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Zitierangaben: Vergabeblog.de vom 19/08/2024 Nr. 57254

Losvergaben im Wandel: Rangfolgenmodell eröffnet neue Möglichkeiten (EuGH, Urt. v. 13.6.2024 – C-737/22 – BibMedia)

Entscheidung-EUDie Aufteilung in Lose ist im öffentlichen Beschaffungswesen eine zentrale und oft ungeliebte Aufgabe. Öffentliche Auftraggeber können bestimmen, dass Angebote nur für ein Los, für mehrere oder alle Lose eingereicht werden dürfen. Sie können außerdem die Anzahl der Lose beschränken, für die ein einzelner Bieter den Zuschlag erhält. Doch können sie auch festlegen, ob der zweitplatzierte Bieter den Zuschlag für ein Los zum Preis des bestbietenden Unternehmens in einem anderen Los erhalten darf?

§§ 97 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 Satz 2; §§ 15 Abs. 5 Satz 2, 30 VgV; Art. 46 RL 2014/24/EU.

Leitsatz

Die Grundsätze der Gleichbehandlung und Transparenz erlauben es, dass dem Bieter mit dem zweitgünstigsten Angebot der Zuschlag für ein (kleineres) Los unter der Bedingung erteilt wird, dass er die Leistungen zu dem gleichen Preis erbringt wie der Bieter mit dem wirtschaftlich günstigsten Angebot, der den Zuschlag für ein anderes (größeres) Los erhalten hat.

Sachverhalt

Die zentrale Beschaffungsstelle Dänemarks schrieb die Lieferung von Bibliotheksmaterialien als Rahmenvereinbarung in acht Losen im offenen Verfahren aus. Das alleinige Zuschlagskriterium war der Preis. Für Los 1 „Ost“ (ca. 34 Mio. Euro) und Los 2 „West“ (rd. 63 Mio. Euro) wurden jeweils Bücher und Notenblätter beschafft. Die Vergabebedingungen sahen vor, dass bei Abgabe eines Angebots für Los 1 oder 2 automatisch auch ein Angebot für das andere Los abgegeben wird. Der Zweck dieser geografischen Aufteilung in zwei Lose sollte die Sicherung des Wettbewerbs sein. Daher war festgelegt, dass der preisgünstigste Bieter im (größeren) Los 2 den Zuschlag erhielt, während der Zweitplatzierte den Zuschlag im (kleineren) Los 1 nur zum Preisangebot des Bestbieters (im Los 2) erhalten sollte. Lehnte der zweitplatzierte Bieter dieses Preisangebot ab, wurde den verbliebenen Bietern in der Rangfolge bis zum Letztplatzierten ebenfalls der Bestpreis angeboten. Falls alle Bieter ablehnten, sollte schließlich der Bestbieter im Los 2 auch den Zuschlag für Los 1 erhalten (Rdnr. 10 ff.).

Vorliegend erhielt der preisgünstigste Bieter BibMedia den Zuschlag für Los 2. Obwohl der Zweitplatzierte für Los 1 dem Preis von BibMedia zustimmte, beantragte er dennoch die Nachprüfung. In erster Instanz wurde entschieden, dass der Zweitplatzierte sein Angebot nach Ablauf der Angebotsfrist nicht mehr ändern durfte. In der zweiten Instanz wurde der Rechtsstreit schließlich dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (Rdnr. 16 ff.).

Die Entscheidung

Die Luxemburger Richter unterstreichen die Bedeutung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für die Förderung eines gesunden und effektiven Wettbewerbs. Dieser Grundsatz erfordert, dass Bieter bei der Angebotswertung gleichbehandelt werden müssen (Rdnr. 30). Ebenso soll der Grundsatz der Transparenz verhindern, dass es zu Günstlingswirtschaft oder willkürlichen Entscheidungen seitens des öffentlichen Auftraggebers kommt. Deshalb müssen die Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens klar, genau und eindeutig in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen formuliert sein (Rdnr. 31). Beide Grundsätze schließen Verhandlungen zwischen Auftraggeber und Bieter aus, weshalb eingereichte Angebote grundsätzlich nicht verändert werden dürfen, weder auf Initiative des öffentlichen Auftraggebers noch des Bieters (Rdnr. 32).

Der EuGH argumentiert, dass hier weder eine verbotene Verhandlung noch eine unzulässige Angebotsänderung vorliegt, da das alleinige Zuschlagskriterium des niedrigsten Preises nicht verletzt wird. Die vor Ablauf der Angebotsfrist angebotenen Preise der Bieter bestimmen ihre unveränderliche und endgültige Rangfolge im Vergabeverfahren. Der Bieter mit dem niedrigsten Preis nimmt den ersten Platz ein und sein Preis bildet die Grundlage für die gesamte Auftragsvergabe. Die Möglichkeit für den Zweitplatzierten, einen Losauftrag zu erhalten, basiert allein auf seinem zweiten Platz in der Rangfolge der angebotenen Preise (Rdnr. 33 ff.).

Die Frage, ob der zweitplatzierte Bieter das in Rede stehende Los zum Preis des Bestbieters ausführen möchte, ist einerseits durch die Vergabebedingungen geregelt und andererseits liegt es allein in seiner Entscheidung, ob er diesen Preis akzeptieren möchte oder nicht, urteilt der EuGH. Diese Entscheidung des Bieters stellt keine Angebotsänderung oder unzulässige Verhandlung dar, weil er weder seine Position in der Rangfolge noch den Bestpreis ändern kann (Rdnr. 37 ff.).

