Ein zentrales Thema beim Vergabetag war die Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen IT-Dienstleistern mit den öffentlichen Auftraggebern (Workshop A 3 Neuerungen des S 108 GWB – neuer Schwung für die Digitalisierung in öffentlich-öffentlicher Zusammenarbeit). Spannend bleibt unter europarechtlichen Gesichtspunkten die Inhouse-Vergabe zwischen Halbschwestern. Insbesondere wird abzuwarten sein, ob die Entscheidung des OLG Naumburg (7 Verg 1/22) angesichts des Vergabebeschleunigungsgesetzes Bestand haben wird.
1. Europarechtlicher Rahmen der Inhouse-Vergabe zwischen „Halbschwestern“
Im Bereich der IT sind Kooperationen zwischen den öffentlichen Auftraggebern zwingend notwendig, um die knappen Ressourcen angesichts der dynamischen Entwicklung zu bündeln. In Sachsen-Anhalt stellte sich z. B. die Frage, ob Dataport AöR mit der Kommunalen IT Union oder mit der Gemeinsamen Glücksspielbehörde der Länder (GGL) über die vergabefreie Konstellation der Inhouse Vergabe zusammenarbeiten können. Prima facie spricht einiges dafür, weil an allen Einrichtungen das Land Sachsen-Anhalt beteiligt ist. Aber das alleine scheint nicht auszureichen. Während in der Literatur im Wege der Analogie bzw. erweiternden Auslegung dies für möglich gehalten wird (für viele siehe: M. Schellenberg, Das Vergaberecht als Hindernis für die föderale IT-Kooperation, Rn 21., NJW 2023, S. 3127), war das Land jedoch gehalten, sich an der Entscheidung des OLG Naumburg (7 Verg 1/22) zu orientieren, die den Weg – zumindest nach der gegenwärtigen Rechtslage – durch eine restriktive Auslegung des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung (GWB) versperrte (ähnlich kritisch: Alexander Egger, Art. 12.3 Brussels Commentary, EU Public Procurement Law, Steinicke/Vesterdorf, 2018).
Dies soll sich jetzt durch das Vergabebeschleunigungsgesetz ändern.
Was beide, Gericht und Gesetzgeber, bei ihrer Auslegung des nationalen Gesetzes, des GWB, zu beachten haben, ist jedoch die europäische Richtlinie 2014/24/EU. Bei der Anwendung des Art. 108 ist insbesondere Art. 12 relevant, bei dem es sich um eine der Ausnahmen von dem Grundsatz handelt, dass die Vergabe eines Auftrages nach dem europäischen Vergaberegime erfolgt. So beginnt der einleitende Satz wie folgt: “Ein von einem öffentlichen Auftraggeber an eine juristische Person des privaten oder öffentlichen Rechts vergebener Auftrag fällt dann nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie, wenn alle (sic!) der folgenden Bedingungen erfüllt sind…”
Einem unbefangenen Betrachter fällt auf, dass es sich hier um eine “strikte” Ausnahmeregelung handelt, bei der alle Voraussetzungen gleichzeitig erfüllt sein müssen. Das erste der drei Bedingungen ist das sogenannte “Kontrollkriterium”. Dieses wird nachstehend definiert, um der Bedeutung des Kontrollbegriffs gerecht zu werden. Das heißt, dass der Gesetzgeber – etwas abweichend vom Konzernrecht – einen tatsächlichen und nicht nur nominal beherrschenden Einfluss voraussetzt (funktionales Kontrollkriterium). In Art 12 Abs. 2 der EU-Richtlinie wird dann der Anwendungsbereich auf Einrichtungen erweitert, die der Kontrolle derselben (Mutter-)Gesellschaft unterliegen.
Ob bei strikter Lesart die Richtlinie die Vergabe eines Auftrages einer Halbschwester an eine Halbschwester zulässt, ist fraglich, da die dezidierten Regelungen des Art.12 kaum Spielräume geben. Dagegen spricht insbesondere, dass gerade für den Fall der “unklaren” Kontrollstruktur der Gesetzgeber den Weg der Kooperation nach Art 12 Abs. 4 Richtlinie (vgl. § 108 Abs. 6 GWB), der sogenannten In-State Vergabe, eröffnet hat. Dies ist, wie auch gerade im Bereich der IT sehr häufig der Fall ist, auf Gleichordnung und Zusammenarbeit durch Vertragsschluss zugeschnitten. Die maßgebliche Judikatur des EuGH (insb. C-383/21 und C-384/21) bestätigt eine strikte Dogmatik der vertikalen Inhouse-Vergabe. Die Konstruktion „Schwestern untereinander“ könnte den zulässigen Rahmen überschreiten, wenn keine gemeinsame Muttergesellschaft die Kontrolle über beide Einrichtungen im Sinne des funktionalen Kontrollbegriffs des EuGH ausübt.
