Sind die technischen Spezifikationen in den Vergabeunterlagen unter Bezugnahme auf nationale Normen formuliert, die zur Umsetzung europäischer Normen dienen, so ist stets der Zusatz „oder gleichwertig“ hinzuzufügen. Dies ist in Art. 42 Abs. 3 Buchst. b RL 2014/24/EU und entsprechend in § 7a EU Abs. 2 Satz 2 VOB/A sowie § 31 Abs. 2 Satz 2 VgV geregelt. Der EuGH hatte darüber zu entscheiden, ob diese Gleichwertigkeitsklausel auch für sog. harmonisierte Normen Anwendung findet.
§ 7a EU Abs. 2 Satz 2 VOB/A; § 31 Abs. 2 Satz 2 VgV; Art. 42 Abs. 3 Buchst. b RL 2014/24/EU.
Leitsatz
Mitgliedstaatliche Regelungen sind rechtlich unbedenklich, die öffentliche Auftraggeber dazu verpflichten, in Vergabeunterlagen für technische Spezifikationen, die sich auf nationale Normen stützen und europäische Normen (EN) umsetzen – einschließlich harmonisierter Normen nach VO Nr. 305/2011 -, den Zusatz „oder gleichwertig“ vorzusehen.
Sachverhalt
Die bulgarische Gemeinde Pleven schrieb Bauarbeiten aus und bezog sich für Betonbordsteine und Kabel auf nationale EN, ohne den Zusatz „oder gleichwertig“ in die technischen Spezifikationen aufzunehmen. Im Rahmen eines Rechtsstreits argumentierte die Gemeinde, dass die bulgarischen EN für Betonbordsteine und Kabel als harmonisierte Normen i.S.d. VO Nr. 305/2011 (Verordnung zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten) anzusehen seien. Daher würde das Konzept der Gleichwertigkeit bei nationalen EN keinen Sinn ergeben, da das Ziel dieser Normen darin bestehe, eine einheitliche Norm festzulegen. Zudem wies die Gemeinde darauf hin, dass gemäß Anhang VII Nr. 2 RL 2014/24/EU die Einhaltung solcher technischen Spezifikationen nicht verpflichtend sei.
Die Entscheidung
Der EuGH stellt klar, dass gemäß dem Wortlaut von Art. 42 Abs. 3 Buchst. b RL 2014/24/EU der Zusatz „oder gleichwertig“ zwingend hinzuzufügen ist, wenn technische Spezifikationen durch Bezugnahme auf Normen, einschließlich nationaler Normen zur Umsetzung von EN, formuliert werden. Eine Ausnahme für harmonisierte Normen i.S.v. Art. 2 Nr. 11 VO 305/2011 ist hierbei nicht vorgesehen (Rdnr. 32). Dieser Gleichwertigkeitszusatz steht im Einklang mit Anhang VII Nr. 2 RL 2014/24/EU (Rdnr. 33 f.) und wird durch Art. 42 Abs. 5 RL 2014/24/EU bestätigt, der es dem Bieter ermöglicht, in seinem Angebot nachzuweisen, dass die vorgeschlagenen Lösungen den technischen Spezifikationen gleichermaßen entsprechen, falls die angebotenen Bauleistungen nicht die in Bezug genommenen Normen erfüllen (Rdnr. 35). Zudem bekräftigt Erwägungsgrund 74 der RL 2014/24/EU, dass die technischen Spezifikationen öffentlicher Auftraggeber die Vielfalt der am Markt verfügbaren technischen Lösungen widerspiegeln sollen (Rdnr. 36). Daher ist es für den zwingenden Zusatz der Gleichwertigkeit unerheblich, dass die in einer nationalen Norm umgesetzte EN im Verzeichnis der harmonisierten Normen aufgeführt wird (Rdnr. 37).
