Mit zunehmenden Erwartungen an Verfahrensbeschleunigung, Verfahrenserleichterungen und Rationalisierung, bewegt sich die deutsche Gerichtsbarkeit nicht zuletzt durch elektronische Postfächer, eAkten und Videoverhandlungen immer stärkerer in Richtung Digitalisierung. Vor diesem Hintergrund stellen sich regelmäßig rechtliche Umsetzungsfragen. Können in der vergaberechtlichen Nachprüfung solche Erwägungen auch für die Arbeit der Vergabekammern angestellt werden, um bei hohen Arbeitsbelastungen schneller, einfacher und digitaler Entscheidungen treffen zu können?
I. Ausgangslage
Gemäß § 156 Abs. 1, 2 GWB nehmen Vergabekammern die Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen des Bundes bzw. der Länder wahr. Insbesondere Rechte aus § 97 Abs. 6 GWB können nur vor den Vergabekammern und dem Beschwerdegericht geltend gemacht werden. Die Vergabekammern entscheiden nach Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens durch Beschlüsse. Diese stellen gemäß § 168 Abs. 3 S. 1 GWB Verwaltungsakte dar. Wenngleich die Vergabekammern gerichtsähnlich tätig werden, sind sie dennoch der Verwaltung zuzuordnen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die interessante Frage, ob auf Beschlüsse der Vergabekammern die Regelungen der §§ 35, 35a VwVfG Anwendung finden können, die es unter Umständen erlauben, diese Beschlüsse zumindest in Teilbereichen vollständig durch automatisierte Einrichtungen zu erlassen. Zugegebenermaßen erscheint diese Vorstellung unter Berücksichtigung der doch eher schleppenden Digitalisierung in Deutschland auf den ersten Blick zwar zumindest zweifelhaft bis utopisch. Dennoch bleibt die Frage, ob eine automatisierte Nachprüfung rechtlich mit § 35a VwVfG vereinbar wäre.
II . Entscheidungsform der Vergabekammer
Entscheidungen der Vergabekammern ergehen gemäß § 168 Abs. 3 S. 1 GWB durch Verwaltungsakt. Das hat den Hintergrund, dass die Vergabekammer kein Gericht, sondern eine Verwaltungsbehörde ist. Das Nachprüfungsverfahren ist kein Gerichtsverfahren, sondern lediglich ein gerichtsähnlich ausgestaltetes Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG. Die logische Folge ist daher, dass die, ein Nachprüfungsverfahren abschließende Entscheidung, als Verwaltungsakt nach § 35 VwVfG ergeht. Unter den Begriff der Entscheidung fällt jedoch nur die das Nachprüfungsverfahren abschließende Entscheidung der Vergabekammer, folglich der Beschluss (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 12.05.2011, Verg 32/11; Antweiler, in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, § 168 GWB, Rn. 72f.). Das gilt auch für Fortsetzungsfeststellungsentscheidungen und Verfahrenseinstellungen (Fett, in: MüKo, Wettbewerbsrecht, § 168 GWB, Rn. 70).
Bei der Tätigkeit der Vergabekammer handelt es sich wie bei der Tätigkeit der Kartellbehörden um Rechtspflegetätigkeit. Die Vorschriften des GWB, die das Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer als Rechtsbehelfsverfahren regeln, sind öffentlich-rechtlicher Natur. Es gelten daher, soweit das GWB keine spezielleren Bestimmungen trifft, die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder, nach denen der Verwaltungsakt übereinstimmend definiert wird als „jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist“ (Dreher, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, § 168 GWB, Rn. 63).