Die vom EuGH betonte Kardinalbedingung könnte lauten, dass eine house-Konstellation eine einheitliche, beherrschende Aufsicht durch eine gemeinsame Mutterstelle voraussetzt; parallele, aber nicht identische Aufsichtsstrukturen genügen nicht. Damit korrespondiert die restriktive Linie der Unionsgerichte, die jede Erweiterung über die eng verstandene Mutter-Tochter-Struktur bislang zurückweist. Ob dass OLG Naumburg mit seiner Entscheidung (7 Verg 1/22) auch für den Bundesgesetzgeber einen „Warnschuss“ abgegeben hat, mag dahinstehen. Zumindest stand die Entscheidung nicht im Widerspruch zu dem unionsrechtlichen Kontrollmodell.
2. Kritische Würdigung des Vergabebeschleunigungsgesetzes
Auch wenn die Ansätze des Entwurfes des Vergabebeschleunigungsgesetzes zu öffentlich-rechtlichen Zusammenarbeit insgesamt zu begrüßen sind, so bleibt jedoch folgende Änderung problematisch:
“§ 108 wird wie folgt geändert:
1. b) Nach Absatz 4 Nummer 3 werden die folgenden Sätze eingefügt.
„Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 gelten entsprechend. ….“
Die öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit soll künftig auch für diejenigen Fälle möglich sein, in denen mehrere öffentliche Auftraggeber eine juristische Person im Sinne des Absatzes 4 gemeinsam kontrollieren, die Kontrollbeziehungen aber mittelbar (Absatz 2 Satz 2) beziehungsweise invers oder in einer Schwesterkonstellation (Absatz 3) vorliegen.
In der Begründung steht weiter: “Da die entsprechende Anwendung in der Praxis bisher umstritten ist, erfolgt nun eine ausdrückliche Klarstellung im Gesetz durch Verweis in Absatz 4 Satz 2 auf die entsprechenden Regelungen der alleinigen Kontrolle.” Die Entscheidung des OLG Naumburg hatte eine solche entsprechende Anwendung abgelehnt. Sie ist dogmatisch aufgeladen, weil sie – ohne Vorlage – eine europarechtlich sensible Frage autonom beantwortet. Aus rechtsmethodischer Sicht wäre eine Vorlage nach Art. 267 AEUV sachgerecht und wünschenswert gewesen, da die unionsrechtliche Tragweite über den Einzelfall hinausreicht.
Die Frage bleibt im Fluss, und der deutsche Gesetzgeber versucht jetzt eine nationale Auslegung zu „retten“, deren unionsrechtliche Tragfähigkeit unklar bleibt.
Vielfach wird mit der nationalen Identität des deutschen Staates gemäß Art 4 Abs. 2 EUV argumentiert: “Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.”
Inwieweit die nationale Identität des föderalen deutschen Bundesstaates verletzt wird, wenn keine Zusammenarbeit von Halbschwestern in der IT zugelassen wird, ist nicht nur wegen der In-State Option fraglich. Sicherlich ist nicht der Kernbestand der deutschen Verfassungsidentität berührt. Art. 1 Abs. 4 RL 2014/24/EU der gleichnamigen Richtlinie eröffnet zudem einen vollständigen vergaberechtlichen Ausnahmetatbestand für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (DAWI/SGEI). Deutschland hätte damit die Möglichkeit, etwa Digitalisierungsleistungen als SGEI zu definieren und dem Vergaberecht teilweise zu entziehen. Eine solche nationale Definition wurde jedoch nicht vorgenommen. Art. 1 Abs. 4 bleibt damit ungenutzt und entfaltet keine Wirkung im deutschen Vergaberecht.
Unionsrechtlich bleibt daher dieser Ansatz im Vergabebeschleunigungsgesetz heikel:
- Der EuGH erkennt nationale Identität als Auslegungsmaßstab nur in seltenen Fällen an, Rs. C-157/21 (Polen/Parlament und Rat)
- In Art 1 Abs. 4 der RL 20214/24/EU gibt es bereits eine spezielle Ausnahmevorschrift, sofern Deutschland z. B. die Digitalisierung der Verwaltung als einen Dienst von allgemeinen wirtschaftlichen Interesse definiert hat. Dies ist bislang nicht erfolgt.
