens war, entsprechend den Anforderungen des EU-Vergaberechts fortsetzt. Dabei sind die Grundsätze der Nichtdiskriminierung, Gleichheit und des wirksamen Wettbewerbs zu beachten (Rdnr. 41). Diese Auslegung wird durch § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GWB gestützt, weil die Änderung so wesentlich ist, die ursprünglich andere Bieter zugelassen oder die Annahme eines anderen Angebotes ermöglicht oder das Interesse anderer Wettbewerber geweckt hätte. Zudem wird dadurch dem Ziel des öffentlichen Auftragswesens Rechnung getragen, einen möglichst umfassenden Wettbewerb sicherzustellen (Rdnr. 42). Aus diesen Gründen ist § 132 GWB hier unanwendbar, weil der öffentliche Abfallentsorgungsauftrag ursprünglich ohne Vergabeverfahren an eine Inhouse-Gesellschaft vergeben wurde (Rdnr. 43).
Eine Inhouse-Vergabe nach § 108 Abs. 4 GWB kommt hier ebenfalls nicht in Betracht, weil die Gemeinde am neuen Auftragnehmer (IREN) nicht beteiligt ist. Dementsprechend ist die Gemeinde weder in den beschlussfassenden Organen von IREN vertreten noch ist sie in der Lage gemeinsam mit den übrigen Kommunen Einfluss auf die strategischen Ziele oder wesentlichen Entscheidungen von IREN auszuüben (Rdnr. 47). Deshalb scheidet eine Inhouse-Vergabe kraft gemeinsamer Kontrolle gemäß § 108 Abs. 4 GWB aus (Rdnr. 48, 55).
Entgegen der Meinung des vorlegenden Gerichts ändert der Umstand, dass IREN von ACAM im Rahmen eines Bieterverfahrens ausgewählt wurde (Rdnr. 24), an diesem Ergebnis nichts (Rdnr. 51). Gleiches gilt, wenn der in Rede stehende öffentliche Auftrag durch die zuletzt für die Abfallbewirtschaftung zuständige Provinz an ACAM Ambiente vergeben worden wäre. Denn die Provinz ist weder am Kapital von IREN und somit auch nicht an ACAM Ambiente beteiligt, noch kontrolliert sie beide Unternehmen (Rdnr. 59, 61).
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung der Luxemburger Richter ist in Teilen bemerkenswert. Während die Urteilsgründe zum Kontrollerfordernis beim Inhouse-Geschäft die bisherige Spruchpraxis bestätigen, war mit der gerichtlichen Auslegung zum vergabefreien Auftragnehmerwechsel während der Vertragslaufzeit gemäß § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB nicht zu rechnen.
Im Kern geht es um die Frage, ob § 132 GWB auf öffentliche Aufträge angewandt werden kann, die wegen einer Ausnahmevorschrift (z.B. Inhouse-Geschäft gemäß § 108 GWB) ursprünglich nicht im Rahmen eines Ausschreibungswettbewerbs vergeben wurden. Der EuGH verneint dies für den Fall der Unternehmensumstrukturierung gemäß § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB. Der Normwortlaut und das Ziel, die öffentlichen Beschaffungsmärkte dem Wettbewerb zu öffnen, stünden der Anwendung entgegen. Beide Begründungsansätze überzeugen nicht. § 132 GWB bzw. Art. 72 RL 2014/24/EU geben nicht klar zu erkennen, ob der Vertragsabschluss das Ergebnis eines vorangegangenen förmlichen Vergabeverfahrens gewesen sein muss oder nicht. Zum richterlichen Wortlautargument lässt sich nur erahnen, dass der EuGH aus der Begriffswendung „neues Vergabeverfahren“ in Art. 72 RL 2014/24/EU geschlussfolgert haben könnte, dass der ursprüngliche Auftrag auch ein altes Vergabeverfahren vorausgesetzt habe. Zwingend erscheint dieses Normverständnis nicht. Ebenso könnte vertreten werden, dass kein neues Vergabeverfahren nötig sei, weil bereits kein altes Vergabeverfahren erforderlich war. Allenfalls der in § 132 GWB verwendete Begriff öffentlicher Auftrag könnte den EuGH in Verbindung mit dem Wettbewerbsgrundsatz in § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB indirekt auf konkurrenzierende Vergabeverfahren schließen lassen. Die in Art. 72 RL 2014/24/EU ebenso verwendeten, nicht exklusiv vergabegeprägten Begriffe wie Auftrag oder Vertrag entkräften dieses Auslegungsergebnis aber wieder. Zwar ist eine enge Auslegung dieser Ausnahmeregelung notwendig. Allerdings darf der Ausnahme nicht ihre praktische Wirksamkeit durch die Auslegung genommen werden (EuGH, Urt. v. 03.02.2022 – C-461/20 Advania, Rdnr. 30). Das wäre jedoch der Fall, wenn im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung der Rechtsnachfolger eines Inhouse-Auftragnehmers grundsätzlich an der Weiterführung der Leistungen gehindert wäre. Auch ist der Grund die öffentlichen Auftragsmärkte für den Wettbewerb zu öffnen, so allgemein gehalten, dass damit jede beliebige Vergabeausnahme in Frage gestellt werden könnte. Überzeugender wäre es gewesen, Sinn und Zweck von Art. 72 Abs. 1 Buchst. d) Unterbuchst. ii) RL 2014/24/EU mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Das Hauptziel besteht darin, bei der Normanwendung eine gewisse Flexibilität zu schaffen, um pragmatisch auf eine Reihe außergewöhnlicher Sachverhalte zu reagieren (EuGH, Urt. v. 03.02.2022 – C-461/20 Advania, Rdnr. 37). Dafür aber kann es nicht grundsätzlich entscheidend sein, wie der Auftrag, wie der Vertrag einst zustande gekommen ist (so auch Scharen, in: Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht, 4. Aufl. 2017, § 132 Rdnr. 5). Ob ein förmliches Vergabeverfahren durchgeführt oder ob der Auftrag kraft einer Vergabeausnahme direkt vergeben wurde, kann für § 132 GWB daher nicht generell von Bedeutung sein. Dafür schien auch der österreichische Rechtsvertreter im EuGH-Verfahren erfolglos plädiert zu haben (Rdnr. 43). Solange und soweit eine Unternehmensumstrukturierung mit Inhouse-Bezug nicht dazu dient, Vergaberecht umgehen zu wollen, sollte eine entsprechende Auftragsänderung möglich sein. Wegen der großen zeitlichen Abstände der einzelnen Entscheidungen im hier entschiedenen Fall ist ein solcher Missbrauch oder eine solche Umgehungsabsicht jedenfalls nicht offensichtlich.
Praxistipp
Die vergabefreie Änderung eines Inhouse-Auftrages wegen einer Unternehmensumstrukturierung i.S.d. § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB scheidet nach dem EuGH aus, wenn danach die Inhouse-Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Bei Unternehmensübernahmen oder Fusionen sollten daher bestehende Inhouse-Aufträge bei der Risikobewertung im Blick behalten werden. Ob eine ausschreibungsfreie Auftragsänderung nach § 132 GWB auch bei Fällen in Betracht kommen kann, in denen Verträge ohne vergaberechtlich legitimierte Ausnahme geschlossen wurden, ist höchstrichterlich noch nicht abschließend geklärt.
Holger Schröder
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss „Fachanwalt für Vergaberecht“ der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.
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