Die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst ermöglicht, einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz einzufordern.
§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB, Art. 10 Buchst. h Richtlinie 2014/24/EU, Art. 21 lit. h) Richtlinie 2014/25/EU, Art. 49 AEUV, Art. 56 AEUV, Art. 52 iV.m. Art 62 AEUV, § 14 Abs. 1 S. 2 HmbRDG, Art. 12 GG, Art. 3 GG
Leitsatz
§ 107 Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 GWB kann richtlinienkonform dahingehend ausgelegt werden, dass nach Bundes- oder Landesrecht anerkannte Zivil- oder Katastrophenschutzorganisationen nur dann unter den Begriff der Hilfsorganisation fallen, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Anerkennung als gemeinnützige Organisation oder Vereinigung im Sinne des Art. 10 Buchst. h der Richtlinie 2014/24/EU vorliegen müssen.
Sachverhalt
Die Hansestadt Hamburg nutzt die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Sie vergibt Leistungen des bodengebundenen Rettungsdienstes in einem „verwaltungsrechtlichen Auswahlverfahren“ außerhalb des GWB-Vergaberechts. Es dürfen nur gemeinnützige Bewerber teilnehmen, welche über die „Zustimmung zur Mitwirkung im Katastrophenschutz“ gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 HmbKatSG verfügen. Ein Auftragnehmer (bislang aufgrund der Übergangsregelung in § 35 Abs. 1 HmbRDG temporär in der Notfallrettung beteiligt) will teilnehmen, hat aber besagte Zustimmung nach dem Landeskatastrophenschutzrecht nicht und klagt erfolglos vor den Verwaltungsgerichten.
Die Entscheidung in dritter Instanz betrifft die Frage, ob Revision zuzulassen war. Das BVerwG hat dies verneint. Damit sind viele Fragen im Zusammenhang mit der Bereichsausnahme geklärt, auch in verfassungsrechtlicher Sicht.
Die Entscheidung
Das BVerwG lässt die Revision nicht zu. Die entsprechende Nichtzulassungsbeschwerde des Auftragnehmers wird zurückgewiesen.
Rechtliche Würdigung
Weder Verfahrensmängel (strittig waren Einzelheiten der Akteneinsicht die allerdings trotz Möglichkeit im Eilverfahren (!) gar nicht wahrgenommen wurde; ebenfalls Fragen des EU-Primärrechts) noch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache konnten dargelegt werden. Naturgemäß hat die Entscheidung für die Klägerin als auch für die Rettungsdienstwelt eine erhebliche Bedeutung. Allerdings kommt es vor dem BVerwG darauf an, dass eine fallübergreifende, bisher höchstrichterlich nicht beantwortete Frage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) vorliegt. Diese muss weiter entscheidungserheblich sein und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder einer Weiterentwicklung des Rechts in der Revision geklärt werden. Dies konnte der Vertreter der Klägerin nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 S. 3 VwGO genügenden Weise darlegen.
Nachfolgend beleuchten wir Einzelfragen, die das BVerwG behandelt hat. Zunächst zum EU-Primärrecht:
Den zweiten Begründungsstrang [des OVG, die Autoren], das Auswahlverfahren verstoße nicht gegen primäres Unionsrecht, hat die Klägerin nicht mit einem durchgreifenden Zulassungsgrund angegriffen. (BVerwG, Rz. 20)
a) Keine Verletzung von Primärrecht (fehlende Binnenmarktrelevanz), Rechtfertigung der Einschränkungen
Ist das Bestehen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts bereits dann (und unabhängig von den Voraussetzungen des binnenmarktrelevanten Auftrags) anzunehmen, wenn ein (Mutter-) Konzern aus einem EU-Mitgliedstaat eine Tochtergesellschaft in einem anderen EU-Mitgliedstaat nach inländischem Recht gründet, die sich ihrerseits dann im Inland auf Dienstleistungsaufträge bewirbt?“
Das OVG hat angenommen, dass an der Vergabe von Rettungsdienstleistungen kein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse bestehe. Im übrigen verstoße das Auswahlverfahren nicht gegen EU-Primärrecht s. dazu näher die Begründung des OVG, Rz. 128ff., welches auch auf den EuGH verweist: „Eine primärrechtliche Verpflichtung zur Öffnung des Teilnehmerkreises für sämtliche private Organisationen brächte mithin vorliegend die Gefahr mit sich, dass die in der Vergaberichtlinie ausdrückliche vorgenommene Herausnahme derartiger Aufträge aus dem Pflichtenkatalog der Vergaberichtlinie jegliche praktische Wirksamkeit verlöre“. (OVG, Rz. 130)
Ebenfalls zeigte das OVG auf, dass das Erfordernis der Mitwirkung im Katastrophenschutz der Freien und Hansestadt Hamburg mit primärem Unionsrecht vereinbar sei.
