Die Corona-Pandemie bestimmte zuletzt, zweieinhalb Jahre nach ihrem Ausbruch, unter anderem aufgrund weggefallener Einschränkungen des öffentlichen Lebens und aufgrund anderer globaler Krisen den öffentlichen Diskurs deutlich weniger stark als noch zu ihrem Beginn. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gehen jedoch davon aus, dass neben dem verstärkten Auftreten von Subtypen der Variante Omikron des Coronavirus und dem jederzeit möglichen Auftreten von neuen Varianten durch saisonbedingte Effekte mit einem Wiederanstieg der Infektions- und der Hospitalisierungszahlen zum Herbst/Winter 2022/2023 zu rechnen ist. Das am 07.09.2022 vom Deutschen Bundestag beschlossene Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19 beinhaltet mögliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, die nicht nur in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden, sondern die auch zu einem erhöhten Bedarf an entsprechenden Leistungen wie Schnelltests führen können. Infolgedessen stehen Bund, Länder und Kommunen vor der Herausforderung, einen solchen möglicherweise steigenden Bedarf ggf. auch kurzfristig zu decken. Antworten auf die Frage, ob und wie derartige kurzfristige Bedarfe mit den Instrumenten des Vergaberechts gedeckt werden können, gibt der hier besprochene Beschluss des Vergabesenats beim Hanseatischen OLG Bremen.
§§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV; §§ 134 Abs. 1, 135 Abs. 1, 2, 160 Abs. 3, 168 Abs. 2 S. 2 GWB
Die Immobilien Bremen, eine Einrichtung der Freien Hansestadt Bremen, vergab in den Monaten März bis Mai des Jahres 2021 diverse Aufträge ohne EU-weites Vergabeverfahren zur Beschaffung von Antigen-Schnelltests.
Am 07.04.2021 wurde auf der Grundlage der 24. Coronaverordnung mit Wirkung zum 19.04.2021 angeordnet, dass Schülerinnen und Schüler ab dem 19.04.2021 Schulen in Bremen und Bremerhaven nur dann betreten dürfen, wenn sie sich in regelmäßigen Abständen (alle drei Tage) auf das Coronavirus testen lassen. Das Zutrittsverbot sollte nur gelten, wenn in den Schulen Schnelltests in hinreichender Zahl vorliegen.
Mit Beschluss vom 28.05.2021 bewilligte der Haushalts- und Finanzausschuss der Bremischen Bürgerschaft die Aufstockung des Budgetrahmens (sog. Bremen-Fonds), aus dem pandemiebedingte Bedarfe der Bedarfsträger an Masken, Desinfektionsmitteln, Luftfiltern, Schnelltests etc. zentral finanziert wurden, um rund 27,9 Mio. EUR. Am selben Tag teilten die Schulen in Bremen und Bremerhaven der Immobilen Bremen ihren Bedarf an Schnelltests bis zum Beginn der Sommerferien am 22.07.2021 mit.
Am 02.06.2021 forderte die Antragsgegnerin neun Unternehmen zur Abgabe von Angeboten über die Lieferung von rund 1.216.000 Antigen-Selbsttests für die Schulen in Bremen und Bremerhaven bis zum 04.06.2021 auf. Die Auslieferung sollte ab dem 09.06.2021 beginnen. Eine Auftragsbekanntmachung erfolgte nicht. Die Auftragserteilung an die Beigeladene erfolgte am 04.06.2021. Am selben Tag begründete die Antragsgegnerin auf Nachfrage die Nichtberücksichtigung des Angebots der Antragstellerin mit Hinweis auf das Produkt der Beigeladenen. Am 11.06.2022 machte die Antragsgegnerin die vergebenen Aufträge im Amtsblatt der EU bekannt.
Die von der Beigeladenen ausgelieferten Schnelltests wurden in der Folgezeit von den Schülerinnen und Schülern verbraucht.
