Die Behauptung, das Nachprüfungsverfahren sei ein Investitionshindernis, gehört zu den Legenden, die sich hartnäckig halten. In den Koalitionsverhandlungen von Union und SPD ist nun eine Arbeitsgruppe darauf hereingefallen und hat dafür gesorgt, dass im Koalitionsvertrag ab Nr. 2084 zu lesen ist: „Wir werden die Vergabe öffentlicher Aufträge beschleunigen, indem die aufschiebende Wirkung der Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Vergabekammern zu den Oberlandesgerichten entfällt.“ Die Umsetzung dieses Vorschlags, den sich Ahnungslose ausgedacht haben, bewirkte bestenfalls eine 0-Beschleunigung – auf Kosten des Rechtsschutzes.
Hintergrund
Über einen Nachprüfungsantrag entscheidet zunächst eine Vergabekammer. Trotz ihrer gesetzlich verankerten Unabhängigkeit (§ 157 Abs. 1 GWB) ist die Vergabekammer, ähnlich den in Verwaltungsverfahren tätigen Stadt- und Kreisrechtsausschüssen, kein Gericht i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG, sondern als Behörde Teil der Landes- oder Bundesverwaltung. Erst wenn ein Verfahrensbeteiligter gegen eine Entscheidung der Vergabekammer sofortige Beschwerde (§ 171 Abs. 1 GWB) einlegt, wird ein „richtiges“ Gericht mit der Sache befasst. Der Vergabesenat beim Oberlandesgericht (§ 171 Abs. 3 GWB) ist die erste und in der Regel auch einzige gerichtlich Instanz.
Das von der Vergabekammer gemäß § 169 Abs. 1 GWB herbeigeführte Zuschlagsverbot mag man als Investitionshindernis ansehen. Wird der Nachprüfungsantrag als unzulässig verworfen oder als unbegründet zurückgewiesen, endet dieses Zuschlagshindernis grundsätzlich zwei Wochen nach Zustellung der schriftlichen Entscheidung an den Antragsteller. Es verlängert sich kraft Gesetzes (§ 173 Abs. 1 Sätze 1, 2 GWB) um weitere zwei Wochen, wenn der vor der Vergabekammer unterlegene Antragsteller sofortige Beschwerde einlegt. Über diese insgesamt 4 Wochen hinaus kann das Zuschlagsverbot nur durch einen entsprechenden Beschluss des Vergabesenats (§ 173 Abs. 1 Satz 3 GWB) verlängert werden.
Die Idee, die im Koalitionsvertrag ihren Niederschlag gefunden hat, ist wohl die Abschaffung des § 173 Abs. 1 GWB mit der Folge, dass der Auftraggeber alsbald nach seinem Erfolg vor der Vergabekammer den Zuschlag erteilen darf. Das gerichtliche Beschwerdeverfahren diente dann regelmäßig nicht mehr der Einwirkung auf das Vergabeverfahren, sondern allenfalls noch der Feststellung eines Vergaberechtsverstoßes etwa zur Vorbereitung einer Schadensersatzklage. Dies wäre eine massive Einschränkung des bewährten Primärrechtsschutzes.
Tatsachen vs. Märchen
Die angebliche Beschleunigung durch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Maßnahme ist eine Schimäre. Um zu dieser Feststellung zu gelangen, muss man sich nur mit den Zahlen befassen, die in allgemein zugänglichen Informationsquellen wie „Vergabestatistik – Bericht für das Gesamtjahr 2022“ des BMWK (siehe hierzu: Vergabeblog.de vom 07/06/2023 Nr. 53595) zu finden sind.
2022 wurden in Deutschland ca. 189.000 (meldepflichtige; s. § 2 VergStatVO) Aufträge vergeben. Rund 22.000 Aufträge (11,6%) lagen in Oberschwellenbereich und konnten somit theoretisch durch ein Nachprüfungsverfahren verzögert werden. 2023 und 2024 dürften die Zahlen ähnlich gewesen sein. In den letzten Jahren wurden jeweils etwa 750 Nachprüfungsanträge gestellt. Für die im Koalitionsvertrag angesprochen Beschleunigung kämen im Ansatz also 0,004% aller Vergabeverfahren bzw. 3,4% der Oberschwellenvergaben in Betracht. Dieses „riesige“ Beschleunigungspotential reduziert sich aber auf etwa ein 1/3, weil sich etwa 2/3 der Nachprüfungsverfahren durch Antragsrücknahme oder auf sonstige Weise ohne Entscheidung der Vergabekammer in der Hauptsache erledigen. Etwa 80% (ca. 200) der Entscheidungen in der Hauptsache ergehen zugunsten des Auftraggebers. Allerdings werden nicht alle diese Entscheidungen von den unterlegenen Unternehmen angefochten. 2022 gingen 133, im darauffolgenden Jahr 119 sofortige Beschwerden bei den Vergabesenaten ein. Lässt man außen vor, dass sich darunter auch einige isolierte „Kostenbeschwerden“ befunden haben dürften, bleiben 0,5% – 0.6% der Oberschwellenverfahren bzw. 0,0007% aller Vergabeverfahren, deren Abschluss durch die aufschiebende Wirkung 4 Wochen verzögert wurde. Eine Verlängerung des Zuschlagsverbots bis zum Ende des Beschwerdeverfahrens nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB war noch seltener: 17-mal 2022 und 34-mal 2023.