Die insoweit betroffenen Grundfreiheiten seien „aus einem nach Art. 52 AEUV i.V.m. Art. 62 AEUV unionsrechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt“ worden. Der Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ermöglichen es nach ständiger Rechtsprechung wie im nationalen Verfassungsrecht, diese Freiheiten zu begrenzen. (OVG, Rz. 133)
Die begrenzende landesrechtliche Regelung im HmbKatSG soll „durch eine Verzahnung von Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz das Schutzniveau auch bei der Bewältigung von Großschadenslagen und Katastrophen hochhalten“ und „damit insgesamt ein hohes Gesundheitsschutzniveau“ sicherstellen. (OVG, Rz. 133)
Eine landesrechtliche Konkretisierung und damit ein konkreter Mehrwert für den Bevölkerungsschutz ist definitiv umsetzbar, was das BVerwG nochmals bestätigt hat.
b) Nationale Umsetzung der Bereichsausnahme ist EU-rechtskonform
In diversen Kontexten (Klagen, Nachprüfungsanträge, Vertragsverletzungsverfahren der Kommission INFR(2018)2272) wurde die nationale Umsetzung der Bereichsausnahme in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB (bislang zu Recht erfolglos) kritisiert. Insbesondere die nationale deutsche Ergänzung im zweiten Halbsatz wurde angegriffen: „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne dieser Nummer sind insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind“.
Insofern stellte die Klägerin die folgende Frage:
„Steht Art. 10 lit. h) RL 2014/24/EU einer Regelung wie in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB, § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 HmbRDG i. V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 HmbKatSG entgegen, die ein Auswahlverfahren auf gemeinnützige Organisationen beschränken will, die mit Zustimmung eines Bundeslandes (hier: der Freien und Hansestadt Hamburg) im Katastrophenschutz vor Ort mitwirken, obwohl die Mitwirkung im Katastrophenschutz im nationalen Recht nicht davon abhängt, dass keine Gewinnerzielungsabsicht vorliegt, weil diese Organisationen damit nicht ‚gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen‘ i. S. d. RL 2014/24/EU sind“?
und
„Sind die Art. 10 lit. h) Richtlinie 2014/24/EU, Art. 21 lit. h) Richtlinie 2014/25/EU und Art. 10 Abs. 8 lit. g) Richtlinie 2014/23/EU dahingehend auszulegen, dass § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB unionsrechtswidrig und damit unanwendbar ist?“
Das BVerwG stellt klar, dass § 107 Abs. 1 Nr. 4 den Wortlaut der Regelung auf EU-Ebene im GWB wiederholt. Es verweist auf den EuGH. Dieser „hat außerdem entschieden, dass Organisationen oder Vereinigungen, deren Ziel in der Erfüllung sozialer Aufgaben besteht, die nicht erwerbswirtschaftlich tätig sind und die etwaige Gewinne reinvestieren, um das Ziel der Organisation oder Vereinigung zu erreichen, unter den Begriff der gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen im Sinne des Art. 10 Buchst. h der RL 2014/24/EU fallen (EuGH, Urteile vom 21.03.2019 – C-465/17 – juris Rn. 59 und vom 07.07.2022 – C -213/21 – a. a. O. Rn. 34)“. (BVerwG, Rz 43).