Nach erfolgloser Rüge der ihrer Auffassung nach unzulässigen Durchführung von Dringlichkeitsvergaben, die sie am 08.06.2021 erhob, beantragte die Antragstellerin am 08.07.2021 Nachprüfung bei der Vergabekammer, den diese mit Beschluss vom 17.09.2021 zurückwies. Mit der sofortigen Beschwerde verfolgte die Antragstellerin ihr Begehren beim Vergabesenat des OLG Bremen weiter und beantragte, die Unwirksamkeit der mit der Beigeladenen geschlossenen Verträge festzustellen. Sie machte geltend, dass ein dringender Bedarf Anfang Juni 2021 nicht belegt sei. Die Antragsgegnerin habe eine etwaige Dringlichkeit der Vergaben jedenfalls selbst zu vertreten, weil der behauptete Bedarf bereits ab März 2021 erkennbar gewesen sei, nachdem Laienschnelltests zugelassen und von der Antragsgegnerin erstmals beschafft worden seien. Zudem habe die Antragsgegnerin es unterlassen, ein Erfassungs- und Nachverfolgungssystem vorzusehen, um den Verbrauch der bereits beschafften Tests im Blick zu behalten und nicht sehenden Auges in einen dringlichen Bedarf zu laufen. Es sei insoweit nicht belegt, dass die Durchführung regulärer Vergabeverfahren bei verkürzten Fristen unmöglich gewesen sei. Schließlich sei die Dringlichkeitsvergabe in dieser stattgefundenen Aneinanderreihung rechtsmissbräuchlich gewesen, weil sie von der Antragsgegnerin nicht lediglich zur Überbrückung eines akuten Bedarfs, sondern zur mittel- und langfristigen Beschaffung eingesetzt worden sei.
Der zunächst gestellte Antrag, die Antragsgegnerin zur erneuten Ausschreibung zu verpflichten, wurde in der Beschwerdeinstanz nicht weiterverfolgt. Stattdessen begehrte die Antragstellerin hilfsweise zur Feststellung der Unwirksamkeit der geschlossenen Verträge die Feststellung, dass die Antragsgegnerin durch die Wahl der Verfahrensart ihre Rechte verletzt habe.
Die Antragsgegnerin beantragte die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde und machte geltend, dass der Nachprüfungsantrag mangels Rechtsschutzinteresses bereits unzulässig sei. Sie berief sich zudem auf einen Verstoß einer ihrer Auffassung nach bestehenden Rügeobliegenheit und darauf, dass die Antragstellerin Nachprüfung außerhalb der Frist von 30 Kalendertagen nach § 135 Abs. 2 S. 1 GWB und damit verspätet beantragt habe.
In der Sache verteidigte die Antragsgegnerin ihre Entscheidung für die Auftragsvergabe im Wege einer Dringlichkeitsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV damit, dass der Bedarf erst Ende Mai 2021 konkret festgestellt worden sei und bis Anfang Juni nicht rechtzeitig im Wege eines regulären Verfahrens habe befriedigt werden können. Auf die Frage der Vorhersehbarkeit bzw. auf die Zurechenbarkeit der Dringlichkeit komme es im Bereich der Daseinsvorsorge nicht an. Schließlich berief sich die Antragsgegnerin auf ihre Beschaffungsautonomie.
Mit Erfolg! Der Vergabesenat wies die sofortige Beschwerde zurück.
Nach Auffassung des Vergabesenats sei der Nachprüfungsantrag als Fortsetzungsfeststellungsantrag nach § 168 Abs. 2 S. 2 GWB zulässig. Die Antragstellerin sei gemäß § 160 Abs. 2 S. 2 GWB antragsbefugt, weil sie durch die Angebotsabgabe ein Interesse an dem Auftrag nachgewiesen habe und eine Verletzung von bieterschützenden Rechten geltend gemacht habe. Auch die Möglichkeit eines Schadenseintritts sei hinreichend dargelegt. Eine Verletzung von Rügeobliegenheiten sei der Antragstellerin nicht vorzuwerfen. Der geltend gemachte Verstoß sei jedenfalls nicht im Sinne von § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB erkennbar gewesen, weil anerkannt sei, dass Beschaffungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Dringlichkeitsvergaben rechtfertigen können. Die Streitfrage, ob eine Rügeobliegenheit entgegen § 160 Abs. 3 S. 2 GWB auch dann gelte, wenn die Antragstellerin an dem Verfahren, dessen Zulässigkeit sie beanstandet, beteiligt wurde (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 20.09.2011 – Verg W 11/11 –, Rn. 68, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 20.11.2013 – 17 Verg 7/13 –, Rn. 43, juris, a.A. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.11.2013 – 15 Verg 5/13 –, Rn. 93, juris), musste der Vergabesenat daher nicht entscheiden. Auch ein Ablauf der Frist von 30 Kalendertagen nach § 135 Abs. 2 S. 1 GWB stehe der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags nicht entgegen. Die an die Antragstellerin am 04.06.2021 gerichtete E-Mail habe die Frist nicht wirksam in Gang gesetzt, weil darin entgegen den Vorgaben nach Art. 2f Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG keine Zusammenfassung der einschlägigen Gründe gemäß Art. 55 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24/EU für die Ablehnung ihres Angebots enthalten gewesen seien.