III. Vollautomatisierte Verwaltungsakte nach § 35a VwVfG
Zunächst losgelöst von der Frage der Anwendbarkeit auf Nachprüfungsverfahren, kann gemäß § 35a VwVfG ein Verwaltungsakt (in einem „gewöhnlichen“ Verwaltungsverfahren nach dem VwVfG) „vollständig durch automatisierte Einrichtungen erlassen werden, sofern dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist und weder ein Ermessen noch ein Beurteilungsspielraum besteht.“
Die Vorschrift stellt zunächst klar, dass es sich bei solchen vollautomatisierten Verwaltungsakten auch um Verwaltungsakte handelt, was sonst mangels menschlicher Willensbetätigung wegen der Begriffsbestimmung in § 35 VwVfG fraglich sein könnte (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 1).
Die Frage ist eingangs, welche Voraussetzungen an die Zulässigkeit des Erlasses eines vollautomatisierten Verwaltungsakts im Einzelnen zu stellen sind, um im zweiten Schritt die Anwendbarkeit auf Vergabekammer-Beschlüsse zu beleuchten.
1. „Vollautomatisierte Einrichtungen“
Gemeint ist jeweils die Verwendung technischer Einrichtungen, die nach vorher festgelegten Parametern autonom, das heißt ohne weiteres menschliches Einwirken, funktionieren. In der Regel handelt es sich um EDV-Anlagen; die Vorschrift ist aber technikoffen und enthält in Hinblick auf den Aufbau und die Funktionsweise solcher automatischen Einrichtungen keine weiteren Vorgaben oder Einschränkungen. Auch wenn von Verwaltungsbediensteten die zum ordnungsgemäßen Betrieb erforderlichen Maßnahmen zur Einrichtung, Kontrolle und Fehlerkorrektur ausgeführt werden, ändert das nichts am Charakter einer automatischen Einrichtung iSd. Vorschrift (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 5).
Voraussetzung für einen vollautomatischen VA-Erlass ist nicht, dass alle entscheidungserheblichen Daten bereits bei der Verwaltung vorliegen. Auch wenn diese – etwa im Antragsverfahren vom Antragsteller – von außen in das Verfahren eingespeist werden, ist eine vollständig automatisierte Bearbeitung iSd. § 35a VwVfG möglich. Entscheidend ist das Fehlen einer personellen Bearbeitung bei allen Verfahrensschritten innerhalb der Verwaltung (Ziekow, in Ziekow: VwVfG, § 35a Rn. 6; Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 6).
Nach seinem Wortlaut regelt § 35a VwVfG zwar den „vollständig automatisierten Erlass“ von Verwaltungsakten und schließt damit deren Bekanntgabe ein. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift kann aber eine nicht-automatisierte Bekanntgabe eines im Übrigen vollautomatisch erstellten Verwaltungsakts nicht dazu führen, § 35a VwVfG nicht anzuwenden. Gesetzesvorbehalt und die Beschränkung auf gebundene Entscheidung können nicht etwa umgangen werden, wenn ein vollautomatisch erstellter Verwaltungsakt z. B. per Boten bekanntgegeben wird (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 3).
2. „durch Rechtsvorschrift zugelassen“
Verwaltungsakte dürfen im Anwendungsbereich des VwVfG nur dann in einem vollständig automatisierten Verfahren erlassen werden, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen wird. Es bedarf somit einer Ermächtigung durch Gesetz oder Verordnung. (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 11). Mit dem Rechtsvorschriftenvorbehalt wollte der Gesetzgeber die Auswahl der für die automatisierte Entscheidung geeigneten Verfahren dem Normgeber vorbehalten. Die normvollziehende Verwaltungsstelle soll dies nicht eigenmächtig im Verwaltungsverfahren entscheiden dürfen (Glaesner/Leymann, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, Rn. 11). Der Gesetzesvorbehalt trägt auch dem grundsätzliches Verbot Rechnung, jemanden einer im vollständig automatisierten Verfahren ergehenden Entscheidung mit Rechtswirkung zu unterwerfen (vgl. Art. 22 Abs. 1 DS-GVO).