Die Frage geht formalistisch an der bundesdeutschen Realität vorbei: Alle Hilfsorganisationen (inzwischen auch diverse private Rettungsdienst-Unternehmen – zur Flucht in die Gemeinnützigkeit s.a. Kieselmann/Pajunk, NZBau 2021, 174-177 zu OLG Hamburg, B. v. 16.04.2020, 1 Verg 02-20) sind gemeinnützig. Denkbar wäre allenfalls eine Diskrepanz zwischen nationalem und EU-Recht in den Mitgliedsstaaten, in welchen es möglicherweise nicht gemeinnützige Hilfsorganisationen gibt. Das betrifft aber nicht den vorliegenden Fall.
Somit kommt das BVerwG zum folgenden Schluss: „mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Normauslegung sei die Frage, ob § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB mit Art. 10 Buchst. h der Richtlinie 2014/24/EU im Einklang steht, eindeutig zu bejahen“. (BVerwG, Rz 44).
Damit ist klar, dass gemeinnützige Organisationen wie die bundesweit tätigen Hilfsorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland der Bereichsausnahme unterfallen. Ob rein formal gemeinnützige Organisationen oder Unternehmen ohne einen wirklichen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz (Ehrenamt) auch unter diese Regelung fallen, wird sich in der Spruchpraxis zeigen. Die Zielrichtung der Bereichsausnahme zeigt, dass nur dieser konkrete Mehrwert für den Bevölkerungsschutz über die Herausnahme aus dem GWB-Vergaberecht belohnt werden soll.
Ebenfalls wurden weitere Fragen zu einer unterstellten Unionsrechtswidrigkeit (z.B. zu einem Privileg (Monopol) von ‚anerkannten‘ Hilfsorganisationen, zu Markteintrittsmöglichkeiten für nicht bereits vor Ort ansässige und im Katastrophenschutz mitwirkende Organisationen und zum kritisierten Erfordernis der Mitwirkung im Katastrophenschutz) verneint.
Die Klägerin konnte nicht darlegen, dass die Normauslegung hier ungeklärte Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfe. Damit bestätigt das BVerwG die Entscheidung des OVG. Diese enthält wiederum lesenswerte und wichtige Passagen zur Verfassungsmäßigkeit bzw. Konformität der einschränkenden Regelungen im Landesrecht zu höherrangigem Recht (§ 14 Abs. 1 Satz 2 HmbRDG) und Bundesrecht (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB).
c) Einschränkungen sind verfassungskonform
Die Klägerin führte auch vermeintliche Verstöße gegen das Grundgesetz (Art. 12 und Art. 3 GG) ins Feld und legte dazu diverse Fragen vor:
„Ist der Ausschluss von der Erbringung von Rettungsdienstleistungen von solchen Hilfsorganisationen, die nicht bereits im Katastrophenschutz mitwirken, mit den Maßgaben von Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, wenn der Ausschluss faktisch zu einer objektiven Berufszulassungssperre für das betreffende Unternehmen führt?“,
„Steht Art. 12 Abs. 1 GG der Errichtung eines Verwaltungsmonopols im Bereich von Rettungsdienstleistungen entgegen?“ und
„Ist der Ausschluss von Bietern aus dem Vergabeverfahren, die nicht die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 S. 2 HmbRDG i. V. m. § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB erfüllen, mit höherrangigem Recht (insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG) vereinbar?“.