Die Anträge auf Feststellung der Unwirksamkeit der geschlossenen Verträge nach § 135 Abs. 1 GWB seien jedoch gemäß § 168 Abs. 2 S. 2 GWB durch Erledigung auf sonstige Weise unzulässig geworden. Dadurch, dass die Beigeladene die auftragsgegenständlichen Tests bereits ausgeliefert und die Antragsgegnerin sie verbraucht habe, könne das Rechtsschutzziel der Antragstellerin, durch Unwirksamkeitsfeststellung und Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Neuvergabe der Leistungen in dem vorgeschriebenen Verfahren eine Aussicht auf den Auftrag zu wahren, nicht mehr erreicht werden. Der konkrete Bedarf an der auftragsgegenständlichen Leistung sei unumkehrbar erfüllt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.07.2018 – VII-Verg 1/18 –, Rn. 33, juris; Beschluss vom 30.06.2021 – VII-Verg 43/20, juris Rn. 23; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 11.02.2019 – 1 Verg 3/15 –, Rn. 119, juris; VK Bund, Beschluss vom 24.07.2007 – VK 2 – 69/07, juris Rn. 57).
Ob auch der Fortsetzungsfeststellungsantrag unzulässig sei, wenn das mit dem Unwirksamkeitsfeststellungsantrag nach § 135 Abs. 1 GWB verfolgte Rechtsschutzziel zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits nicht mehr erreicht werden konnte, musste der Vergabesenat ebenfalls nicht entscheiden, weil die Antragsgegnerin nicht dargelegt habe, dass die auftragsgegenständlichen Tests bereits zu diesem Zeitpunkt, am 08.07.2021, verbraucht gewesen seien.
Die Antragstellerin habe auch das für die Zulässigkeit eines Fortsetzungsfeststellungsantrags erforderliche Feststellungsinteresse, weil Schadensersatzansprüche der Antragstellerin trotz möglicherweise zweifelhafter Anspruchsvoraussetzungen jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen seien.
Der Nachprüfungsantrag in der Fassung des hilfsweise gestellten Fortsetzungsfeststellungsantrags sei jedoch unbegründet, weil die Antragsgegnerin die Aufträge aufgrund § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb zulässigerweise habe vergeben dürfen.
Wegen der den Wettbewerb zwischen den Bietern einschränkenden Wirkungen seien zwar hohe Anforderungen an das Vorliegen der eng auszulegenden Tatbestandsvoraussetzungen zu stellen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.10.2008 – VII-Verg 46/08 –, Rn. 37, juris; BayObLG, Beschluss vom 20.01.2022 – Verg 7/21 –, Rn. 68, juris). Diese Voraussetzungen seien jedoch erfüllt.
Als äußerst dringliche, zwingende Gründe kämen akute Gefahrensituationen und höhere Gewalt in Betracht, die zur Vermeidung von Schäden der Allgemeinheit ein sofortiges Handeln erforderten. Der Grad der Dringlichkeit müsse so hoch sein, dass selbst die auf ein zulässiges Maß verkürzten Teilnahme- und Angebotsfristen zu lang sind, um den Beschaffungsbedarf rechtzeitig zu decken (vgl. BayObLG, Beschluss vom 20.01.2022 – Verg 7/21 –, Rn. 73, juris).