Das Fehlen der nach § 35a erforderlichen Ermächtigung, den Bescheid in einem vollständig automatisierten Verfahren zu erlassen, führt zur Rechtswidrigkeit aber für sich genommen nicht zur Nichtigkeit (OVG Münster, Beschluss v. 10.12.2021, 2 A 51/21).
3. „weder Ermessen noch Beurteilungsspielraum“
Der vollständig automatisierte Erlass ist ausgeschlossen, wenn das anzuwendende Recht Entscheidungsspielräume vorsieht (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 1). Ein vollständig automatisierter VA-Erlass kommt nur bei gebundenen Entscheidungen in Frage. Nur bei diesen ist ein vollständiger Verzicht auf eine personelle Bearbeitung vertretbar, weil eine eindeutige Zuordnung von Rechtsfolge zu dem festgestellten Sachverhalt möglich ist.
Sowohl die Ausübung eines Ermessens als auch die Ausfüllung eines Beurteilungsspielraums erfordern dagegen eine individuelle Abwägung und Willensbetätigung. Der Ausschluss bezieht sich ausdrücklich nur auf Ermessensentscheidungen und Verfahren, in denen ein Beurteilungsspielraum besteht, also auf Verfahren, in denen gerichtlich nur beschränkt überprüfbare Entscheidungen möglich sind. Aber auch der Vollzug von Vorschriften mit schwierig auszufüllenden unbestimmten Rechtsbegriffen kann zum Ausschluss eines vollautomatisierten Verfahrens führen (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 13). Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Ausübung dieser Spielräume eine menschliche Willensbildung voraussetzt, die nicht im automatisieren Verfahren nachgebildet werden kann und selbst bei fortschreitender Technik daher nur bei gebundenen Entscheidungen zulässig ist (Begrenzungsfunktion; BT-Drs. 18/8434, S. 122).
IV. Vor- und Nachteile von vollautomatisierten Vergabekammer-Beschlüssen
Der Einsatz automatischer Einrichtungen dient der Verfahrensbeschleunigung, Ressourceneinsparung und Kostenreduzierung. Vor allem einfach strukturierte Verfahren können so mit geringerem Aufwand schnell erledigt werden.
Überdies ermöglicht sie neutrale, objektive und gleichheitswahrende Entscheidung sowie die Vermeidung menschlicher Flüchtigkeitsfehler und Fehleinschätzungen ohne Befangenheits-Problematik. (BT-Drs. 18/8434, 122; Guckelberger, in: FS Herberger, 397 (403 f.).
Automatisierung führt aber zwangsläufig zu Schematisierung. Individuelle Fallkonstellationen können von einem schematischen Prüfraster nur berücksichtigt werden, wenn sie bei der Einrichtung des jeweiligen Systems antizipiert werden konnten. Automatisierung birgt somit die Gefahr, dass bei vom Prüfschema abweichenden, nicht vorhergesehenen Fallgestaltungen rechtswidrige Verwaltungsakte erlassen werden.
Mit der § 35a flankierenden Ergänzung in § 24 VwVfG wird deshalb klargestellt, dass für den Einzelfall bedeutsame tatsächliche Angaben des Betroffenen auch bei vollautomatisierten Verfahren berücksichtigt werden müssen. Bei individuellem Vortrag muss demnach eine Aussteuerung und eine weitere Bearbeitung außerhalb des automatisierten Verfahrens möglich sein (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 18). Durch das Korrektiv des § 24 Abs. 1 S. 3 VwVfG in Ergänzung zu § 163 GWB im Hinblick auf den Untersuchungsgrundsatz wäre dies jedoch bei vollautomatisierten Beschlüssen sichergestellt.