„Folgt aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG ein Anspruch auf Beteiligung in einem transparenten, wettbewerblichen und chancengleichen Auswahlverfahren – insbesondere dann, wenn die Nichtberücksichtigung zu einem faktischen Berufsverbot für das betreffende Unternehmen führt?“,
„Darf ein Rettungsdienstträger die Ausschreibungsunterlagen so gestalten, dass nur für im Katastrophenschutz zugelassene Anbieter die Abgabe eines Angebots möglich ist?“,
„Ist der Ausschluss von Bietern aus dem Vergabeverfahren, die nicht die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 S. 2 HmbRDG i. V. m. § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB erfüllen, mit höherrangigem Recht vereinbar; also ist diese Norm zur Abwehr nachweisbarer und höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut geeignet, erforderlich und angemessen?“ und
„Kann in einem rettungsdienstlichen Auswahlverfahren verlangt werden, dass der Bewerber bereits zum Zeitpunkt der Abgabe des Angebotes über das nötige Personal, Material im Bereich des Katastrophenschutzes verfügt, obwohl er weder im Katastrophenschutz zugelassen ist und die Zulassung zum Katastrophenschutz unmöglich während der laufenden Abgabefrist in dem rettungsdienstlichen Auswahlverfahren zu erlangen ist?“
Landesrecht wie das HmbRDG ist grundsätzlich irreversibel, kann also nicht im Rahmen einer Revision vor dem BVerwG angegriffen werden, vgl. § 137 Abs. 1 VwGO. Insofern ging es um Bundesrecht.
Die tatsächlichen Feststellungen im Fall wurden nicht wirksam angegriffen, sie waren also für den Senat bindend (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO). Ebenfalls konnte die Klägerin nicht darlegen, „welchen weitergehenden fallübergreifenden Klärungsbedarf die Rechtssache danach in Bezug auf Art. 12 Abs. 1 GG aufwerfen sollte“. (BVerwG, Rz. 61): Es ist nach ständiger Rechtsprechung klargestellt, dass im Rettungsdienst die Berufsfreiheit eingeschränkt werden kann (viele Nachweise in der Entscheidung). Der Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung auch im Katastrophenfall durch ehrenamtliche Aufwachskapazitäten ist eine hinreichende verfassungsrechtliche Rechtfertigung.
Auch in Bezug auf Art. 3 GG stellt der Senat fest: „Damit zeigt die Klägerin nicht auf, dass der Rechtssache grundsätzlicher Klärungsbedarf […] zukommt. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbare Ungleichbehandlung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt“.
Im Sinne der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit wird klargestellt, dass private Rettungsdienstunternehmer normalerweise weitere Geschäftsfelder haben, in denen sie tätig werden können (z.B. qualifizierter Krankentransport oder Kranken-/Taxifahrten etc.). Somit ist der Eingriff abgemildert und verhältnismäßig. In Hamburg gab es wegen der gesetzlichen Übergangsfrist auch genug Zeit, einen Übergang aus der Notfallrettung heraus zu organisieren.
Landesrechtliche aktuelle Entwicklungen (u.a. Sachsen) zur Bereichsausnahme
In vielen Bundesländern ist schon lange möglich, gemeinnützige Hilfsorganisationen im Rettungsdienst privilegiert zu behandeln. Teilweise (z.B. NRW) wurde zwischen 2010 und 2016 Landesrecht neutraler gefasst, um den vermeintlichen Widerspruch zum EU-Vergaberecht zu heilen. Teilweise, so auch in Sachsen, wurde (ohne Not) ein expliziter Verweis auf das GWB-Vergaberecht eingeführt. § 31 Abs. 1 S. 3 der letzten Fassung des SächsBRKG (Fassung vom 01.01.2020) lautete:
„Für den bodengebundenen Rettungsdienst sind die Verfahren nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1750, 3245), das zuletzt durch Artikel 10 des Gesetzes vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1151) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung, durchzuführen.“
Nach Einführung der Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) in 2014/2016 ist eine Gegenbewegung zu beobachten. In manchen Bundesländern war/ist auch nach den Gesetzesfassungen der letzten Jahre bislang möglich gewesen, die Privilegierung nach der Bereichsausnahme praktisch umzusetzen und einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz in Auswahlverfahren zu belohnen. In Sachsen war dies aufgrund der o.g. Fassung schwierig und wurde (soweit ersichtlich) von keinem Träger versucht. Es war erklärtes Ziel der aktuellen Regierungskoalition (CDU, Grüne, SPD) im Koalitionsvertrag 2019 bis 2024, die Bereichsausnahme im Freistaat zu verankern, nachdem auf diversen Seiten umfangreiche Vergabeverfahren mit Kollateralschäden und erheblichem Aufwand bei Trägern und Bietern kritisch gesehen wurden. Zitat aus dem genannten Koalitionsvertrag: „Um die Qualität des Rettungsdienstes von übermäßigem Kostendruck zu befreien, werden wir das Vergabeverfahren im Rettungsdienst auf den Prüfstand stellen und hierbei zumindest die Bereichsausnahme für den Rettungsdienst ermöglichen“. Die Aussage steht im Kontext zu diversen anderen Punkten, welche den Katastrophenschutz und die gesundheitliche Gefahrenabwehr im Allgemeinen stärken (Einbindung der Kriseninterventionsteams in die Strukturen des Katastrophenschutzes, weitere Stärkung des Ehrenamtes (Thematik Helfergleichstellung), stärkere Einbeziehung ungebundener Helfer (Spontanhelfer), Experimentierklausel für innovative Ansätze im Rettungsdienst etc).