Zum Zeitpunkt der streitbefangenen Vergabeverfahren drohten die zuvor beschafften Selbsttests nach Angabe der Antragsgegnerin binnen einer Woche auszugehen. In dieser Situation habe angesichts der geltenden Rechtslage eine Gefahr für die Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts an den Schulen in Bremen und Bremerhaven und damit für die Erfüllung des staatlichen Bildungsauftrags bestanden. Hierbei handele es sich um ein hohes Gut, dessen Schutz die Einschränkung des Wettbewerbs um öffentliche Aufträge tragen könne. Im Ergebnis der in diesem Zusammenhang gebotenen Abwägung zwischen der Bedeutung des bedrohten Rechtsguts einerseits und die vergaberechtliche Verpflichtung zur Durchführung eines wettbewerblichen und transparenten Vergabeverfahrens andererseits seien die auf Gleichbehandlung ausgerichteten, aber letztlich wirtschaftlichen Interessen der Bieter und das haushalterische Interesse an einer möglichst kostengünstigen Beschaffung gegenüber dem staatlichen Interesse an einer Aufrechterhaltung des Schulbetriebs in Präsenz nachrangig.
Die danach vorliegende äußerste Dringlichkeit des Bedarfs stehe in Zusammenhang und sei hervorgerufen worden durch die Corona-Pandemie sowie durch die Entwicklung neuer Instrumente zu deren Eindämmung. Die Antragsgegnerin habe dies auch nicht vorhersehen können.
Die Corona-Pandemie stelle für sich genommen nach allgemeiner Ansicht ein unvorhergesehenes und unvorhersehbares Ereignis dar, das zu kurzfristigen Beschaffungsbedarfen führen könne (vgl. OLG Rostock, Beschluss vom 09.10.2020 – 17 Verg 4/20 –, Rn. 79, juris; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 20.01.2022 – Verg 7/21 –, Rn. 70, juris). Trotz der bereits seit Beginn des Jahres 2020 andauernden Pandemie sei im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Beschaffungen bzw. im Zeitpunkt des Beschlusses des Senats der Freien Hansestadt Bremen am 06.04.2021 ihr weiterer Verlauf nicht vorhersehbar gewesen. Die Entwicklung der Inzidenzzahlen sei seinerzeit keineswegs sicher vorauszusehen gewesen. Ihre Erfassung habe von Anfang an unter der Schwierigkeit gelitten, dass sie von einem Zeitverzug geprägt sei und dadurch die Gefahr entstehe, dass der Beginn eines exponentiellen Anstiegs der Infektionszahlen zu spät erkannt werde. Die Höhe der Inzidenzzahlen sei nicht zuletzt vom Verhalten der Bevölkerung beeinflusst – wie etwa einer Reisetätigkeit während der Schulferien –, das als solches nur in Grenzen vorhersehbar sei. Auch das – von vornherein auch befürchtete – Auftreten von Mutationen des Virus sorge dafür, dass der Verlauf der Pandemie unvorhersehbar bleibe.
Hinzu komme für den vorliegenden Fall, dass auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Möglichkeiten der Eindämmung der Pandemie sich stetig wandelten. Insoweit sei zu Beginn des Jahres 2021 erstmals – und als solches ebenfalls unvorhersehbar – die Möglichkeit entstanden, die Ausbreitung der Infektionen mit dem SARSCoV2-Virus anhand von Laienschnelltests zu beobachten und so das Infektionsgeschehen besser zu beherrschen. Nach Entwicklung von Schnelltests begann die Entwicklung von Laientests, deren Zulassung den Behörden ein neues Instrument zur Beobachtung des Pandemiegeschehens gegeben habe, was als solches weitergehende Öffnungsschritte ermöglichte. Auch wenn man davon ausgehe, dass sich die Verfügbarkeit solcher Laienschnelltests bereits Ende Januar 2021 abgezeichnet habe, so sei eine Zulassung solcher Schnelltests zur Anwendung durch Laien erstmals Ende Februar 2021 erfolgt. Erst mit dieser Zulassung habe festgestanden, dass ein neues Instrument zur Verfügung stehe, um die Verbreitung von Infektionen zumindest in gewissen Grenzen zeitnah erfassen zu können. Diese Entwicklung neuer Instrumente zur Eindämmung des Infektionsgeschehens begründe wiederum ein unvorhergesehenes und unvorhersehbares Ereignis, auf dem die Dringlichkeit beruhe.
Die Dringlichkeit beruhe auch auf dem danach anzunehmenden unvorhergesehenen Ereignis und sei der Antragsgegnerin nicht zuzurechnen.
