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Open-House: „Ausschreibungsverbot“ für öffentliche Auftraggeber bei der Leistungserbringung im Sozialrecht? (BSG, Urt. v. 17.05.2023 – B8SO 12/22 R)

EntscheidungIm Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage in analoger Anwendung des § 131 Abs 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hatte das Bundessozialgericht darüber zu entscheiden, ob die Ausschreibung für Integrationshelfer an Schulen für Kinder mit Behinderung gemäß den §§ 97 ff. des GWB rechtmäßig war.

Sachverhalt

Die Beklagte schrieb im Jahr 2013 erstmalig, sowie nach zwischenzeitlicher Zurücknahme im Jahr 2016 erneut Leistungen des Einsatzes von Integrationshelfern an Schulen in Düsseldorf öffentlich aus. Die Kläger, bisherige Leistungserbringer von Integrationshilfen, gaben nach gescheiterten Vergütungsverhandlungen in 2011 kein Gebot auf die 2013 und 2016 von der Beklagten ausgeschriebene Dienstleistung ab. Die Vergabe ging nach Ermittlung der wirtschaftlichsten Angebote anhand von Zuschlagskriterien (70% Preis und 30% Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung) an zwei andere Organisationen, die bis zum Schuljahr 2020/2021 nahezu alle derartigen Integrationshelfer-Leistungen im Stadtgebiet erbrachten.

Die Kläger wandten sich zunächst an die Vergabekammer Rheinland, um den Fortgang des Ausschreibungsverfahrens zu unterbinden. Die Vergabekammer vertrat die Auffassung, dass sozialhilferechtliche Bestimmungen der Durchführung des Vergabeverfahrens nicht entgegenstünden. Die von einem der Kläger dagegen eingelegte sofortige Beschwerde wies das OLG Düsseldorf zurück (Az.: Aktenzeichen VII Verg 38/14). Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Vergaberechts lägen aufgrund der Eigenschaft der Beklagten als öffentlicher Auftraggeberin sowie der geplanten Vergabe des Vertrages über den Einsatz von Integrationshelfern als öffentlichem Auftrag unter gleichzeitiger Erreichung des Schwellenwertes vor.

Der Kläger machte daraufhin ein Verfahren vor dem SG Düsseldorf anhängig.

Nach Zurückweisung der Klage durch das SG Düsseldorf stellte das Landessozialgericht (LSG) NRW die Rechtswidrigkeit der Durchführung des mittlerweile beendeten Vergabeverfahrens sowie der Zuschlagserteilung durch die Beklagte fest (Urteil vom 23.3.2022). Das LSG NRW argumentierte mit der grundsätzlichen Ausgestaltung der Leistungserbringung gemäß §§ 75 ff SGB XII und des daraus resultierenden Vorrangs des sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses. Aus diesem ergebe sich die Nichtanwendbarkeit des europäischen Vergaberechts.

Die Entscheidung

Der Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat die Revision zurückgewiesen.

Nach der EuGH-Rechtsprechung finde der in §§ 97 ff. GWB umgesetzte Grundsatz des Vergabezwangs öffentlicher Aufträge und Konzessionen keine Anwendung auf einfache Zulassungssysteme, im Rahmen derer keine Auswahlentscheidung des öffentlichen Auftraggebers erfolgt („Open-House Verfahren“, siehe Vergabeblog.de vom 12/06/2023, Nr. 53567).

Ein solches „Open-House-Verfahren“ ist immer dann gegeben, wenn die aufgestellten Anforderungen des Auftraggebers keine Zuschlagskriterien darstellen (also solche, die der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots dienen), sondern die Erfahrung, Ausstattung, Zertifizierung oder die Zulassung der Leistungserbringer betreffen und während der gesamten Laufzeit des Vertragssystems mit sämtlichen geeigneten Marktteilnehmern, welche die erfragten Leistungen zu den festgelegten Bedingungen erbringen, ein Vertrag geschlossen wird.

Die Vergabe im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis sei demzufolge nicht grundsätzlich von der Vergabepflicht ausgenommen, vielmehr sei eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, ob der Leistungsträger eine Auswahlentscheidung trifft.

Bei den §§ 75 ff. SGB XII bzw. seit dem 01.01.2018 den §§ 123 ff. SGB IX seien alle Wirtschaftsteilnehmer, die gewisse Voraussetzungen erfüllen, zur Wahrnehmung einer gewissen Aufgabe ohne Selektivität  berechtigt. Es handele sich dabei somit um ein einfaches Zulassungssystem, bei dem keine Auswahlentscheidung stattfinde, weshalb kein Vergabezwang gemäß §§ 97 ff. GWB bestehe.