Es wurde ein Konsultationsverfahren zur Novelle durchgeführt.
Im Dezember 2023 wurde nach längeren Geburtswehen das SächsBRKG novelliert (Presseerklärung Innenministerium vom 13.12.2023) und die Bereichsausnahme als Option ermöglicht. Die Neufassung tritt Anfang 2024 in Kraft. Damit haben die Träger, welche die Vorteile eines flexibleren verwaltungsrechtlichen Auswahlverfahrens nutzen wollen, die Möglichkeit, das manchmal starre GWB-Vergaberecht zu verlassen und für die jeweilige Region verhältnismäßige Lösungen zu finden.
Der neue Absatz 5 im maßgeblichen § 31 SächsBRKG lautet in der letzten Fassung (Beschlüsse des Ausschusses für Inneres und Sport) nun „(5) Bei der Auswahlentscheidung sollen Qualität und die Mitwirkung im Katastrophenschutz berücksichtigt werden.“ (Drs. 7/15073 zu Drs 7/13269 vom 04.12.2023).
Damit wird ermessensleitend über eine Soll-Vorschrift sichergestellt, dass sowohl Qualitätsaspekte als auch die Mitwirkung im Katastrophenschutz in Auswahlverfahren berücksichtigt werden. Dies gilt sowohl für Verfahren nach GWB als auch (mit Nutzung der Bereichsausnahme) im Verwaltungsvergaberecht. Damit wird (jedenfalls außerhalb des GWB) ermöglicht, dass die Träger einen konkreten Mehrwert für den Bevölkerungsschutz in transparenten und willkürfreien Auswahlverfahren positiv berücksichtigen über eine rein formale Anerkennung auf der Landesebene (§ 40 Abs. 1 S. 2 SächsBRKG) hinaus.
Ähnliche Möglichkeiten bestehen auch in anderen Bundesländern.
Praxistipp
Landesgesetzgeber/Politik: Es muss geprüft werden, inwieweit die landesrechtlichen Regelungen ermöglichen, den notwendigen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz in (verwaltungsrechtlichen) Auswahlverfahren unter der Bereichsausnahme zu fordern und zu implementieren. In den meisten Ländern ist es schon nach aktueller Gesetzeslage möglich, konkrete lokale/regionale Ressourcen für den Katastrophenschutz zu fordern. Bei der Novellierung von Landesrettungsdienstgesetzen besteht hier teilweise noch Handlungsbedarf, wenngleich diverse Bundesländer schon klarstellend aktiv waren/sind. Sinnvoll sind ermessensleitende Erwägungen, mit denen Qualität, Resilienz und der Mehrwert für den Bevölkerungsschutz (Ehrenamt) sichergestellt werden können.
Die Verhältnismäßigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne sollte berücksichtigt werden: Denkbar sind Übergangsregelungen, die einen gewissen Bestandsschutz ermöglichen und/oder die Möglichkeit, dass private Rettungsdienstunternehmen weiter im Krankentransport und sonstigen Geschäftsfeldern aktiv sind. Denkbar ist, dass man die schon in diversen Bundesländern vorhandene Möglichkeit ausweitet, mit Konzessionen außerhalb des öffentlich-rechtlichen Rettungsdienstes qualifizierten Krankentransport erbringen zu können.