Nach den Grundsätzen der Beschaffungshoheit des Staates sei der Auftraggeber frei, darüber zu entscheiden, wann er eine bestimmte Leistung am Markt erwerben wolle. Er sei aber nicht frei in der Entscheidung, ob er dies im Wege der Dringlichkeitsentscheidung vornehme. In diesem Spannungsverhältnis sei eine Dringlichkeit dem Auftraggeber erst dann zuzurechnen, die auf einem Hinauszögern eines festgestellten oder offenkundigen Bedarfes ohne sachlichen Grund beruhe.
Der Senat der Freien Hansestadt Bremen habe nach Zulassung von Laienselbsttests im Februar 2021 die komplexe Abwägungsentscheidung treffen müssen, ob die verpflichtende Verwendung der Tests in den Schulen ihres Zuständigkeitsbereichs ein hinreichend wirksames Mittel für das Beherrschen der Corona-Pandemie darstelle und ob diese Wirksamkeit in Ansehung der aktuellen Inzidenzzahlen, der Impfquote, der Hospitalisierungsrate und -gefahr und der bei einer Infektion drohenden Gesundheitsgefahren für Schüler, Lehrer und in der Folge weiterer Kontaktpersonen es als vertretbar erscheinen lasse, den Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten, obwohl dieser eine erhebliche Verbreitungsquelle darstelle. Den zuständigen Stellen stehe es insoweit auch frei, festzulegen, aufgrund welcher Informationsgrundlage und welcher Beratungstiefe die Entscheidung getroffen werde. Die Frage, ob der Staat diese den Bedarf definierende Entscheidung rechtzeitig oder schnell genug getroffen habe, entziehe sich der vergaberechtlichen Beurteilung. Im entschiedenen Fall sei die Entscheidung am 06.04.2021 und damit innerhalb von weniger als zwei Monaten nach Zulassung von Laienselbsttests getroffen worden. Ein Hinauszögern sei nicht im Ansatz erkennbar.
Zwar sei davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin ab dem 06.04.2021 absehen konnte, dass es Bedarf für Schnelltests in einem Umfang geben würde, um eine Testung aller Schüler und Lehrkräfte zwei Mal pro Woche zu ermöglichen. Zu diesem Zeitpunkt habe das Schulhygienekonzept in seinen Grundzügen festgestanden, welches den Beschaffungsbedarf an Selbsttests begründete. Allerdings hätte eine Veränderung der Inzidenzwerte, die nicht sicher vorauszusehen gewesen sei, durchaus kurzfristige Maßnahmen wie Schulschließungen oder Quarantänemaßnahmen in der betreffenden Zeit mit Blick auf einzelne Schüler, Klassen oder Kohorten den Bedarf reduzieren können.
In der konkreten Situation sei es nicht geboten gewesen, den gesamten Höchstbedarf bis zum Beginn der Sommerferien sogleich zu decken. Der Antragsgegnerin müsse vielmehr zugestanden werden, neu zugelassene Test mit für Schülerinnen und Schüler geeigneten Abstrichtechniken oder mit Sensitivitäten für Virusmutationen rasch beschaffen zu können.
Zwar könne der Umstand, dass der Auftraggeber mit der Einleitung eines Vergabeverfahrens mehrere Monate zuwartet, der Annahme einer Dringlichkeit der Auftragsvergabe entgegenstehen (vgl. EuGH, Urteil vom 15.10.2009 – Rs. C-275/08 (Kommission/Deutschland), EuZW 2009, 858, Rn. 70 ff.). Ebenso könne nach Auffassung des Vergabesenats eine planerische Vorhersehbarkeit und die Notwendigkeit einer vorausschauenden Lagerhaltung ein – insbesondere wiederholtes – Berufen auf Dringlichkeitsvergaben auch im Zusammenhang mit der SARS-CoV2-Pandemie hindern. Der Antragsgegnerin sei es jedoch nicht zur Last zu legen, wenn sie wegen fehlender Logistik und Inventarisierung der Schnelltests den konkreten Bedarf nicht früher zuverlässig habe ermitteln können. Vergaberechtliche Erheblichkeit erreichten etwaige Planungsdefizite nur dort, wo die konkrete Ausgestaltung der Auftragserfüllung mit ihren erkennbaren Auswirkungen auf Vergabeverfahren nicht mehr durch Sachgründe gerechtfertigt werden könne oder wo sie gar missbräuchlich erfolgte, um die Entstehung von Dringlichkeiten bewusst mit dem Ziel in Kauf zu nehmen, um sich den Bindungen in regulären Vergabeverfahren zu entziehen. Dafür bestünden im entschiedenen Fall keine Anhaltspunkte.