Rechtliche Würdigung
Das Urteil des EuGH ist zu begrüßen, da es Klarheit im Umgang mit DIN-Normen in technischen Spezifikationen von Vergabeverfahren schafft. Die Regulierung durch Normen ist eine besondere Form der Harmonisierung. Mit der Verpflichtung zur Verwendung von Normen und anderen Formen technischer Spezifikationen in Vergabeverfahren sollen mögliche Hindernisse für ausländische Unternehmen im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen beseitigt werden. Ein Verweis auf DIN-Normen in den technischen Spezifikationen legt somit verbindliche Anforderungen fest, die Bieter zwingend erfüllen müssen. Damit unterliegen die DIN-Normen sowie deren Anwendung den Vorgaben des EU-Vergaberechts. Demnach müssen technische Anforderungen an den Auftragsgegenstand nach § 7a EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A allen Unternehmen zugänglich gemacht und präzise in den Vergabeunterlagen definiert werden. Diese Anforderungen umfassen gemäß Anhang TS Nr. 1 Buchst. a zur VOB/A-EU alle relevanten Materialeigenschaften, Produkt- und Liefermerkmale, um den beabsichtigten Zweck der Vergabe zu erreichen. Dazu zählen Aspekte wie Gebrauchstauglichkeit, Sicherheit, Abmessungen, Qualitätssicherung sowie Planungs-, Kostenrechnungs- und Abnahmevorgaben. Die Spezifikationen können vorrangig auf nationalen Normen basieren, wenn diese EN umsetzen (§ 7a EU Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a VOB/A). Solche Normen werden dabei als technische Spezifikationen behandelt, die von anerkannten Normungsorganisationen, wie dem DIN Deutsches Institut für Normung e.V., für die wiederholte Anwendung entwickelt wurden, deren Einhaltung jedoch grundsätzlich freiwillig ist (siehe Anhang TS Nr. 2 zur VOB/A-EU). Der öffentliche Auftraggeber muss jedoch in Bezug auf Normen stets den Zusatz „oder gleichwertig“ verwenden (§ 7a EU Abs. 2 Satz 2 VOB/A), um eine formale Ablehnung eines Angebots zu verhindern, das die geforderten funktionalen Anforderungen erfüllt, auch wenn es von den spezifischen Normvorgaben abweicht (OLG Frankfurt, Beschl. v. 12.11.2020, 11 Verg 13/20). Bietet ein Unternehmen eine alternative Lösung an, ist diese somit nicht abzulehnen, wenn nachgewiesen werden kann, dass die Lösung den technischen Spezifikationen gleichwertig entspricht. Hierfür eignen sich Prüfberichte oder Zertifikate von akkreditierten Konformitätsbewertungsstellen als anerkannte Nachweise (§ 7a EU Abs. 3 Nr. 1 VOB/A). Dies bedeutet weiter, dass Formulierungen wie „Bauarbeiten sind gemäß den Anforderungen der DIN EN […] durchzuführen“ unzulässig sind. Der Zusatz „oder gleichwertig“ ist auch bei harmonisierten Normen unerlässlich, um zu vermeiden, dass die Bieter die Verweise auf bestimmte technische Spezifikationen als unvermeidliche Anforderungen verstehen. Bei harmonisierten Normen handelt es sich um EN, die im Auftrag der EU von einer anerkannten europäischen Normungsorganisation erarbeitet und im europäischen Amtsblatt veröffentlicht wurden.
Praxistipp
Öffentliche Auftraggeber nutzen häufig Normen und Standards zur Beschreibung von Bauleistungen in Vergabeverfahren, was ihnen zahlreiche Vorteile bietet. Darüber hinaus fördern Normen und Standards die gezielte Berücksichtigung und Durchsetzung von Sicherheits-, Umwelt- und Gesundheitsanforderungen. Durch den Einsatz von Normen wird die Vergabestelle bei der Erstellung von Ausschreibungen spürbar entlastet, während die erzielte Standardisierung eine gesteigerte Qualitätssicherung und Transparenz ermöglicht. Diese Effekte kommen sowohl den öffentlichen Auftraggebern als auch den beteiligten Unternehmen zugute. Bei der Bezugnahme auf Normen hat die Vergabestelle aber sorgfältig zu prüfen, ob die in Bezug genommene Norm einerseits den Anforderungen an Transparenz und Bestimmtheit genügt, und andererseits ist der Verweis auf die Norm um den Zusatz „oder gleichwertig“ zu ergänzen.
Holger Schröder
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss „Fachanwalt für Vergaberecht“ der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.
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