In den Fällen, in denen kein Zwang zur Anwendung des Vergaberechts gegeben ist, bestehe für die Auftraggeber nach sozialrechtlichen Maßstäben allerdings auch keine Berechtigung, ein Vergabeverfahren durchzuführen. Der Durchführung eines Vergabeverfahrens stünde das in SGB XII und SGB IX vorgesehene Versorgungssystem entgegen. Hintergrund ist die dort bestehende Pflicht des Leistungsträgers, den Leistungsanspruch der Berechtigten mittels Abschluss vertraglicher Vereinbarungen gemäß §§ 75 SGB ff. XII bzw. §§ 123 ff. SGB IX sicherzustellen. Dabei müsse eine Pluralität der Leistungserbringer erreicht werden, die dem Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten gerecht wird. Diesem widerspräche eine Beschränkung der Zahl der Leistungserbringer, welche mit einem vergaberechtlichen Zuschlag einhergeht.

Das Konzept der Leistungserbringung durch den Abschluss von Verträgen nach §§ 75 ff. SGB XII schütze auch die daran teilnehmenden Dienste, da ohne einen gleichberechtigten sowie umfassenden Zugang dieser zum Markt das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten sowie der diesem immanente Grundsatz von Angebots- und Trägervielfalt weitgehend nutzlos sei.

Da das eingliederungsrechtliche Vertragsrecht einen transparenten und gleichberechtigten Wettbewerb gewährleiste, sei eine vergaberechtliche Kontrolle nicht erforderlich.

Rechtliche Würdigung

Anders als sonst üblich möchte hier nicht der Auftraggeber das Vergaberecht umgehen, sondern das klagende Unternehmen möchte durchsetzen, das kein Vergabeverfahren durchgeführt wird. Diese auf den ersten Blick skurril wirkende Konstellation ist mit den Besonderheiten des Sozialrechts zu erklären. Ausgehend von der Ausgestaltung der Leistungserbringung nach den §§ 75 ff. SGB XII bzw. §§ 123 ff. SGB IX besteht in diesem Bereich ein Vorrang des sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses gegenüber dem Vergaberecht. Die Träger müssen in der Regel mit jedem geeigneten Leistungserbringer einen Vertrag schließen – ohne Selektion bzw. Beschränkung im Sinne einer vergaberechtlichen Auswahlentscheidung.

Der BSG stellt klar, dass in diesen Fällen eine bewusste „Flucht ins Vergaberecht“ durch den Auftraggeber unzulässig ist. Eine derartige Wahl seitens des Auftraggebers ist in der Regel wohl selten, kann sich allerdings aus dem Motiv begründen, dem Preisniveau zu entgehen, das je nach SGB mit den entsprechenden Leistungs- und Vergütungsverhandlungen zu entstehen droht (vgl. SRa 2023, 22 (31)).

Die Entscheidung ergänzt gut die neuere vergaberechtliche Rechtsprechung zu diesem Thema, die für solche Zulassungssysteme nach SGB den Vergaberechtsweg für nicht eröffnet sieht, weil es an der Vergabe eines öffentlichen Auftrages fehle (VK Bund vom 11.01.23, siehe Vergabeblog.de vom 12/06/2023, Nr. 53567).

Die Entscheidung des BSG lässt die bereits geschlossenen Verträge aus dem betreffenden Vergabeverfahren unberührt. Sie stellt im Sinne des Präjudizinteresses der Kläger die Rechtswidrigkeit des Vergabeverfahrens und des Zuschlags fest und bereitet so einen Amtshaftungsprozess vor.

Praxistipp

Die Entscheidung hindert die Auftraggeber natürlich nicht, ein solches – als Open-House gestaltetes – Verfahren dennoch öffentlich bekannt zu machen, um möglichst viele Leistungserbringer zu erreichen. Im von der VK Bund entschiedenen Fall hatte der Auftraggeber das Verfahren sogar europaweit bekannt gemacht. Es ist sicherlich auch möglich bzw. zulässig, sich bei der Gestaltung des Verfahrens an vergaberechtlichen Grundsätzen zu orientieren, solange man keine Selektion vornimmt, sondern mit allen geeigneten Leistungserbringern Verträge schließt.

Kontribution

Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Tom Pechmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kanzlei FPS Fritze Wicke, Seelig, Frankfurt am Main, verfasst.


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Über Aline Fritz

Frau Fritz ist seit 2000 im Bereich des Vergaberechts tätig und seit 2002 Rechtsanwältin bei FPS Rechtsanwälte und Notare, Frankfurt. Sie berät sowohl die öffentliche Hand bei der Erstellung von Ausschreibungen als auch Bieter in allen Phasen des Vergabeverfahrens. Frau Fritz hat umfassende Erfahrungen in der Vertretung vor diversen Vergabekammern und Vergabesenaten der OLGs. Des Weiteren hat sie bereits mehrere PPP-Projekte vergaberechtlich begleitet. Frau Fritz hält regelmäßig Vorträge und Schulungen zum Vergaberecht und hat zahlreiche vergaberechtliche Fachbeiträge veröffentlicht. Vor ihrer Tätigkeit bei FPS war Frau Fritz Leiterin der Geschäftsstelle des forum vergabe e.V. beim BDI in Berlin.

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