Dass die Antragsgegnerin die zuvor beschafften Tests zunächst nicht zentral inventarisiert und verteilt habe, habe es zwangsläufig mit sich gebracht, dass sich die Antragsgegnerin keinen durchgängigen unmittelbaren Überblick verschaffen konnte, binnen welcher Zeit die Gesamtzahl der zum Abruf berechtigten Stellen die beschafften Schnelltests aufbrauchen und wann erneute Einkäufe erforderlich werden. Diese gewählte Organisation sei aber – sachlich gerechtfertigt – darauf gerichtet gewesen, sicherzustellen, die Schnelltests den abrufberechtigten Stellen möglichst rasch und ohne aufwendigen Verwaltungsvorlauf zur Verfügung zu stellen.
Die hier besprochene Entscheidung des Hanseatischen OLG Bremen verdient Zustimmung.
Die in dem Nachprüfungsverfahren aufgeworfenen Zulässigkeitsfragen werden überzeugend gelöst. Nachdem die auftragsgegenständlichen Selbsttests aufgebraucht waren, war das Primärrechtsschutzziel der Antragstellerin nicht mehr erreichbar. Das Nachprüfungsverfahren erledigte sich, so dass nur noch gemäß § 168 Abs. 2 S. 2 GWB Feststellung einer Rechtsverletzung durch die Durchführung des beanstandeten Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb begehrt werden konnte. Der Vergabesenat bewegt sich hier auf einer Linie mit Entscheidungen anderer Nachprüfungsinstanzen in ähnlich gelagerten Fällen (vgl. KG, Beschluss vom 10.05.2022 – Verg 1/22).
Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags stand auch die Frist von 30 Kalendertagen nach § 135 Abs. 2 S. 1 GWB nicht entgegen. Ohne dass es im entschiedenen Fall darauf ankam, verdient mit Blick auf Art. 2f Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 89/665/EWG in Verbindung mit Art. 55 Abs. 2 lit. b) der Richtlinie 2014/24/EU die Auffassung Zustimmung, nach der die Information im Sinne von § 135 Abs. 2 S. 1 GWB auch die Merkmale und relativen Vorteile des ausgewählten Angebots sowie den Namen des erfolgreichen Bieters umfassen muss (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 22.02.2019 – 15 Verg 9/18).
Die Rechtmäßigkeit des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb aufgrund § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV bejaht der Vergabesenat mit ausführlicher Begründung. Eine wichtige, zustimmungsbedürftige Erkenntnis ist hierbei zunächst, dass neue Entwicklungen in der Corona-Pandemie unvorhersehbare Ereignisse im Sinne von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV darstellen können. Allein die Tatsache, dass die Pandemie bereits Anfang des Jahres 2020 ausgebrochen ist und seitdem andauert, rechtfertigt nicht den Schluss, dass jede in der Zwischenzeit eintretende Entwicklung vorhersehbar ist. Im Gegenteil bedarf jeder Umstand, den der öffentliche Auftraggeber als unvorhersehbar geltend macht, einer sorgfältigen Einzelfallprüfung.
Bemerkenswert und im Ergebnis ebenfalls zustimmungsbedürftig ist der Zusammenhang, den der Vergabesenat zwischen der Beschaffungshoheit des öffentlichen Auftraggebers und der Entscheidung für ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV herstellt. Es ist richtig, wenn dem öffentlichen Auftraggeber freigestellt wird, zu prüfen und zu entscheiden, ob die Vergabe einer Rahmenvereinbarung über den potenziellen Höchstbedarf an Schnelltests oder ein regulärer Liefervertrag über eine konkret ausermittelte Menge durchgeführt werden soll. Insofern beruhte die Dringlichkeit vorliegend nicht auf Umstände, die der Antragsgegnerin zuzurechnen waren, wenn sie den konkreten Bedarf bis zur Einleitung des Vergabeverfahrens Anfang Juni 2021 zunächst einmal durch eine Abfrage bei den Bedarfsträgern in den Schulen ermittelt hat (vgl. auch VK Südbayern, Beschluss vom 21.10.2020 – 3194.Z3-3_01-20-31).