Auftraggeber/Träger: Im Fokus muss stehen: Der konkrete Auftrag in der Gefahrenabwehr (Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz als Gesamtsystem!) und eine möglichst effektive Umsetzung im Trägerbereich auch mit Blick über die Grenzen des Landkreises etc. hinaus.
Die gemeinnützigen Hilfsorganisationen liefern in den meisten Fällen einen signifikanten Mehrwert für den Bevölkerungsschutz. Der Träger ist gehalten, dies lokal/regional zu fördern und im Rahmen seines verwaltungsrechtlichen Ermessens bei Auswahlverfahren zu berücksichtigen. Damit wird er auch seiner völkerrechtlichen Verpflichtung aus den Genfer Konventionen gerecht (s. zur Unterstützungspflicht bzw. zur gegenseitigen Verantwortlichkeit von Behörden und nationalen Hilfsgesellschaften s. nur Heike Spieker, in: Johann, Handkommentar zum DRK-Gesetz, 1. Aufl. 2019, § 1 Rn. 43 m. w. N.)
Mit der Bereichsausnahme kann der Träger nun einen konkreten Mehrwert für den Bevölkerungsschutz in der Region transparent und willkürfrei einfordern über rein formale Anerkennungen hinaus. So kann Ehrenamt, Resilienz und Vorhaltung für größere Schadenslagen gefördert werden.
Öffnet dagegen der Auftraggeber den Wettbewerb auch für rein private Anbieter, so macht er von der Ausnahmevorschrift des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB gerade keinen Gebrauch. Dies muss er allerdings im Rahmen der Ermessensausübung auch ausführlich begründen; die Verwaltungsgerichte können dies überprüfen.
Bei Vorhalteerhöhungen (z.B. aufgrund von Gutachten) ist Vorsicht geboten: Die Kapazitäten des Rettungsdienstes können nicht ohne weiteres vergrößert werden: Es gibt schon seit langem einen erheblichen Fachkräftemangel. Diverse Kliniken und sonstige Strukturen fallen weg. Dies kann nicht alles durch den Rettungsdienst kompensiert werden. Es zeigt sich, dass gerade bei den Notfalleinsätzen 50-80% Fehleinsätze sind. Dies demotiviert Mitarbeiter und erhöht massiv die Kosten. Einsparungen sind nur durch Strukturverbesserung möglich, nicht durch hohe Preiswichtung in Auswahlverfahren. Achten Sie darauf, im Dialog sowohl mit den Kostenträgern als auch den Leistungserbringern zu bleiben. Nur durch deren Rückmeldungen kann verhindert werden, dass Kosten noch weiter ansteigen. Intelligente Lösungen wie der Gemeindenotfallsanitäter (Akutmedizin oder andere Begriffe sind synonymatisch) oder die Telemedizin/Telenotarzt können helfen.
Krankenkassen/Kostenträger: Achten Sie auf strukturelle Verbesserungen und Anreize statt auf hohe Preiswichtung oder ähnliche Fehlanreize. Das System von SGB V und Landesrecht ist in den Bundesländern schon sehr formalisiert. Es gibt im Rettungsdienst kein Spiel des freien Marktes, den das Vergaberecht für einen wirksamen Wettbewerb voraussetzt. Die Wirtschaftlichkeit kann ohne weiteres über einen offenen Austausch über Strukturfragen (Vorhaltung etc.) zwischen Trägern, Leistungserbringern und Kostenträgern sichergestellt werden. Über Personalkostendruck kann man keine nachhaltigen Einsparungen erzeugen. Dies haben viele (Kosten-)Träger bereits erkannt und verzichten auf den Preis als Wertungskriterium. Stattdessen sollten langfristige Anreize für ein resilientes Gesamtsystem der Gefahrenabwehr geschaffen werden: Fordern Sie einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz, erzeugen Sie Anreize für Qualität und versuchen Sie, auch sektorenübergreifend den Anstieg von Einsatzzahlen zu verringern. Intelligente Vernetzung in der digitalen und realen Welt von Telenotarzt und digitaler Einsatzdatenerfassung bis hin zu sozialen Dienstleistungen und Modellen wie dem Gemeindenotfallsanitäter/Akutmedizin muss gefördert und gelebt werden. Die kassenärztliche Versorgung und die Kliniklandschaft leiden häufig selbst unter Problemen – arbeiten Sie zusammen! Ein starker Bevölkerungsschutz ist kein Kostenfaktor, sondern dient auch den Versicherten.