Neben der Gefahr von Einschränkungen von Verfahrensrechten der Betroffenen und negativen Folgen einer Schematisierung für die Adressaten ergeben sich auch Risiken für Verwaltung und Gesetzgeber. Eines liegt im Steuerungsaufwand vor allem komplexer Systeme. Er kann dazu führen, dass Rechtsänderungen oder erforderliche Reaktionen auf Rechtsprechung oder aufsichtliche Weisungen nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung vollzogen werden können. Im Extremfall kann das dazu führen, dass die betroffene Verwaltung zeitweise handlungsunfähig wird, wenn sie nicht wissentlich falsche und damit rechtswidrige Ergebnisse produzieren will. Wo im herkömmlichen Verfahren häufig ein schnelles Umsteuern per Weisung möglich ist, bedarf es bei automatisierten Verfahren unter Umständen einer zeitaufwändigen Umprogrammierung und anschließender Probeläufe, bevor ein ordnungsgemäßer Gesetzesvollzug wieder gewährleistet ist (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 20f.).
V. Anwendbarkeit von § 35a VwVfG auf Entscheidungen der Vergabekammer iSd. § 168 Abs. 3 S. 1 GWB?
Unter Berücksichtigung oben genannter Vor- und Nachteile sowie rechtlicher Grundlagen, wird daher die interessante Frage aufgeworfen, ob der Beschluss einer Vergabekammer, der gemäß § 168 Abs. 3 S. 1 GWB in Verwaltungsaktform ergeht, im Wege des vollautomatisierten Erlasses iSd. § 35a VwVfG ergehen kann, weil dieser eine solche Möglichkeit für Verwaltungsakte verwaltungsverfahrensrechtlich vorsieht.
Die Möglichkeit eines vollautomatisierten Erlasses eines Beschlusses durch die Vergabekammer ist zumindest ausdrücklich oder konkret nicht aus den vorhandenen EU-Richtlinien, Vergabegesetzen oder Vergabeordnungen ersichtlich. Auch aus der Systematik oder Historie der vergaberechtlichen Rechtsgrundlagen ist, insbesondere vor dem Hintergrund der immer noch schleppend fortschreitenden Digitalisierung, nicht erkennbar, dass der Richtliniengeber bzw. Gesetzgeber eine Vollautomatisierung des Erlasses von Vergabekammer-Beschlüssen offensichtlich im Blick hatte.
Vielmehr ist § 35a VwVfG für das „gewöhnliche“ Verwaltungsverfahren geschaffen worden, das im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit ihren Instanzen einer Überprüfung auf Rechtmäßigkeit unterzogen werden kann. Aus der Gesetzesbegründung zu § 35a VwVfG kann nicht herausgelesen werden, dass dieser mit Blick auf ein vergaberechtliches Spezialrechtsschutzverfahren für Nachprüfungen auf Vergabeverstöße vor den Vergabekammern als Ausfluss der Rechtsmittelrichtlinie gestaltet wurde.
§§ 1, 2 VwVfG erfassen den Anwendungsbereich auch für § 35a VwVfG aber für jede öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden des Bundes und der Länder, soweit nicht Rechtsvorschriften des Bundes inhaltsgleiche oder entgegenstehende Bestimmungen enthalten. Solche sind im Hinblick auf einen vollautomatisierten Erlass von Beschlüssen einer Vergabekammer nicht ersichtlich. Analogie-Erwägungen benötigt es für die Anwendung im Nachprüfungsverfahren dennoch nicht zwingend, weil der Vergabekammer-Beschluss bereits die Qualität eines Verwaltungsakts hat und die Vergaberegelungen keine spezielleren Vorgaben vorhalten.
Es besteht insbesondere in der Rechtsprechung und vergaberechtlichen Literatur weitgehend Einigkeit darüber, dass eine Mehrzahl von Regelungen des VwVfG im Nachprüfungsverfahren Anwendung findet, gerade, weil dieses durch die zwar gerichtsähnliche, aber doch der Verwaltung zugeordnete Vergabekammer durchgeführt wird. Für die Entscheidung der Vergabekammer gelten deshalb ergänzend die Vorschriften des VwVfG des Bundes bzw. des jeweiligen Landes, soweit Teil 4 des GWB keine speziellen Regelungen trifft. Anwendung finden z. B. die Vorschriften über die Anhörung der Beteiligten (§ 28 VwVfG), die hinreichende Bestimmtheit (§ 37 Abs. 1 VwVfG) und die Nichtigkeit (§ 44 VwVfG) von Verwaltungsakten.
