Anlässlich der Vorlage eines lettischen Gerichts befasst sich der EuGH mit dem Umgang mit Angeboten zwei miteinander konzernverbundener Bieter. Einerseits ist ein möglichst großes Bieterfeld wettbewerblich wünschenswert. Andererseits besteht die Gefahr einer wettbewerbswidrigen Abstimmung zwischen den konzernverbundenen Unternehmen. Was ist von Bietern und Auftraggebern zu beachten?
Art. 18 Abs. 1 Richtlinie 2014/24/EU
Leitsätze (nicht amtlich)
- Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht einer nationalen Regelung entgegen, nach der bei Rücktritt des erstplatzierten Bieters im Falle eines konzernverbundenen zweitplatzierten Bieters das Vergabeverfahren automatisch beendet wird.
- Konzernverbundenen Bietern darf nicht die Möglichkeit genommen werden, die Unabhängigkeit ihrer Angebote nachzuweisen.
Sachverhalt
Die Entscheidung des EuGH geht auf einen Vorlagebeschluss eines lettischen Bezirksverwaltungsgerichts zurück. Das Ausgangsverfahren betraf die Vergabe eines Auftrags über Krankenversicherungsleistungen.
Nach dem anwendbaren lettischen Vergaberecht wird der Auftrag nicht unmittelbar mit dem Zuschlag an einen Bieter erteilt. Vielmehr kann der Bieter, der den Zuschlag erhalten soll, den Auftrag des öffentlichen Auftraggebers ablehnen. Lehnt der Bieter den Auftrag ab, kann der Vergabeausschuss entscheiden, den Auftrag an den nachfolgenden Bieter mit dem (dann) wirtschaftlich günstigsten Angebot zu vergeben oder das Vergabeverfahren ohne Zuschlagserteilung beenden. Lehnt auch der nachfolgende Bieter den Auftrag ab, beendet der Vergabeausschuss das Vergabeverfahren ohne Auswahl eines Angebots.
Ferner bestimmt das lettische Vergaberecht, dass der Vergabeausschuss vor einer Auftragsvergabe an den nachfolgenden Bieter prüfen muss, ob dieser Bieter als „derselbe Wirtschaftsteilnehmer“ wie der ursprünglich ausgewählte Bieter anzusehen ist. Der Vergabeausschuss kann vom nachfolgenden Bieter eine Bestätigung und gegebenenfalls Nachweise dafür verlangen, dass dieser nicht als derselbe Wirtschaftsteilnehmer wie der ursprünglich ausgewählte Bieter anzusehen ist. Ist der nachfolgende Bieter als derselbe Wirtschaftsteilnehmer wie der ursprünglich ausgewählte Bieter anzusehen, muss der Vergabeausschuss nach der lettischen Regelung das Vergabeverfahren beenden, ohne ein Angebot auszuwählen.
Neben anderen Bietern gaben die Firmen Baltic und Compensa Angeboten in dem Vergabeverfahren ab. Der Vergabeausschluss wählte zunächst das Angebot der Compensa als das wirtschaftlich günstigste aus. Compensa lehnte den Auftrag jedoch ab. Nachfolgender Bieter war Baltic. Der Vergabeausschuss forderte von Baltic den Nachweis, dass Baltic nicht als derselbe Wirtschaftsteilnehmer wie Compensa anzusehen ist. Baltic gab an, dass sie und Compensa als dieselbe Wirtschaftsteilnehmerin anzusehen seien. Baltic habe ihr Angebot aber unabhängig erstellt und nicht mit Compensa abgestimmt. Daraufhin beendete der Vergabeausschuss das Vergabeverfahren.
Baltic beanstandete die Beendigung des Vergabeverfahrens bei dem Bezirksverwaltungsgericht. Aufgrund von Zweifeln an der Vereinbarkeit der in Rede stehenden lettischen Regelungen zur Beendigung des Vergabeverfahrens mit Unionsrecht legte das Bezirksverwaltungsgericht dem EuGH die Angelegenheit zur Vorabentscheidung vor.
Die Entscheidung
Der EuGH stellt fest, dass die in Rede stehenden Regelungen des lettischen Vergaberechts unionsrechtswidrig seien. Wenn der erstplatzierte Bieter und der zweitplatzierte Bieter als derselbe Wirtschaftsteilnehmer anzusehen seien, hätten diese nach den lettischen Regelungen keine Möglichkeit zum Nachweis der Unabhängigkeit ihrer Angebote. Dies sei mit dem unionsrechtlichen Interesse an der Beteiligung möglichst vieler Bieter an einer Ausschreibung und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar.
