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Zitierangaben: Vergabeblog.de vom 19/05/2025 Nr. 70988

Auftragswertschätzung bei Ausschreibungen von Alttextil-, Altpapier- oder ähnlichen Leistungen

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 06.09.2023 – VII-Verg 11/23

EntscheidungDie Vergütung für die Erbringung ausgeschriebener Leistungen beschränkt sich in der Regel auf die Zahlung eines Entgelts durch den Auftraggeber an den Auftragnehmer. Leistungen im Bereich der Sammlung und Verwertung von Alttextilien und Altpapier oder bei sonstigen Leistungen, bei denen dem Auftragnehmer ein Verwertungsrecht an überlassenen Gegenständen und damit eine Verdienstmöglichkeit zukommt, zeichnen sich häufig durch gegenseitige Zahlungen der Vertragsparteien aus. Hierbei sind zwei Komponenten maßgeblich:

  • zum einen das Entgelt, das der Auftraggeber an den Auftragnehmer für die von diesem zu erbringenden Leistungen zahlt, etwa für die Leerung von Abfallsammelbehältern, für den Transport und die Sortierung des Abfalls (= Entgeltkomponente),
  • zum anderen die Vergütung, die der Auftragnehmer an den Auftraggeber für die Möglichkeit der gewinnbringenden Verwertung zahlt (= Vergütungskomponente).

In Fällen einer solchen gegenseitigen Zahlungsstruktur, die sowohl aus einer Entgelt- als auch aus einer Vergütungskomponente besteht, kann die Beschaffung für den Auftraggeber ein Einnahmeplus bedeuten. Denkbar ist selbstverständlich aber auch, dass das vom Auftraggeber zu entrichtende Entgelt höher ist als die vom Auftragnehmer zu zahlende Vergütung.

In diesen Fällen stellt sich im Vorfeld der Vergabe die Frage, wie sich der geschätzte Auftragswert gem. § 3 VgV zusammensetzt: Kommt es allein auf die Entgeltkomponente an? Spielen beide Komponenten eine Rolle? Inwiefern ist bei der Auftragswertberechnung der Erlös, den die Bieter im Rahmen der Verwertung voraussichtlich erwirtschaften werden, zu berücksichtigen?

Zu diesen Fragestellungen hat das OLG Düsseldorf in seinem bislang unveröffentlichten, aber bestandskräftigen Beschluss vom 06.09.2023 (VII-Verg 11/23) etwas Licht ins Dunkel gebracht. Maßgeblich ist hiernach das Entgelt, das der Auftraggeber an den Auftragnehmer entrichtet zuzüglich der Differenz aus dem vom Auftragnehmer erwirtschafteten Verwertungserlös und der Zahlung an den Auftraggeber.

§ 3 VgV, § 50 Abs. 2 GKG

Sachverhalt

Der Auftraggeber hat die Sammlung, Übernahme, Sortierung und Verwertung von Alttextilien und Altschuhen ausgeschrieben. Im Rahmen eines sofortigen Beschwerdeverfahrens im Nachgang an ein Nachprüfungsverfahren hatte das OLG Düsseldorf nicht nur in der Sache zu entscheiden, sondern auch die Kostenentscheidung zu treffen. Bei der Frage nach der Kostentragung war insbesondere zu klären, in welcher Höhe Kosten für das Beschwerdeverfahren anfallen.

Aus den Erwägungen des Gerichts zur Kostenhöhe im Rahmen des Beschwerdeverfahrens lassen sich Rückschlüsse ziehen für die Auftragswertschätzung im Vorfeld der Ausschreibung.

Die Entscheidung

Die Entscheidung über die Festsetzung des Werts des Beschwerdeverfahrens fußt auf § 50 Abs. 2 GKG, wonach der Streitwert fünf Prozent der Bruttoauftragssumme beträgt. Für die Bestimmung dieser Bruttoauftragssumme zieht das OLG Düsseldorf den Wert des Angebots der Antragstellerin heran.

Laut OLG Düsseldorf sei für die Ermittlung des Bruttoauftragswerts, also für die Ermittlung des Bruttowertes des Angebots der Antragstellerin, vom Auftragsgegenstand auszugehen. Dieser bestehe in der „Übernahme, Lagerung, Sortierung, Behandlung und Entsorgung von Alttextilien und Altschuhen, wobei letztere überwiegend im Wege des Verkaufs zur Weiterverwendung erfolgen soll“.

