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Schadensersatz für den Verlust der Zuschlagschance (EuGH, Urt. v. 06.06.2024 – C‑547/22 – INGSTEEL)

Entscheidung-EUDer EuGH hat in einer neuen Entscheidung klargestellt, dass es gegen den effet-utile-Grundsatz verstößt, wenn einem vergaberechtswidrig ausgeschlossenen Bieter nach nationalem Recht der Anspruch auf einen erlittenen Schaden von vornherein verwehrt wird. Die Chance auf den Zuschlag sei nach der Rechtsmittelrichtlinie eine Vermögensposition, für deren Verlust der übergangene Bewerber oder Bieter vor den nationalstaatlichen Gerichten einen Ausgleich verlangen können muss. Mit dieser Auslegung stellt er die deutschen Zivilgerichte im Rahmen des Schadensrechts auf eine ernste Probe. Künftig könnte sich der Kreis der Anspruchsberechtigten auf der Ebene des Sekundärrechtschutzes deutlich erweitern – im Falle von De Facto Vergaben sogar auf unzulässigerweise nicht beteiligte Unternehmen?

Die Entscheidung

Grundlage des Vorabentscheidungsersuchens war ein Verfahren vor einem slowakischen Zivilgericht, in dem ein Bauunternehmen Schadensersatz von der slowakischen Behörde für öffentliches Auftragswesen forderte. Das Unternehmen stützte den Anspruch darauf, dass sein Teilnahmeantrag zu Unrecht von einem zuvor durchgeführten Vergabeverfahren über die bauliche Modernisierung von 16 Fußballstadien wegen angeblich fehlender Eignung ausgeschlossen wurde. Der Vergaberechtsverstoß wurde von einem slowakischen Gericht, nachdem der EuGH eine Vorlagenfrage zugunsten des ausgeschlossenen Bieters beantwortete (EuGH, Urteil vom 13.07.2017, Ingsteel und Metrostav (C‑76/16, EU:C:2017:549)), bestätigt. Wohl auch weil das Vorlageverfahren bekanntermaßen einige Zeit in Anspruch nimmt, erteilte der Auftraggeber trotz laufendem Verfahren zwischenzeitlich den Zuschlag.

Der zu Unrecht wegen fehlender Eignung vom Vergabeverfahren ausgeschlossene Bieter begehrte daraufhin Schadensersatz von der in der Slowakei dafür passivlegitimierten Behörde. Ersetzt werden soll dabei nicht (nur) der entgangene Gewinn – das Unternehmen rechnete offenbar bereits damit, dass es das dafür nach dem slowakischen Recht notwendige Beweismaß nicht erbringen kann –, sondern es begehrte ebenfalls eine Kompensation für den Verlust der Chance auf den Zuschlag.

Das Bezirksgericht Bratislava II setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH zwei Vorlagefragen vor:

  1. Kann davon ausgegangen werden, dass es mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Abs. 6 und 7 der Richtlinie 89/665 vereinbar ist, dass ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Ersatz des Schadens entscheidet, der einem rechtswidrig von einem öffentlichen Vergabeverfahren ausgeschlossenen Bieter entstanden ist, in der Weise vorgeht, dass es die Gewährung von Schadensersatz für entgangene Chancen (loss of opportunity) ablehnt?
  1. Kann davon ausgegangen werden, dass es mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Abs. 6 und 7 der Richtlinie 89/665 vereinbar ist, dass ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Ersatz des Schadens entscheidet, der einem rechtswidrig von einem öffentlichen Vergabeverfahren ausgeschlossenen Bieter entstanden ist, in der Weise vorgeht, dass es den aufgrund des Verlusts der Möglichkeit, an der öffentlichen Ausschreibung teilzunehmen, entgangenen Gewinn nicht als Bestandteil des Schadensersatzanspruchs betrachtet?