Eine den Rückgriff auf § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ausschließende, dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnende Dringlichkeit kann etwa dann vorliegen, wenn er Verzögerungen durch Nachprüfungsverfahren, mit denen der öffentliche Auftraggeber stets rechnen muss, bei seiner Planung nicht berücksichtigt (KG, Beschluss vom 10.05.2022 – Verg 1/22). Die Kausalität zwischen dem unvorhergesehen Ereignis und der Dringlichkeit der Beschaffung entfällt jedoch nicht bereits dadurch, dass der öffentliche Auftraggeber den zunächst abstrakt festgestellten Bedarf weiter konkretisiert und die Beschaffung weiter plant und hierbei insbesondere prüft, welcher Schnelltest mit welcher Abstrichtechnik im Hinblick auf den mit seiner Nutzung in der Schulen verfolgten Zweck am besten geeignet ist. Die Grenze ist erst dann erreicht und überschritten, wenn der öffentliche Auftraggeber ohne Sachgrund zuwartet, um die Dringlichkeitsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV erst zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang kann dem öffentlichen Auftraggeber auch selbst dann kein Planungs- oder Organisationsdefizit vorgeworfen werden, wenn er möglicherweise nicht den schnellstmöglichen Weg der Bedarfsermittlung wählt.
Insoweit löst der Vergabesenat auch die umstrittenen Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV überzeugend und muss nicht entscheiden, ob ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb zur Beschaffung von Leistungen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge auf dieser Grundlage selbst dann zulässig wäre, wenn die Dringlichkeit auf einem dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnenden Umstand beruht. Hiergegen wurden zuletzt vom Kammergericht unter Verweis auf den insoweit eindeutigen Wortlaut des Art. 31 Abs. 2 lit. c) S. 2 der Richtlinie 2014/24/EU („Die angeführten Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dürfen auf keinen Fall dem öffentlichen Auftraggeber zuzuschreiben sein.“) durchgreifende Bedenken erhoben.
Das Vergaberecht bietet schnelle und flexible Lösungen in Krisensituationen und für die zu ihrer Bewältigung erforderlichen Beschaffungen. Der Vergabesenat beim Hanseatischen OLG Bremen leistet mit der hier besprochenen Entscheidung einen wichtigen Beitrag zu mehr Rechtssicherheit für Beschaffungen in und zur Bewältigung von Krisen, insbesondere in der Corona-Pandemie und in dem bevorstehenden Herbst und Winter, aber auch darüber hinaus.
In der Praxis wird zu prüfen sein, welche neuen Entwicklungen innerhalb der Corona-Pandemie noch als unvorhersehbare Ereignisse im Sinne von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV angesehen werden können. Nach mehr als zweieinhalb Jahren Pandemieverlauf erscheint es zwar nicht fernliegend zu argumentieren, dass das Auftreten von neuen Virusvarianten an sich nicht mehr unvorhersehbar ist. Auch dürfte es schwieriger werden, sich auf die Unvorhersehbarkeit von Änderungen der infektionschutzrechtlichen Rahmenbedingungen zu berufen. Dasselbe gilt für den wissenschaftlichen Fortschritt bei der Pandemiebekämpfung. Es ist aber überzeugender, mit dem Hanseatischen OLG Bremen die Lösung eher bei der Zurechnung der Umstände zu suchen, die die äußerste Dringlichkeit begründen. Hier verweist der Vergabesenat auf die aus der Beschaffungshoheit des öffentlichen Auftraggebers abzuleitenden Spielräume. Es besteht demnach gerade keine Pflicht, nach abstrakter Bedarfsfeststellung unmittelbar ein Vergabeverfahren einzuleiten, nur um die ggf. verkürzten Fristen der Regelverfahren einzuhalten. Es ist vielmehr erlaubt und mit Blick auf eine effiziente Pandemiebekämpfung sogar geboten, auch zulasten des Wettbewerbs um die Leistung den Beschaffungsbedarf weiter zu planen und zu konkretisieren. Hierbei, d.h. bei der Bedarfsermittlung macht das Vergabeverfahrensrecht dem öffentlichen Auftraggeber keine Vorgaben. Die Grenze besteht dort, wo die Nichteinleitung eines Vergabeverfahrens trotz abschließend festgestelltem Bedarf erkennbar missbräuchlich nur mit dem Ziel erfolgt, die Dringlichkeitsvergabe erst zu ermöglichen.