Hilfsorganisationen: Die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst ist ein beeindruckender Erfolg, der das Gesamtsystem der Gefahrenabwehr stärkt. Die Bereichsausnahme ist mittlerweile rechtssicher anwendbar, wie die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zeigt – auch wenn es sicherlich noch weitere Konkretisierungen in der Rechtsprechung geben wird. Mit einem schlanken, willkürfreien Auswahlverfahren nach Verwaltungsrecht kann lokal/regional ein wichtiger und rechtssicherer Mehrwert für den Bevölkerungsschutz sichergestellt werden. Stärken Sie gemeinsam und nachweisbar ihr Ehrenamt in den Regionen – dieses ist Rechtfertigung, um auf Ausschreibungen und GWB-Vergaberecht zu verzichten. Sie sollten ebenfalls darstellen können, in welchem Umfang die ehrenamtlichen Helfer auch Kapazitäten in der Notfallrettung brauchen (z.B. Plätze für regelmäßige Praktika etc.).
Private Leistungserbringer: Die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst ist mittlerweile abgesichert. Wenn Sie langfristig weiter in der Notfallrettung tätig sein wollen, reicht es nicht, sich in die formale Gemeinnützigkeit zu flüchten. Wenn Sie einen wirklichen (auch ehrenamtlichen) Mehrwert für den Bevölkerungsschutz erbringen können, ist ein Verbleib in der Notfallrettung möglich. Alternativ können Sie normalerweise im qualifizierten Krankentransport oder anderen Geschäftsfeldern weiter aktiv sein. Einen lange wirkenden verfassungsrechtlichen Bestandsschutz gibt es normalerweise nicht, wenn Konzessionen oder Aufträge auslaufen. Wenn Sie regional gute Arbeit erbringen, wird zusammen mit dem Träger eine verhältnismäßige Lösung möglich sein.
Kontribution
Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Rechtsanwalt Dr. Mathias Pajunk und Frau Rechtsanwältin Dr. Karin Deichmann, LL.M. verfasst.
Dr. Mathias Pajunk
Dr. Mathias Pajunk ist ist Rechtsanwalt in der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in der Beratung von öffentlichen Auftraggebern bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Dienstleistungskonzessionen. Zu seinen weiteren Tätigkeitsfeldern zählt die Bearbeitung komplexer Fragestellungen auf den Gebieten des Beihilfen- und Kartellrechts.
Dr. Karin Deichmann, LL.M.
Dr. Karin Deichmann, LL.M. ist ist Rechtsanwältin in der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt in der Beratung von öffentlichen Auftraggebern sowie Unternehmen in allen Fragen des Vergaberechts. Ein Fokus liegt dabei in der Begleitung von IT-Ausschreibungen. Daneben berät Dr. Karin Deichmann Bieter bei vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren. Sie befasst sich zusätzlich mit Fragen rund um das Beihilfen- und Zuwendungsrecht.
René M. Kieselmann
René M. Kieselmann ist Rechtsanwalt und verantwortet als Partner der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte das Dezernat Vergaberecht. Er berät zusammen mit seinem Team bundesweit vor allem die öffentliche Hand, aber auch Bieter. Schwerpunkte sind u.a. IT-Vergaben und Rettungsdienst/Bevölkerungsschutz. Er ist Mitglied der Regionalgruppe Berlin/Brandenburg des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW)
Schreibe einen Kommentar