Ob ein Auftrag zu einer Sektorentätigkeit bestimmt ist, ist funktional und nach einheitlichen Maßstäben zu beurteilen.
§ 100 Abs. 1 Nr. 1 GWB; 3 99 Nr. 2 GWB; SektVO
Ein Wasserversorger, der zu diesem Zweck Wasser produziert, hierzu Netze betreibt und in die Netze einspeist, um Kunden mit Wasser zu beliefern, schloss eine 1-jährige Rahmenvereinbarung über die Erbringung von Postdienstleistungen im Briefversand zur Kommunikation mit den mit Trinkwasser zu versorgenden Kunden.
Der Wasserversorger war Sektorenauftraggeber im Bereich der Trinkwasserversorgung gem. § 100 Abs. 1 Nr. 1 GWB sowie gleichzeitig Auftraggeber im Sinne des § 99 Nr. 2 GWB.
Der geschätzte Auftragswert lag über 214 000 Euro, jedoch unterhalb von 428 000 Euro. Eine EU-weite Ausschreibung der Postdienstleistungen erfolgte nicht.
Im Zuge eines Nachprüfungsverfahrens kam die zuständige Vergabekammer zu dem Ergebnis, dass die Postdienstleistungen nicht zu einer Sektorentätigkeit, sondern durch den Wasserversorger als Auftraggeber nach § 99 Nr. 2 GWB zu vergeben seien.
Sofern ein öffentlicher Auftrag eines öffentlichen Auftraggebers im Sektorenbereich vergeben werde, so die Vergabekammer, sei gemäß § 100 Abs. 1 Nr. 1 GWB der öffentliche Auftraggeber ein Sektorenauftraggeber. Konsequenz dessen sei, dass der öffentliche Auftraggeber lediglich das insoweit privilegierende Sektorenvergaberegime und die Sektorenverordnung zu beachten habe. Vor dem Hintergrund größtmöglichen Wettbewerbs müsse die Janusköpfigkeit der §§ 100 ff. GWB berücksichtigt werden. So solle der private Akteur, der auf Grund seiner Sektorentätigkeit in einem äußerst eng umgrenzten Feld tätig ist, in seiner daraus resultierenden Auswahl- und Durchsetzungsmacht bei Vertragsschlüssen mit Dritten eingehegt werden. Andererseits solle die öffentliche Hand nur ausnahmsweise die Privilegierung einer Sektorenvergabe genießen dürfen, sodass eine restriktive Betrachtung geboten sei.
Des Weiteren erachtete die Vergabekammer die Laufzeit der Rahmenvereinbarung von lediglich einem Jahr als unzulässig. Sie sah hierin einen Verstoß gegen § 3 Absatz 2 VgV, der eine Unterteilung einer Auftragsvergabe in der Absicht, die Bestimmungen des Vergaberechts zu umgehen, sanktioniert.
Das OLG Düsseldorf verwarf die Entscheidung der Vergabekammer als unzulässig (!) und ordnete die Vergabe der Postdienstleistungen als Vergabe zu einer Sektorentätigkeit ein.
Auch die Laufzeit der Rahmenvereinbarung von einem Jahr sei nicht zu beanstanden. Einen Verstoß gegen das Umgehungsverbot im Rahmen der Auftragswertschätzung sah das Gericht nicht. Vergaberechtliche Grenzen, denen der Auftraggeber im Interesse einer Öffnung des Beschaffungsmarktes der öffentlichen Hand unterliegt, bestünden nur in Hinblick auf die Höchstdauer. Eine Untergrenze sei weder in der SektVO noch der VgV festgelegt.
Ausgehend von der doppelten Auftraggebereigenschaft des Wasserversorgers (öffentlicher Auftraggeber gem. § 99 Nr. 2 GWB – Sektorenauftraggeber gem. § 100 Abs. 1 Nr. 1 GWB) hatte das OLG darüber zu entscheiden, ob die Postdienstleistungen zum Zweck einer Sektorentätigkeit bestimmt oder nach § 99 Nr. 2 GWB klassisch zu vergeben war.
Eine weitere Problemstellung ergab sich aus der vorgesehenen Vertragslaufzeit der Rahmenvereinbarung von lediglich 12 Monaten. Zu beantworten war die Frage, ob die Vertragsdauer in der Absicht gewählt wurde, eine EU-weite Ausschreibung zu vermeiden.