Der Gerichtshof hatte zusammengefasst also zu entscheiden, wie weit der Anspruch auf Schadensersatz eines von einem Vergaberechtsverstoß betroffenen Unternehmen nach der Rechtsmittelrichtlinie gehen kann. Konkret, ob allein die Chance auf den Zuschlag einen danach zu kompensierenden Schaden darstellt.

Die Frage ist im deutschen Recht weitgehend einfach mit einem „nein“ zu beantworten. Die reine Chance auf einen Gewinn ist noch keine gesicherte Rechtsposition, die im Rahmen der schadensrechtlichen Differenzhypothese nach §§ 249, 252 BGB kompensiert werden kann. Dort gilt vielmehr ein „Alles-oder-nichts-Prinzip“. Eine sog. Proportionalhaftung ist dem Schadensrecht fremd. Nur real nachgewiesene Schäden können in Form der Naturalrestitution ersetzt werden. Für Folgeschäden wie den entgangenen Gewinn gilt im Grunde nichts anderes. Auch hier muss der vermeintlich Geschädigte nachweisen können, dass ihm durch die Pflicht- und Rechtsgutverletzung ein konkreter Gewinn, den er hätte realisieren können, versagt wurde.

Wenn also ein personalisiertes Lotterielos mit einer Gewinnchance von 1:100.000 durch einen pflichtwidrig verursachten Brand zerstört wird, schuldet der Schädiger nur Schadensersatz, wenn nachgewiesen werden kann, dass es sich um ein Gewinnlos handelte. Ebenso im Vergaberecht: Schadensersatz ist regelmäßig nur dann zu leisten, wenn der vergaberechtswidrig ausgeschlossene Bieter nachweisen kann, dass er bei pflichtgemäßer Anwendung des Vergaberechts den Zuschlag erhalten und einen Gewinn hätte realisieren können (BGH Urt. v. 15. 1. 2013 − X ZR 155/10; BGH Urt. v. 20. 11. 2012 − X ZR 108/10). Das geht sogar so weit, dass selbst das negative Interesse nach § 181 GWB nur derjenige Bieter ersetzt verlangen kann, der eine „echte Chance“ auf den Zuschlag hatte, was von den Zivilgerichten dahingehend interpretiert wird, dass der Bieter zur engeren Wahl der Zuschlagsdestinatäre (Spitzengruppe) der Bieter hätte gehört haben muss (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.06.2006 – Verg 2/06) oder dass es innerhalb des Wertungsspielraums der Vergabestelle gelegen hätte, dem Bieter den Zuschlag zu erteilen (BGH (X. Zivilsenat), Urteil vom 27.11.2007 – BGH Aktenzeichen X ZR 18/07). Freilich ist diese Unterscheidung im Rahmen des § 181 Satz 1 GWB seit der Leitentscheidung des BGH in Sachen „Rettungsdienstleistungen II“ (Urteil vom BGH, Urt. v. 9. 6. 2011 − X ZR 143/10) ihre Relevanz verloren, da der Kreis der Anspruchsberechtigten über §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB erheblich weiter sein kann.

In anderen Rechtssystemen ist das anders: Beispielsweise in Frankreich und Belgien (perte d’une chance, s. Conseil d’Etat, Section, du 5 janvier 2000, 181899), in den Niederlanden (ECLI:NL:HR:2006:AU6092 – (Nefalit/ Karamus) oder dem Common law (lost chance, s. für UK: Chaplin v Hicks [1911] 2K.B. 786) ist die proportionale Schadenshaftung anerkannt.)