- Die RL 2014/24/EU kennt kein Halbschwester-Modell (“kein Familien-Patchwork”).
- Der Art 12 könnte als Ausnahmebestimmung inhaltlich so konkret, klar und genau formuliert sein, dass sie jede nationale Ausdehnung über den Wortlaut angesichts der EuGH-Linie nicht zulässt (vollharmonisiertes Unionsrecht).
- Die spätere EuGH-Kontrolle ist absehbar.
Die Frage, ob dies rechtssicher ist, wird letztlich nur der EuGH klären können. Nationale Gesetzgebung kann unionsrechtliche Grenzen nicht verschieben.
3. Empfehlung: Kooperationsverträge statt Halbschwester-Inhouse
Im Land Sachsen-Anhalt wurde daher bislang das Kooperationsmodell nach Art. 12 Abs. 4 RL (§ 108 Abs. 6) bevorzugt. Diese Fälle zeigen:
- In-State-Vergaben und Kooperationsmodelle sind rechtssicherer, weil sie Art. 12 Abs. 4 RL 2014/24/EU adressieren.
- Der europarechtliche Fokus liegt auf gemeinsamer Aufgabenwahrnehmung, nicht auf dem Austausch marktbezogener Leistungen ohne übergeordnete gemeinsame Steuerung.
Gerade bei IT-Dienstleistern ist die Systematik der Kooperationen sehr gut nutzbar, ohne dass auf teilweise fragwürdige Inhouse Konstellationen Bezug genommen werden muss.
Nach wie vor bleiben Kooperationsverträge vorzugswürdig:
- Rechtssicherheit:
12 Abs. 4 RL 2014/24/EU bietet einen klaren Rahmen für „public-public-cooperation“. - Kontrollmodell entfällt:
Kein Erfordernis einer gemeinsamen Muttereinrichtung; keine Prüfung erforderlich, ob tatsächlich die Kontrolle ausgeübt wird. - Flexibilität im Leistungsinhalt:
Anders als beim Inhouse-Modell können Institutionen gemeinsam Planungs- und Entwicklungsaufgaben durchführen, ohne strenge Bindung an interne Kontrollstrukturen. - EU-Rechtlich stabil: Die Kooperation ist in der EuGH-Rechtsprechung stärker verankert (z. B. Stadt Köln, Piepenbrock).
- Steuerungsmöglichkeiten bleiben gewahrt:
Etwa durch ein wirksames digitales Vertragsmanagement (s. vom gleichnamigen Autor: “IT-Vergabestelle und Vertragsstrategie: Eine integrative Brücke für moderne öffentliche Beschaffung” in: Vergabeblog.de, 9. Oktober 2025, https://vergabeblog.de/2025-10-09/it-vergabestelle-und-vertragsstrategie-eine-integrative-bruecke-fuer-moderne-oeffentliche-beschaffung/, besucht am 24.11.2025.
4. Zusammenfassung
Die nationale Einführung der „Halbschwestern-Inhouse-Vergabe“ durch das Vergabebeschleunigungsgesetz steht im klaren Spannungsverhältnis zur EU-Richtlinie, zur EuGH-Rechtsprechung, welche zwingend eine gemeinsame „Mutterkontrolle“ verlangt. Die Entscheidung des OLG Naumburg sowie die EuGH-Rechtsprechung (C-383/21, C-384/21) bestätigen eher die europarechtliche Unzulässigkeit von Halbschwester-Konstellationen. Ein sicherer Weg bleibt daher die Nutzung von Kooperationsmodellen gemäß Art. 12 Abs. 4 RL 2014/24/EU (§ 108 Abs. 6 GWB).
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Dr. Gábor Spuller
Der Autor ist derzeit im Ministerium für Infrastruktur und Digitales des Landes Sachsen-Anhalt tätig und federführend am Aufbau der IT-Vergabestelle beteiligt. Zuvor war er in der Verwaltungsbehörde für europäische Strukturfonds sowie für europäische Angelegenheiten in Brüssel tätig. Mit dem Wechsel in die Digitalabteilung verbindet sich sein Schwerpunkt auf die Verzahnung von IT-Strategie, Vertragsmanagement und Vergabepraxis. Die Beiträge geben die persönliche Auffassung des Verfassers wieder.


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