Sodann wendet sich das Gericht der Vergütungsmodalität zu und führt aus, dass der Auftraggeber für die vorbenannten Leistungen dem Auftragnehmer einen Geldbetrag zu zahlen habe. Zugleich erlange „der Auftragnehmer die teilunentgeltliche Zurverfügungstellung der werthaltigen Alttextilien und Altschuhe“. Für den Erhalt der Alttextilien und -schuhe zahle der Auftragnehmer zwar einen vertraglich festgelegten Betrag an den Auftraggeber. Die überlassenen Textilien könne der Auftragnehmer aber auf eigene Rechnung verwerten: Der im Zuge der Verwertung durch den Auftragnehmer erwirtschaftete Erlös, der den Betrag, den der Auftragnehmer an den Auftraggeber bezahlt hat, übersteigt, stehe dem Auftragnehmer zu. Diese Differenz aus Verwertungserlös und Zahlung an den Auftraggeber sei Teil der Vergütung des Auftraggebers für die Leistungen des Auftragnehmers.

Mit Blick auf die Entgeltlichkeit eines öffentlichen Auftrags gem. § 103 Abs. 1 GWB betont das Gericht, dass diese nicht auf die Zahlung eines Geldbetrags beschränkt sei, sondern jeder vom Auftragnehmer erlangte geldwerte Vorteil zu berücksichtigen sei. Ein geldwerter Vorteil könne in der Übereignung werthaltiger Sachen oder geldwerten Zuwendungen bestehen.

Vor diesem Hintergrund hat das Gericht den im Zeitpunkt der Angebotsabgabe durchschnittlich zu erwartenden Verwertungserlös für 1 Tonne Altkleider und Altschuhe herangezogen und auf dieser Grundlage den erwirtschafteten Erlös der Antragstellerin berechnet.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung überzeugt.

Sie knüpft an die bisherige obergerichtliche Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Auftragswertschätzung bei Altpapier (OLG Celle, Beschluss vom 05.02.2004 – 13 Verg 26/03) bzw. Alttextilien (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.12.2014 – VII Verg 24/14) an, bei der die Vergütung aber – anders als im hier besprochenen Fall – keine Entgeltkomponente aufwies, sondern sich auf die Überlassung des Altpapiers/der Alttextilien und Zahlung eines Betrages des Auftragnehmers an den Auftraggeber beschränkte.

Für die Bestimmung des Bruttoauftragswerts im Zusammenhang mit der Ermittlung der Kosten des Beschwerdeverfahrens ist auf den Gesamtwert des Angebots der Antragstellerin abzustellen. Dieser Gesamtwert setzt sich aus all demjenigen zusammen, das dauerhaft beim Auftragnehmer verbleibt. Hierzu gehört zum einen das Entgelt, das der Auftraggeber für die Erbringung der ausgeschriebenen Leistungen an den Auftragnehmer zahlt. Zum anderen zählt hierzu der Betrag, den der Auftragnehmer durch die Überlassung der Alttextilien und -schuhe erwirtschaftet: Hiermit ist nicht der Wert der überlassenen Textilien gemeint, sondern der Betrag, den der Auftragnehmer durch die Verwertung der Textilien erwirtschaftet abzüglich der Vergütung, die er hierfür an den Auftraggeber zahlt. Diese Differenz verbleibt nach der Verwertung durch den Auftragnehmer und nach der Vergütung des Auftraggebers durch den Auftragnehmer dauerhaft bei letzterem.

Vor diesem Hintergrund kommt es für die Bestimmung des Auftragswertes im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens also weder allein auf die Entgeltkomponente an noch etwa – wovon die Vergabekammer Rheinland im Nachprüfungsverfahren noch ausgegangen war – auf die schlichte Addition von Entgelt- und Vergütungskomponente.

Stattdessen ist die Auftragssumme gem. § 50 Abs. 2 GKG aus Sicht des OLG Düsseldorf wie folgt zu berechnen:

Auftragssumme (§ 50 Abs. 2 GKG) = Entgelt AG an AN + (Verwertungserlös durch AN – Zahlung AN an AG)

Praxistipp

Wenngleich die Bruttoauftragssumme des § 50 Abs. 2 GKG nicht völlig identisch zur (Netto-)Auftragswertschätzung nach § 3 VgV ist, ist beiden jedoch gemein, dass es für ihre jeweilige Bestimmung im Ausgangspunkt auf die Gesamtvergütung bzw. den Gesamtwert des Auftrags ankommt. Ungeachtet der Unterschiede im Detail und ungeachtet des Umstands, dass für die Bruttoauftragswertsumme des § 50 Abs. 2 GKG das Angebot der Antragstellerin und die darin enthaltenen Preisangaben maßgeblich sind, nicht aber die Auftragswertschätzung des Auftraggebers, kann die Entscheidung des OLG Düsseldorf daher im Wesentlichen auf die Auftragswertschätzung des Auftraggebers nach § 3 VgV im Vorfeld der Ausschreibung übertragen werden:

Bei der Schätzung des Auftragswerts ist gem. § 3 Abs. 1 VgV vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Der Gesamtwert besteht nicht nur in dem Entgelt, das der Auftraggeber an den Auftragnehmer zahlt, sondern zusätzlich in jedem (weiteren) vermögenswerten Vorteil. Ein solcher vermögenswerter Vorteil ist vorliegend auch in dem Erlös auszumachen, den der Aufragnehmer mit der Verwertung der ihm überlassenen Textilien erwirtschaftet abzüglich der Vergütung, die er hierfür an den Auftraggeber zahlt. Die Addition von Entgelt und der Differenz aus Erlös und Vergütung an den Auftraggeber ergibt dann den Gesamtwert.

Für Auftraggeber bedeutet dies mit Blick auf die Auftragswertschätzung, dass diese eine Kostenprognose für zwei verschiedene Vergütungsaspekte aufstellen müssen:

  1. Höhe des geschätzten Entgelts, das die Bieter voraussichtlich für die Erbringung ihrer Dienstleistungen verlangen werden.
  2. Höhe des voraussichtlichen Verwertungsüberschusses. Legt man hierfür die oben beschriebene Rechenformel des OLG Düsseldorf für die Auftragssumme gem. § 50 Abs. 2 GKG eins zu eins zugrunde, müsste der Auftraggeber bei der Auftragswertschätzung gem. § 3 VgV sowohl die Vergütung, die vom Auftragnehmer Richtung Auftraggeber fließt, als auch die aktuell marktüblichen Preise für die Verwertung im Blick haben. Der Auftraggeber kann aber lediglich die aktuell marktüblichen Preise für die Verwertung eruieren, nicht aber ohne Weiteres die angebotene Vergütungskomponente voraussagen. Daher dürfte es sich für die Auftragswertschätzung empfehlen, den im Zeitpunkt der Auftragswertschätzung je Tonne marktüblichen Preis für die Verwertung heranzuziehen zuzüglich eines prozentualen Aufschlags. In der Vergangenheit lag dieser Aufschlag nicht selten bei ca. 10 – 15 %. Dieser Erfahrungswert entbindet jedoch nicht davon, den Markt fortlaufend zu erkunden und den Aufschlag für jeden Einzelfall – ggf. unter Heranziehung von Erfahrungswerten aus vorherigen Ausschreibungen – gesondert festzulegen.

Hiernach dürfte sich für die Praxis der Auftragswertschätzung gem. § 3 VgV folgende Rechenformel als sinnvoll erweisen (die ggf. je nach Einzelfall anzupassen ist):

Geschätzter Auftragswert (§ 3 VgV) = Entgelt AG an AN + (Verwertungserlös * 10 bis 15 %)

Der Schätzung des Auftragswertes im Vorfeld der Bekanntmachung kommt nicht nur für die Frage nach dem Erreichen bzw. Überschreiten des Schwellenwertes Bedeutung zu. Daneben ist die belastbar aufgestellte Kostenschätzung auch dann von Belang, wenn ausschließlich unwirtschaftliche Angebote eingegangen sind. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob das Vergabeverfahren gem. § 63 Abs. 1 Nr. 3 VgV aufgehoben werden kann. Für die Beurteilung der Frage, ob die eingegangenen Angebote unwirtschaftlich sind, kommt es auch auf die Auftragswertschätzung des Auftraggebers an, sofern diese ordnungsgemäß erfolgt ist.

Auch vor diesem Hintergrund ist eine belastbare und gut dokumentierte Auftragswertschätzung anzuraten.

Anmerkung
Der Autor war Bevollmächtigter der Antragsgegnerin im Rahmen des hier besprochenen Beschwerdeverfahrens.

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Dr. Daniel Weidemann

Der Autor Dr. Daniel Weidemann ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht im Düsseldorfer Büro der Kanzlei Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB. Er berät primär öffentliche Auftraggeber, aber auch Bieter zu allen vergaberechtlichen Fragestellungen. Neben der Betreuung öffentlicher Auftraggeber bei der Konzeptionierung und Durchführung von Verfahren nach VgV, VOB/A und UVgO begleitet er Unternehmen in Vergabeverfahren (Prüfung von Vergabeunterlagen, Angebotsunterlagen, Rügen). Die Vertretung in Nachprüfungsverfahren vor Vergabekammern und Vergabesenaten bildet einen weiteren Schwerpunkt. Schließlich berät er Fördermittelempfänger bei der Beachtung der Förderauflagen und gegen eine Rückforderung von Zuwendungen bei Auflagenverstößen.

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