Bisherige Jurisdiktion in Deutschland

Das slowakische Recht ähnelt in dieser Frage dem deutschen BGB. § 442 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs der Slowakei sieht vor, dass bei Schadensersatzklagen der tatsächliche Schaden und der entgangene Gewinn ersetzt werden sollen. Der Verlust einer Chance auf den Zuschlag kann unter den Begriff des entgangenen Gewinns fallen, der eine Zuerkennung von Schadensersatz begründen könne, vorausgesetzt, die geschädigte Person kann beweisen, dass sie sehr gute Aussichten gehabt habe, dass der öffentliche Auftrag an sie vergeben werde. Da der Bieter bereits in der ersten Stufe des Verfahrens, dem Teilnahmewettbewerb, ausgeschlossen wurde, kann ihm dieser Nachweis per se nicht gelingen. Dies legt für den Generalanwalt den Schluss nahe, dass nach der Rechtsprechung der nationalen Gerichte der Slowakei für den Verlust der Aussichten auf Erteilung des Zuschlags für diesen Auftrag kein Schadensersatz gewährt werden soll (GA Collins, Schlussanträge v. 7.12.22, Rs. C 547/22, Rn. 44).

In Deutschland wäre der Fall genauso zu entscheiden. Ein auf das positive Interesse gerichteter Schadensersatzanspruch eines Bieters setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass dem Bieter bei ordnungsgemäßem Verlauf des Vergabeverfahrens der Zuschlag hätte erteilt werden müssen (BGH, Urt. v. 20. 11. 2012 – X ZR 108/10, Rn. 16, BGH, Urteil vom 15. Jan. 2013 – X ZR 155/10, RN. 12, BGH, Beschl. v. 6.10.2020 – XIII ZR 21/19, Rn. 13 ff.; OLG Naumburg, Urteil vom 15.01.2021 – 7 U 39 / 20). Der klagende Bieter trägt daher die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er ohne den Vergaberechtsfehler hätte den Zuschlag erhalten müssen. Verlangt er den entgangenen Gewinn nach § 252 BGB, obliegt es ihm darüber hinaus darzulegen, was nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit an Gewinn erwartet werden konnte. Darüber hinaus muss nach der maßgeblichen wirtschaftlichen Betrachtungsweise der Auftrag tatsächlich vergeben worden sein (s. BGH, Urteil vom 3. Juli 2020 – VII ZR 144/19, m. w. N.).

Während letzteres in vorliegendem Fall unproblematisch zu bejahen gewesen wäre, ist die Nachweisführung für die Zuschlagserteilung für den bereits im Teilnahmewettbewerb ausgeschlossenen Bewerber unmöglich. Er wird nicht nachweisen können, dass er im hypothetischen Fall, dass der Auftraggeber seinen Teilnahmeantrag zugelassen hätte, ein Angebot abgegeben hätte, das bezuschlagt worden wäre. Es bleibt ihm also nur, ggf. seine Kosten für den Teilnahmeantrag als negatives Interesse geltend zu machen – weitere Kompensationsansprüche bestehen nicht.

Dies monierte der slowakische Bieter im dortigen Verfahren: Die Rechtsmittelrichtlinie sieht in Art. 2 Abs. 1 lit. c) vor, dass diejenigen, die durch einen Verstoß gegen das Unionsvergaberecht geschädigt worden sind, Schadensersatzansprüche geltend machen können müssen. Dies müsse auch den durch den Verlust einer Chance entstandenen Schaden umfassen.

Der EuGH stimmt dem im Ansatz zu und stützt diese Entscheidung auf drei wesentliche Punkte:

  1. Der Wortlaut des Art. 2 Abs. lit c.) ist weit gefasst und inkludiert jegliche Schadenskategorien, einschließlich des Schadens, der sich aus dem Verlust der Chance ergibt, an dem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags teilzunehmen (Rn. 33 des Urteils).
  2. Die Möglichkeit, Schadensersatzansprüche geltend zu machen, stärkt die uneingeschränkte Achtung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Vergaberechtsverstöße. Die Möglichkeit, ein Nachprüfungsverfahren anzustrengen, wird nahezu vollumfänglich gewährleistet. Das Gleiche muss auch für das dazu komplementäre Recht auf Schadensersatz gelten, da nur so gewährleistet werden kann, dass Bieter, die wegen des zwischenzeitlichen Zuschlags keinen Erfolg ihres primären Rechtsschutzziels im Nachprüfungsverfahren – den Erhalt des Zuschlags ­– mehr erreichen können, nicht rechtsschutzlos dastehen (Rn. 35 ff. des Urteils). Daraus folgt: Für jeden potentiell im Nachprüfungsverfahren angreifbaren Fehler muss der in seinen Rechten verletzte Bieter gleichsam die Chance haben, Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Oder anders gesagt: Der Schadensersatzanspruch ist ein aliud zum Primärrechtsschutz. Er darf nicht wegen tatsächlicher Durchsetzungsschwierigkeiten hinter dem Nachprüfungsverfahren zurückbleiben, sodass Verstöße, die nicht mehr im Rahmen des Primärrechtsschutz geahndet werden können, für den Delinquenten folgenlos blieben.
  3. Daher ist es drittens auch ausdrücklicher Wille des Unionsgesetzgebers, sicherzustellen, dass in allen Mitgliedstaaten geeignete Verfahren nicht nur die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen, sondern auch die Entschädigung der durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht Geschädigten ermöglichen. Wäre ein Schadensersatz für die Versagung einer Chance nunmehr von vornherein ausgeschlossen, wäre dieses Ziel von vornherein gefährdet.

Im Ergebnis erstreckt sich der Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. lit. c.) der Rechtsmittelrichtlinie daher auch auf Schadensersatz für den Verlust der Chance auf den Zuschlag. Gleichzeitig betont der EuGH, dass die genaue Ausgestaltung des Schadensrechts nicht unionsrechtlich geregelt ist. Im Zuge der Verfahrensautonomie obliegt es vielmehr den Mitgliedsstatten, in ihren Rechtsordnungen die Ausgestaltung der Voraussetzungen für Schadensersatzansprüche vorzunehmen. Dabei muss jedoch stets der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz (Art. 4 Abs. 3 EUV) beachtet werden:

Wenn das mitgliedsstaatliche Recht solch strenge Anforderungen an die Nachweis- und Kausalitätsführung einer vom Unionsrecht erfassten Schadensposition stellt, sodass die Nachweisführung faktisch bis zur Unmöglichkeit erschwert wird, verstößt dies gegen den effet utile Grundsatz. So liegt es, wenn nach nationalem Recht an die Schadensdarlegung für den Verlust einer Chance auf den Zuschlag Anforderungen gestellt werden, die praktisch von keinem Bieter erbracht werden können. Insoweit ist auch der Hinweis des EuGH zu verstehen, der angesichts der geschilderten slowakischen Praxis auf die Einhaltung des Effektivitätsgrundsatzes hinweist und ausdrücklich daran erinnert, dass das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung den nationalen Gerichten die Verpflichtung auferlegt, eine gefestigte oder ständige Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des innerstaatlichen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie nicht vereinbar ist.

Zusammengefasst ist also der Verlust einer Chance eine im Sinne der Rechtsmittelrichtlinie zu beachtende Schadensposition, auf deren Ersatz ein Bieter grundsätzlich einen Anspruch hat. Die Durchsetzung dieses Anspruchs darf durch die nationalen Rechtsordnungen nicht bis zur Unmöglichkeit erschwert werden, da dies dem effet-utile-Grundsatz widerspräche. Ein etwa zu Unrecht ausgeschlossener Bewerber oder Bieter muss also die tatsächliche Möglichkeit haben, seinen Schaden, den er durch den Verlust der Chance auf den Zuschlag in Folge eines Verstoßes gegen das Unionsvergaberecht erlitten hat, kompensiert zu erlangen.