Die Vergabekammer ist aber nicht befugt, eine getroffene Entscheidung nach den §§ 48, 49 VwVfG zurückzunehmen oder zu widerrufen (a.A. VK Niedersachsen, Beschluss vom 05.06.2014, VgK-13/2014). Denn aus den Vorschriften des Teils 4 des GWB über die sofortige Beschwerde (§§ 171 ff.) folgt, dass die Entscheidung der Vergabekammer nicht von dieser selbst aufgehoben werden kann, sondern ausschließlich vom Oberlandesgericht, und zwar nur unter der Voraussetzung, dass einer der Beteiligten fristgerecht sofortige Beschwerde eingelegt hat (Antweiler, in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, § 168 GWB, Rn. 73; Prell, in: BeckOK, § 168 GWB, Rn. 60; Dreher, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, § 168 GWB, Rn. 63; Fett, in: MüKo, Wettbewerbsrecht, § 168 GWB, Rn. 70, 71; Nowak, in: Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, § 168 GWB, Rn, 42; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 12.05.2011, Verg 32/11).
§ 24 Abs. 1 S. 3 VwVfG zum Untersuchungsgrundsatz im Verwaltungsverfahren stellt zusätzlich beim Erlass vollständig automatisierter Verwaltungsakte sicher, dass für den Einzelfall bedeutsame Angaben der Beteiligten Berücksichtigung finden, die im automatischen Verfahren nicht ermittelt würden. Da § 163 GWB zum Untersuchungsgrundsatz im Nachprüfungsverfahren diesen Zusatz nicht enthält, kann § 24 Abs. 1 S. 3 VwVfG nach Ansicht des Autors im Nachprüfungsverfahren auch ergänzend herangezogen werden. Daher könnte auch im Rahmen der Entscheidungsfindung der Vergabekammer zum Schutz der Betroffenen vor dem Beschluss eine Aussteuerung derjenigen Fälle erfolgen, die eben eine individuelle Beurteilung erfordern, weil sie Beurteilungs- oder Ermessensspielräume betreffen.
Dennoch ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber zugleich in der Gesetzesbegründung klargestellt, dass eine Klage gegen Entscheidungen der Vergabekammer vor den Verwaltungsgerichten ausgeschlossen ist (Steck, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, Rn. 48). Obwohl also der Beschluss der Vergabekammer Verwaltungsakt-Qualität aufweist, wird statt den Verwaltungsgerichten den Vergabekammern die Beachtung der verwaltungsverfahrensrechtlichen Regelungen zugewiesen. Das könnte beim vollautomatisierten Erlass eines Beschlusses durch die Vergabekammer als Verwaltungsakt dazu führen, dass in zweiter Instanz der Vergabesenat bei einem Oberlandesgericht über die Beachtung der Voraussetzungen des § 35a VwVfG und damit als Zivilgericht über verwaltungsrechtliche Materie zu befinden hat, dessen Nichtbeachtung sogar zur Rechtswidrigkeit des Vergabekammer-Beschlusses führen könnte. Da jedoch jedes Gericht und jede Behörde grundsätzlich auch im Rahmen einer inzidenten Prüfung Rechtsnormen zu prüfen hat, die unter Umständen nicht in ihren „ureigenen Rechtsbereich“ fallen, dürfte dies zumindest keinen Grund darstellen, die Anwendung des § 35a VwVfG auf das Nachprüfungsverfahren zu versagen.