Rechtliche Würdigung

Der EuGH hat erneut überrascht. Sein Urteil stellt die Rangfolge der Bieter bei der Vergabe von Losen in den Mittelpunkt. Dieses Modell erlaubt es, von den Bietern ein einheitliches Preisangebot für z.B. zwei Lose einzuholen, während gleichzeitig die Vergabe an einen Bieter auf ein Los grundsätzlich beschränkt bleibt. Zugleich erhält der Bieter mit der schlechteren Platzierung die Möglichkeit, das andere Los zum Bestpreis zu erhalten. Rechtlich lässt sich das Rangfolgenmodell nur teilweise mit § 30 VgV (bzw. Art. 46 RL 2014/24/EU) und § 15 Abs. 5 Satz 2 VgV vereinbaren. Ein Fall der Loskombination gemäß § 30 Abs. 3 VgV liegt nicht vor, da nicht beabsichtigt ist, dass ein einzelner Bieter den Zuschlag für beide Lose erhält. Stattdessen wird der Sachverhalt allenfalls teilweise durch die Zuschlagslimitierung gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 VgV abgebildet. Vermutlich stützen sich die Luxemburger Richter deshalb auf die allgemeinen Vergabegrundsätze, nämlich Gleichbehandlung und Transparenz. Denn die Forderung nach einem einheitlichen Preis für mehrere Lose, also für verschiedene potenzielle Lieferanten, führt dazu, dass kein spezifischer Wettbewerb mit unterschiedlichen Preisen entsteht, was § 30 VgV nicht ausdrücklich vorsieht. Der Auftraggeber muss nach europäischer Auffassung folglich nicht zwischen den beiden Möglichkeiten wählen, dass nur ein einziger Bieter beide Lose zum gleichen Preis erhalten soll, oder dass beide Lose an zwei Bieter vergeben werden sollen, dann jedoch zu unterschiedlichen Preisen. Die Luxemburger Richter betonen zudem die jeweilige „Größe“ (i.S.d. Art. 46 Abs. 1 Unterabs. 1 RL 2024/24/EU) der beiden Lose, wodurch das Rangfolgenmodell für nach der Menge aufgeteilte Teillose vorzugswürdig ist.

Auch die Möglichkeit, das weniger gut platzierte Angebot zum besten Preis anzunehmen, scheint nicht eindeutig mit § 15 Abs. 5 Satz 2 VgV vereinbar zu sein. Bereits im Jahr 2012 hat der EuGH entschieden, dass in einem (nichtoffenen) Ausschreibungsverfahren die eingereichten Angebote grundsätzlich nicht mehr geändert werden dürfen (Urt. v. 29.3.2012 C-599/10 SAG ELV Slovensko, Rdnr. 36). Nunmehr nimmt der EuGH hingegen an, dass eine abändernde Annahme (i.S.d. § 150 Abs. 2 BGB) zwar keine Änderung der Reihenfolge der Bieter bewirkt, aber es erlaubt ist, das ursprüngliche Preisangebot nach Ablauf der Angebotsfrist vergaberechtskonform zum besten Preis zu akzeptieren. Bisher war es zwar nach deutscher Rechtsprechung möglich, dass ein öffentlicher Auftraggeber trotz des Verbots der Nachverhandlung einen Zuschlag unter geänderten Bedingungen erteilt, indem er ein neues Angebot gemäß § 150 Abs. 2 BGB unterbreitet; diese Erklärung wird auch nicht gemäß § 134 BGB als nichtig angesehen (BGH, Urteil vom 6.9.2012 VII ZR 193/10, Rdnr. 21). Allerdings wurde die Anpassung des Angebotspreises durch den schlechter platzierten Bieter nach Ablauf der Angebotsfrist als unzulässige Verhandlung und Änderung angesehen. Die Richter in Luxemburg dehnen daher das vergaberechtliche Verbot der Verhandlung und Änderung im offenen sowie nichtoffenen Verfahren nicht auf das konkret eingereichte Preisangebot des Bieters aus, sondern lediglich auf die Rangfolge, die auf der Grundlage dieser Angebote festgelegt wird.

Praxistipp

Der europäische Gerichtsspruch gibt öffentlichen Auftraggebern neue Spielräume bei der Vergabe von Losen. Es eröffnet aber auch den unterlegenen Bietern eine „zweite“ Chance auf den Auftrag, nämlich dann, wenn sie den Preis des Bestbieters akzeptieren. Das Rangfolgenmodell für Lose kann, muss aber nicht im Vergabeverfahren angewendet werden. Der öffentliche Auftraggeber kann im Rahmen seiner Bestimmungsfreiheit in den Vergabeunterlagen transparent festlegen, ob er das Rangfolgenmodell anwenden möchte oder nicht. Falls er sich dafür entscheidet, sollte er seine Überlegungen, wie bspw. die Sicherstellung des Wettbewerbs oder die Versorgungssicherheit, plausibel dokumentieren. In Anbetracht der Unsicherheit über die Anwendbarkeit der Entscheidung aus Luxemburg auf qualitative, umweltbezogene und soziale Zuschlagskriterien, könnten Vergabestellen gut beraten sein, das Rangfolgenmodell zunächst nur bei Teillosen zu verwenden, bei denen der Preis das einzige Zuschlagskriterium ist. Vergaberechtliche Bedenken könnten auftreten, wenn dem rangschlechteren Bieter sensible oder geheime Informationen des Bestbieters im Rahmen einer abändernden Annahme mitgeteilt werden müssten. Bei Fachlosen schließlich stößt das so beschriebene Rangfolgenmodell an seine Grenzen, weil der Art nach verschiedene Leistungen auch unterschiedliche Preise bedingen.

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Holger Schröder

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss „Fachanwalt für Vergaberecht“ der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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