Auswirkungen auf die deutsche Rechtsprechungspraxis

In Folge dieses Diktums ergeben sich spannende Fragen für die deutsche Praxis:

Da die Ausgangssituation praktisch dieselbe ist wie in der Slowakei, dürfte der Fingerzeig des EuGH, bei der Auslegung nationalen Rechts den effet-utile-Grundsatz zu beachten, ebenso für deutsche Gerichte bei der Anwendung der zuvor dargestellten Praxis gelten. Für die Schadensposition „Verlust einer Chance“, die vom EuGH ausdrücklich als eigenständiger möglicher Schaden anerkannt wurde, muss für Beweisführung hinsichtlich der Realisierung eines Schadens ein anderer Maßstab gelten, als ihn die deutschen Gerichte derzeit beim „entgangenen Gewinn“ nach § 252 BGB ansetzen.

Das Recht auf chancengleiche Verfahrensteilhabe ist für sich genommen eine durch das Unionsrecht geschützte Rechtsposition. Wird es nicht beachtet, kann bereits daraus eine Vermögensminderung erwachsen, nur eben nicht für den Verlust eines zu erwartenden Gewinnes, sondern der Verlust der Gewinnchance. Wie diese zu quantifizieren ist, das wird die nationalen Gerichte in Zukunft wohl intensiv beschäftigen.

Jedenfalls kann diese Schadensposition nicht allein im entgangenen Gewinn aufgehen. Die Schadensposition ist eine andere – das Beweismaß muss ein anderes sein. Während es für den entgangenen Gewinn weiterhin darauf ankommen wird, dass der Bieter nachweisen kann, dass er den Zuschlag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erhalten und somit etwaige Gewinne realisiert hätte, ist diese Nachweisführung beim Verlust der Chance nicht notwendig. Hier manifestiert sich der Schaden bereits darin, dass er am Wettbewerb um den Zuschlag nicht mehr teilnehmen kann; vorausgesetzt natürlich, er hatte eine realistische Chance auf den Zuschlag.

Was folgt daraus?

1. Schadensquantifizierung

Die Schadensquantifizierung wird um einiges komplizierter. Gelang es dem zu Unrecht ausgeschlossenen Bieter, die bereits dargestellten Hürden der Anspruchsbegründung zu nehmen, lag in der Bezifferung des Schadens meist keine große Herausforderung. Nach dem bisher gängigen Alles-oder-nichts-Prinzip musste er seinen konkret zu erwartenden Schaden darlegen. Dies wird sich nun ändern: Neben dem entgangenen Gewinn, der weiterhin als eigenständige Schadensposition geltend gemacht werden kann, soll nun auch ein Ersatz für die versagte Chance auf den Zuschlag gewährt werden. Das setzt die Hürden in der Anspruchsbegründung deutlich herab – aufgrund der unionsrechtlichen Auslegung ist nicht nur der (sicher zu realisierende) entgangene Gewinn kompensationswürdig, sondern auch der Verlust der Chance auf den Zuschlag. Nur – wie beziffert man diese?

Rechtlich ist der Anknüpfungspunkt mehr oder minder klar: Das Gericht hat den Schaden frei zu schätzen, § 287 ZPO. Die unionsrechtliche Auslegung führt lediglich dazu, dass im Rahmen des Schadensrechts die verlorene „Chance auf den Zuschlag“ kompensiert werden muss. Ausgangspunkt sollte dabei der Erwartungswert des Erfolgseintritts sein. Dies führt über die Probleme des Kausalitätsnachweises und des materiell-rechtlichen Anknüpfungspunktes, die sich im Rahmen des deutschen Alles-oder-nichts-Prinzip stellen würden, hinweg. Wenn der Zuschlag im selben Verfahren an einen Dritten ergangen ist, steht fest, dass ein Schaden entstanden ist.  Erst dann erweist es sich als berechtigt, dass der betroffene Bieter auf die tatsächliche Durchführung der Zuschlagserteilung  vertraut hat. In welcher Höhe sich der Schaden bemisst – das muss im Zuge der freien Schadensschätzung geklärt werden.