Unter der Prämisse, dass der Gesetzgeber eine die Vollautomatisierung in Nachprüfungsverfahren legitimierende Rechtsvorschrift schafft, sind Beschlüsse durch vollautomatisierte Einrichtungen rechtlich denkbar; derzeit jedoch lediglich in Teilbereichen bzw. Teilaspekten, die sich auf gebundene Entscheidungen ohne Ermessens- und Beurteilungsspielräume beziehen. Komplexe Rechtsfindung durch die Vergabekammer, die das Ausfüllen von unbestimmten vergaberechtlichen Rechtsbegriffen, Beurteilungsspielräume sowie die Ausübung von Vorschriften, die Ermessen einräumen, betreffen, wird durch solche vollautomatisierten Einrichtungen zumindest in naher Zukunft zweifellos nicht ersetzt.
Man stelle sich aber vor, eine KI-gestützte Software könnte den über ein elektronisches Postfach eingehenden Nachprüfungsantrag auslesen, in Kenntnis der jeweils aktuell geltenden EU-Schwellenwerte den geschätzten Netto-Auftragswert des streitgegenständlichen Auftrags herausfiltern und damit unmittelbar einen vollautomatisierten zurückweisenden Beschluss fassen, weil der Nachprüfungsantrag wegen Unterschreitung der EU-Schwellenwerte mangels Zuständigkeit der Vergabekammer offensichtlich unzulässig ist. Es müsste kein unnötiges Zuschlagsverbot ergehen. Das Vergabeverfahren würde sich nicht verzögern. Die Vergabekammer wäre in solchen, auch wenn zunächst schlichten Fällen, entlastet.
VI. Fazit
Die Anwendung des § 35a VwVfG auf Vergabekammer-Beschlüsse als Verwaltungsakte ist in Zukunft, soweit die grundlegenden Voraussetzungen wie insbesondere ermächtigende Rechtsvorschriften vom Gesetzgeber geschaffen werden, in Teilbereichen gar nicht so abwegig. Es wird aber bei unverändertem § 35a VwVfG dabei bleiben müssen, dass die Anwendung lediglich diejenigen Konstellationen betrifft, in denen Ermessen- und Beurteilungsspielräume nicht vorhanden sind, sondern eine gebundene Entscheidung ergehen kann. Betrifft ein Nachprüfungsverfahren erstere, wird eine Aussteuerung erfolgen müssen, die den Spielräumen durch menschliche Willensbetätigung Rechnung trägt, sodass in diesen Fällen kein vollautomatisierter Beschluss erfolgen kann. Angesichts des rasanten Fortschritts bei der Entwicklung intelligenter Algorithmen und dem bestehenden Rationalisierungsdruck scheint jedoch eine Fortentwicklung in Zukunft nicht ausgeschlossen (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 14). Insoweit beachte man bereits die Möglichkeiten, die sich durch künstliche Intelligenz bieten wie im Falle von ChatGPT. Die Zukunft wird insoweit eine Antwort bringen.
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Michael Pilarski
Der Autor Michael Pilarski ist als Volljurist bei der Investitions- und Förderbank des Landes Niedersachsen – NBank – in Hannover tätig. Als Prüfer, insbesondere der Vergaberechtsstelle, lag sein Schwerpunkt mehrere Jahre in den Bereichen Zuwendungs- und Vergaberecht. Er hat die Einhaltung des Zuwendungs- und Vergaberechts durch private und öffentliche Auftraggeber, die Förderungen aus öffentlichen Mitteln erhalten, geprüft und Zuwendungsempfänger bei zuwendungs- und vergaberechtlichen Fragestellungen begleitet. Nunmehr ist er in der Rechtsabteilung der NBank in den Bereichen Vergabe-, Vertrags- sowie Auslagerungsmanagement beschäftigt. Darüber hinaus sitzt er der Vergabekammer Niedersachsen beim Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr in Lüneburg bei, ist zugelassener Rechtsanwalt und übernimmt Referententätigkeiten sowie Schulungen im Zuwendungs- und Vergaberecht.
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