Die Frage der Zweckbestimmtheit eines Auftrags zu einer Sektorentätigkeit wird uneinheitlich behandelt. So wird teilweise eine vergaberechtliche Bindung nur bei Konnexität des jeweiligen Auftrags mit der Versorgungstätigkeit angenommen. Dabei reiche eine mittelbare Förderung der Sektorentätigkeit aus. Es müsse nur eine kausale Verknüpfung des Auftragsgegenstandes mit der Sektorentätigkeit vorliegen (Marx, in: Münchener Kommentar, §§ 136, 137 GWB, Rn 3). Erforderlich sei eine mindestens mittelbare Förderung der Sektorentätigkeit (Wolters, in: Eschenbruch/Opitz/Röwekamp, Sektorenverordnung, § 136 GWB, Rn. 3). Eine andere Ansicht verlangt eine konkrete funktionale Verbindung des Auftrags zur Sektorentätigkeit (Bosselmann, in: Reidt/Stickler/Glahs, Vergaberecht, § 137 GWB, Rn. 10). Schließlich wird darauf hingewiesen, dass Art. 1 Abs. 2 RL 2014/25/EU verlangt, dass die Auftragsvergabe zum Zwecke einer Sektorentätigkeit bestimmt sein muss (Dietrich, in: Greb/Müller, Sektorenvergaberecht, § 136 GWB, Rn. 8 ff).
Der EuGH hatte bereits im Jahr 2008 entschieden, dass eine Auftragsvergabe dem Sektorenvergaberecht unterliegt, wenn sie der Ausübung einer Sektorentätigkeit dient. Ausreichend war, dass der Auftrag im Zusammenhang mit und für die Ausübung von Tätigkeiten in diesem Sektor vergeben wird (EuGH, Urt. v. 10. April 2008, C-393/06).
Allerdings kann der Zusammenhang zwischen dem Auftrag und der Sektorentätigkeit nicht beliebiger Art sein. Es genügt daher nicht, dass die Dienstleistungen, die Gegenstand des Auftrags sind, einen positiven Beitrag zu den Sektorentätigkeiten leisten und deren Rentabilität erhöhen. Die Auftragstätigkeiten müssen der Ausübung der Sektorentätigkeiten tatsächlich dienen, indem sie es ermöglichen, diese Tätigkeit im Hinblick auf ihre üblichen Ausübungsbedingungen angemessen zu bewerkstelligen (EuGH, Urt. v. 28. Oktober 2020, C-521/18).
In diesem Sinne argumentiert das OLG Düsseldorf, seien die streitgegenständlichen Postdienstleistungen Tätigkeiten zum Zwecke der Ausübung der Sektorentätigkeit Trinkwasserversorgung. Ein Unmittelbarkeitserfordernis sei nicht vorauszusetzen. Ohne postalische Kommunikation mit Lieferanten und Kunden sei der Betrieb eines Trinkwasserversorgungsnetzes nicht angemessen zu bewerkstelligen. Dabei stellt das OLG Düsseldorf u.a. darauf ab, dass die Erteilung und Abwicklung von Instandhaltungs- und Instandsetzungsaufträgen zumindest derzeit noch im erheblichen Umfang in analoger Form schriftlich per Brief erfolge.
Vergaberechtliche Grenzen bezüglich der Laufzeit einer Rahmenvereinbarung bestehen nur im Hinblick auf die Höchstdauer. Eine vergaberechtliche Laufzeituntergrenze besteht nicht. Vor diesem Hintergrund reiche es für die Bejahung einer Umgehung nach § 3 Abs. 2 VgV nicht aus, wenn ein Auftraggeber vom Üblichen abweiche, so das OLG Düsseldorf. Im Grundsatz sei der öffentliche Auftraggeber bei der Beschaffungsentscheidung für ein bestimmtes Produkt, eine Herkunft, ein Verfahren oder dergleichen im rechtlichen Ansatz ungebunden und weitestgehend frei. Dies gelte auch für den Zeitraum, für den er eine Rahmenvereinbarung vergibt.
Ein Verstoß gegen das Umgehungsverbot liege nur dann vor, wenn der Auftraggeber die Laufzeit bewusst begrenzt hat, um die Auftragsvergabe den Bestimmungen des Vergaberechts zu entziehen. Für das Vorliegen dieser Voraussetzung sei der Antragsteller darlegungs- und beweispflichtig. Allein die Unüblichkeit einer einjährigen Laufzeit rechtfertige jedoch nicht den Rückschluss auf eine unzulässige Umgehung. Die vom Auftraggeber vorgetragenen Gründe hätten jedenfalls hinreichend Gehalt, um der Feststellung eines Missbrauchs entgegenzustehen.
Zu Recht stellt das OLG Düsseldorf fest, dass es auf ein Unmittelbarkeitserfordernis des Auftrags zur Sektorentätigkeit nicht ankommt. Dem habe der EuGH (a.a.O) eine Absage erteilt. Konsequent hält das Gericht deshalb an seiner bisherigen Spruchpraxis fest. So hatte es schon mit Senatsbeschluss vom 21. Mai 2008, Verg 19/08, einen Auftrag zur Errichtung eines Verwaltungsgebäudes für die eigenen Mitarbeiter durch einen Sektorenauftraggeber als einen Auftrag zum Zweck der Ausübung einer Sektorentätigkeit angesehen.