Das entbindet den klagenden Bieter nicht davon, einen Schaden jedenfalls in ungefährer Höhe zu behaupten und einen Mindestbetrag zu beziffern (BGH, Beschluss vom 7. 4. 2009 – KZR 42/08). Dafür hat er sog. Anknüpfungstatsachen darzulegen und zu beweisen, die aussagekräftig genug sind, dass von ihm angestrebte Schätzungsergebnis zu rechtfertigen (KG 1.10.2009 – 2 U 10/03 Kart). In einem Schadensersatzprozess in Folge eines Vergaberechtsverstoßes sollte der zumindest in Folge der Akteneinsicht oder der Ex-Post-Veröffentlichung bekannte Auftragswert jedenfalls als erste grobe Schätzgrundlage dienen. Als nächster Anknüpfungspunkt kommt die Anzahl der Mitbewerber in Betracht, die um den Auftrag gebuhlt haben. Je weniger potentielle Konkurrenten es gibt, desto höher war die Erwartung und damit Chance des Klägers auf den Zuschlag. Wird etwa nur ein einziges Unternehmen zur Angebotsabgabe aufgefordert, wird dies bei der Schadensschätzung zu berücksichtigen sein.

Kann das Gericht nicht auf erkenntnisreiche objektive Quellen zugreifen, spricht nichts dagegen, einen rein kalkulatorischen Gewinnanteil, ggf. unter Anlehnung an § 648 Satz 3 BGB i. H. v. 5 % vom Auftragswert (wobei es sich allerdings um keine verallgemeinerungsfähige Gewinnerwartung handelt und daher Vorsicht geboten ist, s. OLG Köln, Urteil v. 23.7.2014 – 11 U 104/13), als potentiellen Gewinn der Schadensschätzung zugrunde zu legen und den Quotienten nochmal durch die Anzahl der in Frage kommenden Unternehmen zu teilen. Gegebenenfalls ist nochmals ein Wahrscheinlichkeitsabschlag abzuziehen. Auch wenn eine solche Ermittlung im deutschen Recht eher systemfremd erscheint, die Schadensberechnung im Common Law (Chaplin v Hicks [1911] 2K.B. 786) geht in diese Richtung. Alternativ wäre es denkbar, vom betroffenen Bieter eine Plausibilisierung zu verlangen, wie es üblicherweise anbietet und wie es im konkreten Fall angeboten hätte.

Bei beiden Vorgehensweisen würde es sich zwar um eine sehr grobe Annäherung an die Schadensquantifizierung handeln. Dem notwendigen „Darlegungsmaß“ für Anknüpfungstatsachen im Rahmen des § 287 ZPO sollte dies jedoch genügen. Höhere Hürden würden die effektive Durchsetzung des Schadensanspruchs erheblich erschweren, was somit wiederum einen Konflikt mit dem effet-utile-Grundsatz bedeuten würden.

2. Beweislast

Die Beachtung der „neuen“ Schadensposition hat ebenfalls gewaltige Auswirkungen auf die Beweislast, wobei sich an den Beweislastregeln im Grunde genommen nichts ändert und aufgrund der mitgliedsstaatlichen Verfahrensautonomie auch nichts ändern soll. Für den Schaden i. R. d. entgangenen Gewinns i. S. d. § 252 BGB trägt nach wie vor der klagende Bieter die Darlegungs- und Beweislast. Etwas anderes gilt jedoch für den Verlust der Zuschlagschance. Diese wird durch die vorvertragliche Pflichtverletzung – dem Verstoß gegen das Vergaberecht, meist dem rechtswidrigen Ausschluss – quasi indiziert. Dass mit dem Ausschluss der Verlust der Zuschlagschance einhergeht – dazu braucht es keinen Kausalitätsnachweis mehr, was letztlich in diesem Punkt zu einer Umkehr der Beweislast führt. Der Bieter findet sich also in einer ungleich besseren prozessualen Situation wieder.