Rechtliche Würdigung
Auch der EuGH sieht, dass der Rücktritt des erstplatzierten Bieters im Falle eines konzernverbundenen zweitplatzierten Bieters auf eine wettbewerbswidrige Abstimmung hindeuten kann. Die konzernverbundenen Unternehmen könnten das Ziel verfolgt haben, dass das insgesamt vom Konzern abgegebene höchste Angebot den Zuschlag erhält.
Nach Auffassung des EuGH rechtfertigt diese Gefahr aber nicht eine automatische Beendigung des Vergabeverfahrens. Der EuGH verweist zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung, dass der Gefahr wettbewerbswidriger Abstimmungen nicht durch einen generellen Ausschluss von konzernverbundenen Unternehmen an Vergabeverfahren begegnet werden dürfe. Zwar schließe die lettische Regelung konzernverbundene Unternehmen nicht automatisch von der Teilnahme an Vergabeverfahren aus. Die Regelung entfalte jedoch eine einem solchen Ausschluss vergleichbare Wirkung. Die automatische Beendigung des Vergabeverfahrens in der gegebenen Konstellation sei geeignet, konzernverbundene Unternehmen von der Einreichung konkurrierender Angebote in einem Vergabeverfahren abzuhalten. Hierdurch werde den konzernverbundenen Unternehmen de facto jede Möglichkeit genommen, im Rahmen einer solchen Ausschreibung miteinander in Wettbewerb zu treten.
Praxistipp
Nach deutschem Vergaberecht kommt der Vertrag mit der Erteilung des Zuschlags an den ausgewählten Bieter zustande. Zwar ist der Auftraggeber nicht zur Erteilung des Zuschlags verpflichtet, sondern er kann die Ausschreibung im Regelfall zu jedem Zeitpunkt – ggf. unter Inkaufnahme von Schadensersatzansprüchen der Bieter – wirksam aufheben. Anders als nach dem der EuGH-Entscheidung zugrunde liegenden lettischen Recht ist eine Ablehnung des Auftrags durch den ausgewählten Bieter demgegenüber im deutschen Vergaberecht nicht vorgesehen. Vielmehr ist der ausgewählte Bieter bis zum Ablauf der Bindefrist an sein Angebot gebunden.
Die Entscheidung ist dennoch auch für öffentliche Auftraggeber und Bieter in Deutschland von Interesse, denn sie enthält grundsätzliche Aussagen des EuGH zum Umgang mit Angeboten von konzernverbundenen Unternehmen. Auch wenn eine solche Konstellation im Vorlagefall nicht unmittelbar vorlag, bestätigt der EuGH im Rahmen seiner Entscheidung seine ständige Rechtsprechung, dass ein grundsätzlicher Ausschluss einer Parallelbeteiligung konzernverbundener Unternehmen an Vergabeverfahren unzulässig ist (Urteil v. 19.5.2009 – C-538/07 „Assitur“ Rn. 29 f.; Urteil v. 8.2.2018 -C-144/17 „Lloyd’s of London“ Rn. 36; Urteil v. 17.5.2018 – C-531/16 „Specializuotas transportas“ Rn. 31). Konzernverbundenen Unternehmen muss die Möglichkeit des Nachweises von Maßnahmen offenstehen, die die Abgabe eigenständiger und voneinander unabhängiger Angebote gewährleisten. Der öffentliche Auftraggeber ist verpflichtet, die von den konzernverbundenen Bietern hierzu vorgebrachten Tatsachen zu prüfen. Zwar genügt prinzipiell die Feststellung eines wie auch immer gearteten Einflusses des Konzernverhältnisses auf die Angebote für deren Ausschluss vom Vergabeverfahren. Entscheidend ist jedoch die vollständige Würdigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls. So muss selbst aus der Unterzeichnung der Angebote der konzernverbundenen Bieter durch dieselbe Person nach der Rechtsprechung des EuGH nicht in allen Fällen zu schließen sein, dass die Angebote nicht unabhängig voneinander erstellt wurden (EuGH, Urteil v. 8.2.2018 -C-144/17 „Lloyd’s of London“ Rn. 39). Konzernverbundene Bieter müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass sie Maßnahmen ergreifen (und erforderlichenfalls gegenüber dem Auftraggeber nachweisen) müssen, die eine organisatorische, räumliche und technische Trennung der Angebotsprozesse gewährleisten.
Anmerkung der Redaktion
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Dr. Tobias Schneider
Der Autor Dr. Tobias Schneider ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht im Berliner Büro der Kanzlei Dentons. Er berät Unternehmen und öffentliche Auftraggeber bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen und vertritt deren Interessen in Vergabeverfahren und vor den Nachprüfungsinstanzen.
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