Öffentliche Auftraggeber sind vor dem Hintergrund dieser Entscheidung gut beraten, wenn sie die Bedarfsplanung und -feststellung genau dokumentieren, um sich nicht dem Vorwurf einer sachwidrigen Verzögerung ausgesetzt zu sehen. Die Hürden für Bieter, ein auf § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV gestütztes Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb mit Aussicht auf Erfolg anzugreifen, sind hoch. Fehlerpotenzial besteht für öffentliche Auftraggeber jedenfalls noch hinsichtlich des Kreises der zur Angebotsabgabe aufzufordernden Unternehmen. Abgesehen von wenigen Ausnahmesituationen (vgl. VK Bund, Beschluss vom 28.08.2020 – VK 2-57/20) ist auch in Verfahren nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ein Mindestmaß an Wettbewerb zu gewährleisten. Es sind mindestens drei Angebote einzuholen (zuletzt KG, Beschluss vom 10.05.2022 – Verg 1/22).
Neben dem Wettbewerbsgrundsatz ist auch der Transparenzgrundsatz im Verfahren nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zu beachten. Zwar muss nicht vor Zuschlagserteilung gemäß § 134 Abs. 1 GWB informiert werden, § 134 Abs. 3 S. 1 GWB. Nicht berücksichtigte Bieter sind jedoch nach Zuschlagserteilung über die Gründe für die Ablehnung ihre Angebots und über die Merkmale und Vorteile des erfolgreichen Angebots sowie den Namen des erfolgreichen Bieters zu informieren. Anderenfalls droht für einen Zeitraum von längstens sechs Monaten nach Vertragsschluss ein Antrag auf Unwirksamkeitsfeststellung nach § 135 Abs. 1 GWB.
Um in vergleichbaren Fällen Erledigung durch vollständige Vertragserfüllung zu vermeiden, könnte aus Bietersicht erwogen werden, einen Antrag auf Erlass vorläufiger Maßnahmen, gerichtet auf Untersagung der Vertragserfüllung, gemäß § 169 Abs. 3 S. 1 GWB zu stellen. Der Wortlaut von § 169 Abs. 3 S. 1 GWB („in das Vergabeverfahren eingreifen“) mag zwar gegen die Statthaftigkeit eines solchen Antrags sprechen; überzeugender erscheint es, aus Gründen effektiven Primärrechtsschutzes (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 03.05.2021 – 3194.Z3-3_01-21-26) einen solchen Antrag auch nach Abschluss eines Vergabeverfahrens für statthaft zu halten. Da gemäß § 169 Abs. 3 S. 2, Abs. 2 S. 1, 5 GWB auch die Erfolgsaussichten des Nachprüfungsantrags in die Entscheidung der Vergabekammer einbezogen werden können, erscheint ein solcher Antrag daher ein mögliches Instrument, um frühzeitig Anhaltspunkte über die Rechtmäßigkeit eines auf § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV gestützten Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb zu erlangen und im Interesse eines effektiven Primärrechtsschutzes zu verhindern, dass zulasten eines nicht berücksichtigten Bieters durch Vertragsvollzug vollendete Tatsachen geschaffen werden.
Dr. Marc Röbke ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht bei LUTZ | ABEL Rechtsanwalts PartG mbB in Berlin. Er berät öffentliche Auftraggeber und Unternehmen vergaberechtlich bei der Vorbereitung und Durchführung von nationalen und europaweiten Vergabeverfahren. Sein Tätigkeitsspektrum umfasst darüber hinaus das Verwaltungs-, Zuwendungs- und Beihilfenrecht einschließlich aller Bezüge zum Recht der Europäischen Union. Dr. Marc Röbke verfügt über besondere Erfahrung in der Beratung von Projekten des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV/SPNV), der Gesundheitswirtschaft und von IT-Beschaffungsvorhaben. Er vertritt seine Mandanten regelmäßig in Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern und Oberlandesgerichten.
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