Das bedeutet aber nicht, dass der in Anspruch genommene Auftraggeber dem widerstandslos ausgesetzt sein muss. Er trägt nunmehr die Beweislast dafür, dass der Bieter trotz dem ersten Dafürhalten keine Chance auf den Zuschlag hatte. Dies kann etwa gelingen, indem er den hypothetischen Verlauf des Verfahrens zum Beweisgegenstand macht. Wurde der Bieter etwa zu einem Zeitpunkt ausgeschlossen, an dem bereits festgestellt werden konnte, dass dieser realistischerweise keine Chance auf den Zuschlag hat, ist diesem jegliche Kompensationszahlung zu verwehren, da er nach der Differenzhypothese auch ohne Pflichtverletzung in Form des Vergaberechtsverstoßes keine Chance auf den Zuschlag hatte, die ihm daher durch den Ausschluss auch nicht genommen werden konnte. Ein solcher Einwand ist etwa möglich, wenn alle Unterlagen des Bieters vorliegen und der Auftraggeber eine „Schattenwertung“ durchführen kann, in der er den Bieter trotz vorherigem Ausschluss belässt und mitwertet.

Dies führt allerdings zu dem obskuren Ergebnis, dass Bieter, je früher sie vom Verfahren ausgeschlossen werden, höhere Chancen auf Schadensersatz haben. Wird der Teilnahmeantrag eines Bewerbers unter Verstoß gegen das Vergaberecht ausgeschlossen, wird dem Auftraggeber i. d. R. mangels vorliegenden Angebots keine Schattenwertung möglich sein. Ihm wird der Beweis, dass der Kläger keine Chance auf den Zuschlag hatte, nur dann gelingen, wenn der betroffene Bieter als Anknüpfungstatsache im Schadensersatzprozess einen höheren Angebotspreis als der des bezuschlagten Unternehmens vorträgt. Gerade in Fällen, in denen dieser Angebotspreis bekannt ist, wird dies vermutlich selten geschehen. Dies ist sicher ein unbefriedigendes Ergebnis für den Auftraggeber, vom EuGH aber wohl explizit so gewollt.

Schadensersatz auch bei unzulässigen De Facto-Vergaben?

Gänzlich unklar ist auch die Frage, ob ein Unternehmen, das aufgrund einer rechtswidrigen Direktvergabe schon gar nicht zur Angebotsabgabe aufgefordert wurde, Schadensersatz verlangen kann. Das Europäische Gericht hat dies jüngst abgelehnt; dies aber allein darauf gestützt, dass das klagende Unternehmen nicht zweifelsfrei nachweisen konnte, dass es bei rechtmäßiger Beteiligung den Zuschlag bekommen hätte (EuG, Urteil v. 21.2.2024 – Rs. T-38/21). Zumindest dieser Argumentation dürfte nach der Entscheidung des Gerichtshofs das Fundament entzogen worden sein. Die Chance auf einen Zuschlag verliert auch ein Unternehmen, das sich aufgrund einer rechtswidrigen Direktvergabe erst gar nicht um den Auftrag bemühen konnte.

Ob man diesem eine Kompensation unter Verweis auf eine noch nicht gesicherte „Rechtsposition“ verwehren kann, erscheint höchst fraglich. Anders als man zunächst vermuten könnte, ist der Kreis der Anspruchsberechtigten dennoch nicht schier unüberschaubar. Hier sind nämlich weitere Anforderungen bereits an die Haftungsbegründung zu stellen. Es muss dargelegt werden, dass das übergangene Unternehmen gleich dem Bezuschlagten leistungsfähig gewesen wäre.