Ohne auf die von der Vergabekammer erwähnte Janusköpfigkeit der §§ 100 ff. GWB einzugehen, räumt das OLG Düsseldorf gleichzeitig die diesbezügliche Argumentation der Vergabekammer (s.o.) ab, indem es konsequent einen einheitlichen Maßstab in Bezug auf die Auslegung des Merkmals Bestimmung des Auftrags zu einer Sektorentätigkeit anlegt.
Die Argumentation der Vergabekammer knüpft nämlich fälschlich an die Auftragsvergabe an und hätte zur Folge, dass das Merkmal Bestimmung zu einer Sektorentätigkeit im Falle von privaten Akteuren als Sektorenauftraggeber weit – diese sollten ja nach Auffassung der Vergabekammer eingehegt werden – und im Falle öffentlicher Akteure eng – diese seien ja durch das Sektorenvergaberecht privilegiert – auszulegen sei.
Die Anwendung des Sektorenvergaberechts wird nicht institutionell bestimmt, indem die Auftraggebereigenschaft vorliegt, oder aufgrund eines öffentlichen Auftrags ab den EU-Schwellenwerten, sondern funktional nach der im konkreten Fall mit der nachgefragten Leistung zu erfüllenden Aufgabe (Dietrich, in: Greb/Müller, Sektorenvergaberecht, § 136 GWB, Rn. 8 ff.). Es kommt also nicht auf die Frage privater oder öffentlicher Akteur an, sondern darauf, ob die Auftragsvergabe zum Zweck einer Sektorentätigkeit bestimmt ist. Zur Feststellung dieses Merkmals kann und darf nur ein einheitlicher Prüfungsmaßstab unabhängig von der Person des Akteurs gelten.
Das OLG Düsseldorf stellt auch hier zurecht fest, dass ein Vergabeverstoß nicht vorliegt. Eine Begrenzung ist ausschließlich in Bezug auf die Höchstlaufzeit der Rahmenvereinbarung vorgesehen. Wird ein Verstoß gegen das Umgehungsverbot vorgetragen, muss dieser durch den Antragsteller substanziiert vorgetragen und eine ggf. vorhandene Begründung des Auftraggebers entkräftet werden.
Ist ein Auftrag zu einer Sektorentätigkeit bestimmt, gilt ausschließlich das Sektorenvergaberecht.
Ist der Anwendungsbereich des Sektorenvergaberechts mangels Erreichens des maßgeblichen Schwellenwertes nicht eröffnet, kann Rechtsschutz nicht begehrt werden. Das klassische Vergaberecht fungiert nicht als Auffangregime!
Ob ein Auftrag zu einer Sektorentätigkeit bestimmt ist oder nicht, ist anhand einer funktionalen Betrachtung zu entscheiden. Es kommt nach der Rechtsprechung des EuGH darauf an, das der zu vergebende Auftrag es ermöglicht, die Sektorentätigkeit im Hinblick auf ihre üblichen Ausübungsbedingungen angemessen zu bewerkstelligen. Ein Unmittelbarkeitserfordernis wird nicht verlangt. Ebenso wenig ist dabei die Frage privater oder öffentlicher Akteur oder Privilegierung öffentlicher Auftraggeber von Relevanz.
Die Laufzeitbegrenzung einer Rahmenvereinbarung stellt nur dann einen Verstoß gegen das Umgehungsverbot des § 3 Abs. 2 VgV dar, wenn sie bewusst gewählt wurde, um den Auftrag dem Vergaberecht zu entziehen. Das Vorliegen dieser Voraussetzung ist vom Antragsteller darzulegen und zu beweisen. Haben vorliegende sachliche Gründe hinreichend Gehalt für eine Laufzeitbegrenzung steht dies der Annahme einer Umgehung entgegen.
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Der Autor Hans-Peter Müller war über 20 Jahre im für die VO PR Nr. 30/53 federführenden Bundesministerium für Wirtschaft und Energie für deren Inhalt und Anwendung zuständig. Zudem wirkte er maßgeblich im Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien 2004 und 2014 in nationales Recht mit. Er ist Mitherausgeber des Standardkommentars „Ebisch/Gottschalk/Hoffjan/Müller“ zum Preisrecht und er fungierte im April 2016 als Sachverständiger des Bundes vor dem zuständigen Senat des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen eines Verwaltungsstreitverfahrens zum Preisrecht bei öffentlichen Aufträgen. Mittlerweile ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Kunz Rechtsanwälte, Koblenz/Mainz.
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