Fazit
Das sind Peanuts, die es nicht rechtfertigen, den bewährten Rechtschutz einzuschränken. Die im Koalitionsvertrag angekündigte Maßnahme ist ein Placebo, genauso wirksam wie homöopathische Zuckerperlchen. Anders als diese hat sie allerdings Nebenwirkungen. Es ist vorhersehbar, dass die faktische Aufwertung der Vergabekammer zur einzigen Primärrechtsschutzinstanz dazu führen wird, dass dort noch härter und ausdauernder gekämpft wird mit der Folge, dass die erstinstanzlichen Verfahren noch länger dauern werden als bisher. Derzeit hat die (verlängerte) aufschiebende Wirkung auch eine kaum zur Kenntnis genommene Schutzfunktion für den Auftraggeber. Wenn er erst nach einer für ihn positiven Entscheidung des Vergabesenats den Zuschlag erteilen darf, ist er auf der sicheren Seite und muss keine Schadensersatzklagen nicht zum Zuge gekommener Unternehmen befürchten. Anders ist es, wenn er bei der Vergabekammer gewinnt und sofort den Zuschlag erteilt, dann aber im Beschwerdeverfahren festgestellt wird, dass der Zuschlag vergaberechtswidrig war.
Alternativen
Statt mit der Verabreichung politischer Placebos Handlungsfähigkeit zu simulieren, sollten sich die politisch Verantwortlichen den tatsächlichen vermeidbaren Verzögerungen zuwenden. Es dauert regelmäßig viel zu lange, bis ausdiskutiert ist, ob und wo eine Straßenquerung gebaut werden soll und ob es eine Brücke oder einer Unterführung sein soll. Innerhalb der Zeit, die für Vorbereitung, Planung und Genehmigung ins Land geht, kann man mehrere Beschwerdeverfahren vor einem Vergabesenat hintereinander durchführen. Ob Verbandsklagen tatsächlich dem Allgemeininteresse dienen, sollte kritisch hinterfragt werden.
Auch im Vergabeverfahren gibt es Beschleunigungspotential. So hat sich beispielweise in vielen kommunalen Gebietskörperschaften immer noch nicht herumgesprochen, dass Entscheidungen in einem Vergabeverfahren demokratischen Mehrheitsentscheidungen nicht zugänglich sind. Nicht selten vergehen Wochen oder Monate, bis nach einer Abstimmung über eine von der Vergabestelle erarbeitete “Beschlussvorlage Vergabevorschlag“ im Kommunalparlament oder in einem Ausschuss der Auftrag vergeben wird.
Wer wirklich das Nachprüfungsverfahren selbst beschleunigen will, muss an anderer Stelle ansetzen werden. Um zu verhindern, dass das Nachprüfungsverfahren zum Investitionshindernis wird, hatte der Gesetzgeber 1998 den Vergabekammern auferlegt, grundsätzlich innerhalb von fünf Wochen über den Nachprüfungsantrag zu entscheiden. Doch das ist inzwischen graue Theorie. Kürzlich konnte man in einer Entscheidung der Vergabekammer Thüringen v. 21.03.2025 (AZ.: 5090-250-4003/490) lesen, dass in einem am 13.11.2024 eingeleiteten Nachprüfungsverfahren mit überschaubarer Sach- und Rechtslage die Entscheidungsfrist mehrmals, zuletzt bis zum 02.04.2025 verlängert worden war. Das ist kein Einzelfall, etwa 60% der Verfahren werden erst nach einer (auch mehrmaligen) Verlängerung der Entscheidungsfrist abgeschlossen. Dem muss durch eine Änderung der §§ 167, 171, 172 GWB ein Riegel vorgeschoben werden. Die Gesamtdauer der Verlängerung ist auf zwei Wochen zu begrenzen. In § 171 Abs. 2 GWB muss – entgegen BGH v. 14.07.2020 – XIII ZB 135/19 – klargestellt werden, dass ein Nachprüfungsantrag mit Ablauf der Entscheidungsfrist ohne Wenn und Aber als abgelehnt gilt und diese Ablehnungsfiktion automatisch eintritt. Weiterhin ist die Vergabekammer zu verpflichten, den Antragsteller unverzüglich über den Eintritt der Ablehnungsfiktion zu informieren. § 172 Abs. 1 GWB ist dahingehend zu ändern, dass die Ablehnungsfiktion binnen zwei Wochen ab Zugang der Mitteilung der Vergabekammer mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden kann.
Dass die 5-Wochen-Frist des § 167 Abs. 1 GWB fast nur noch auf dem Papier steht, liegt wohl nicht an der fehlenden Arbeitsmoral der Mitglieder der Vergabekammern. Der Hauptgrund dürfte sein, dass es nicht überall genügend Vergabekammern gibt und die vorhandenen nicht immer so besetzt sind, dass alle Verfahren regelmäßig binnen 5 Wochen angeschlossen werden können. Es obliegt den politisch Verantwortlichen, tatsächliche Handlungsfähigkeit zu zeigen und diesen Missstand zu beseitigen.

Hermann Summa
RiOLG a. D. Hermann Summa war bis Mitte 2019 Richter am Oberlandesgericht Koblenz und einer der wenigen Richter, die seit 1999 ununterbrochen einem Vergabesenat angehörten, weshalb er mit der Entwicklung und Veränderung des Vergaberechts bestens vertraut ist. Bekannt wurde er als Mitherausgeber und -autor des juris PraxisKommentars Vergaberecht, eine Tätigkeit, die er nach wie vor ausübt. Auch im „Unruhestand“ bleibt er dem Vergaberecht verbunden. Er ist weiterhin Referent auf Fachveranstaltungen und in der Fortbildung tätig.
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