Es wird also erheblich auf die Dokumentation des Auftraggebers ankommen. Lässt diese den Schluss zu, dass nach den von ihm dokumentierten Kriterien auch andere Unternehmen für den Zuschlag in Betracht gekommen wären, wird deren übergangene Zuschlagschance nicht negiert werden können. Andernfalls würde für diese Konstellationen wiederum ein Rechtsschutzdefizit im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 lit. c) der Rechtsmittelrichtlinie bestehen, was der EuGH gerade vollumfänglich verhindern möchte. Die nächste Vorlagenfrage ist in diesem Zusammenhang also schon zu erwarten.

Fazit und Praxistipp

Ob es durch die Entscheidung des EuGH tatsächlich zu eruptiven Veränderungen des Schadensrechts bei Auftragsvergaben kommt, bleibt abzuwarten. Die Entscheidung hat auf jeden Fall das Potential, die Rechte übergangener Bieter erheblich zu stärken. Die Gerichte dürfen Schadensersatzansprüche in Zukunft nicht allein aus dem Grund ablehnen, dass der Bieter trotz eines erlittenen Verstoßes gegen das Vergaberecht nicht nachweisen kann, dass er den Zuschlag erhalten hätte. In diesen Fällen ist er für die versagte Chance auf den Zuschlag zu kompensieren. Dass diese Kompensation für den Verlust der Chance hinter dem entgangenen Gewinn zurückbleibt, ist eindeutig – wie genau sie quantitativ ausgestaltet wird, das wird durch die Rechtsprechung zu klären sein. Hinsichtlich des Schadensersatzanspruchs bezüglich der verlorenen Chance führt dies faktisch auch zu einer Beweislastumkehr. Ein Ausschluss unter Verstoß gegen das Unionsvergaberecht indiziert die Chancenversagung – es obliegt zukünftig dem Auftraggeber nachzuweisen, dass diese Chance niemals realistischerweise bestand.

Diese Entwicklungen führen mithin dazu, dass Auftraggeber umdenken müssen. Während derzeit ein Ausschluss eines Bieters nach dem Teilnahmewettbewerb wenig haftungsträchtig ist, wird sich dies in Zukunft ändern. Noch mehr gilt das für de-facto-Vergaben: Während unzulässige Direktvergaben derzeit über den Sekundärrechtsschutz kaum geahndet werden können, könnte sich das vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung in Zukunft dramatisch ändern. Auftraggebern ist demnach – wie immer – zu empfehlen, ihre Entscheidungen und vor allem den von ihnen genutzten Beurteilungsspielraum haargenau zu dokumentieren. Erfolgen Ausschlüsse in einem späteren Verfahrensstadium nach Angebotsabgabe ist eine „Schattenwertung“, die auch das ausgeschlossene Unternehmen enthält, dringend zu empfehlen. Nur so kann im Falle eines Schadensersatzprozesses der Beweis dafür gelingen, dass zum Zeitpunkt des Ausschlusses der Bieter bereits keine Chance auf den Zuschlag hatte.

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Über Dr. Stefan Schmidt

Der Autor ist Rechtsanwalt bei abante Rechtsanwälte. Als Rechtsanwalt für IT- und Vergaberecht unterstützt er öffentliche und private Auftraggeber bei der rechtssicheren Abwicklung ihrer IT-Projekte, vor allem mit Fokus auf das IT-Vertragsrecht und das IT-Sicherheitsrecht. Zusätzlich verfügt er über Expertise im deutschen und europäischen Kartellrecht.

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2 Kommentare

  1. Rene Watzel

    Kompliment. Toll recherchiert, aufbereitet und auf den Punkt gebracht. Danke, toller Beitrag.

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  2. Matthias Einmahl

    Exzellent wirklich und auch in der Länge der Bedeutung der Entscheidung angemessen. Künftig wird es für öffentliche Auftraggeber, die Vergaben nebenher laufen lassen und damit Mitarbeiter ohne Erfahrung betrauen, schwerer werden. Das wäre auch im Sinne des Steuerzahlers, der darauf Anspruch hat, dass Staatseinnahmen nicht in ineffizienten Beschaffungsstrukturen versickern.

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