Ein Gastbeitrag von Christian Frhr. v. Ulmenstein
Ist ein Nachprüfungsantrag unzulässig, wenn ein öffentlicher Auftraggeber vergaberechtswidrig de-facto Vereinbarungen (hier: über die Versandvorbereitung der Tagespost) abgeschlossen und gerade kein Vergabeverfahren durchgeführt hat?
Sachverhalt
Die Vergabekammer Schleswig-Holstein (Beschl. v. 14.04.2011, VK-SH 06/11) hatte sich hinsichtlich der de- facto- Vergabe von Postdienstleistungen mit der Frage auseinander zu setzen, ob ein übergangener Anbieter von Postdienstleistungen, der diese Leistungen im Wettbewerb zu dem marktbeherrschenden Unternehmen der Deutschen Post AG anbietet, Rechtsschutz bei der Vergabe in Anspruch nehmen und durch Stellung eines Nachprüfungsantrages erreichen kann, dass de- facto- vergebenden Leistungen fortan in einem formellen Vergabeverfahren beschafft werden.
Die Entscheidung der Vergabekammer
Die Vergabekammer stellt den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin nicht zu, da dieser offensichtlich unzulässig sei.
Die Antragstellerin begehre die Verpflichtung des öffentlichen Auftraggebers zur Ausschreibung einer Leistung. Damit sei ihr Antrag auf eine Maßnahme gerichtet, die nicht von §§ 104 Abs. 2, 114 Abs. 1 S. 2 GWB und damit nicht von der Zuständigkeit und Kompetenz der Vergabekammer gedeckt sei. Gemäß § 104 Abs. 2 GWB dürften vor den Vergabekammern nur Rechte aus § 97 Abs. 7 GWB geltend gemacht werden, die auf die Vornahme oder das Unterlassen einer Handlung „in einem Vergabeverfahren“ gerichtet sind. Ein formelles Vergabeverfahren habe die Vergabestelle aber gerade nicht durchgeführt, als sie ihre Postdienstleistungsaufträge de- facto beauftragt habe.
Die Entscheidung des Vergabesenats
Der Senat hat in dem Beschwerdeverfahren grundsätzliche Fragen des Rechtschutzes im Rahmen von de- facto- Vergaben angesprochen. Nach § 97 Abs. 7 GWB bestehe ein gesetzlicher Anspruch der Unternehmen, dass der Auftraggeber die Bestimmungen „über“ das Vergabeverfahren einhält. Eine Beschränkung auf Handlungen oder Unterlassungen „in“ einem Vergabeverfahren ergebe sich daraus nicht.
So könne ein Bieter auch vor Beginn eines „förmlichen“ Vergabeverfahrens einen Antrag auf Vornahme oder Unterlassung vergaberelevanter Maßnahmen stellen, sofern die dafür erforderlichen – weiteren – Voraussetzungen gemäß § 107 Abs. 2 GWB vorliegen. So könne die Vergabekammer nach § 114 Abs. 1 S. 1 GWB schon vorher geeignete Maßnahmen „treffen“, um eine Rechtsverletzung zu beseitigen und eine Schädigung der betroffenen Interessen zu verhindern. Entscheidend sei – so der Senat – danach nicht, ob ein Vergabeverfahren formell eingeleitet worden ist (z.B. durch eine Vergabebekanntmachung) sondern ob sich eine Beschaffungsabsicht eindeutig manifestiert hat. Die Missachtung von materiellen Vergabevorschriften durch den de-facto Abschluss von Verträgen verletze subjektive Rechte von Auftragsbewerbern auch dann, wenn ein öffentlicher Auftraggeber und mindestens ein außenstehender Dritter (Unternehmen) einen entgeltlichen Vertrag im Sinne von § 99 GWB auch außerhalb eines geregelten Vergabeverfahrens abschließt. Auch die angesprochenen Altverträge mit der Deutschen Post AG (sog Teilleistungsverträge) berechtigten nach der Auffassung des Vergabesenates die Vergabestelle nicht, die in Rede stehenden Postdienstleistungen nicht auszuschreiben.
Stellungnahme
Die Entscheidung des Schleswig- Holsteinischen Oberlandesgerichts hat hinsichtlich der Vergabe von Postdienstleistungen für öffentliche Auftraggeber erhebliche Bedeutung. Vergabestellen sind zum Teil seit vielen Jahren mit dem Unternehmen der Deutschen Post AG vertraglich über sogenannte Teilleistungsverträge oder sonstige Zusatzvereinbarungen (Hin+Weg, Frankierservice, Teilleistungsverträge, etc.) verbunden. Die geübte Praxis, den täglichen Postausgang dem Unternehmen der Deutschen Post AG zum Zwecke der bundesweiten Zustellung zu überlassen, ist nach der Auffassung des Vergabesenates vergaberechtswidrig und kann von Wettbewerbern in Vergabeverfahren angegriffen werden. Nicht erst seit der vollständigen Öffnung des Postmarktes im Jahre 2008 könnten Wettbewerber des marktbeherrschenden Unternehmens entsprechende Ansprüche auch ohne weiteres und ohne die „Fristbegrenzung“ des § 101 b Abs. 2 GWB durchsetzen.
In vergaberechtlicher Hinsicht ist die Entscheidung bedeutsam, weil nach der Auffassung des Senats potentielle Wettbewerber nicht erst mit Beginn eines „förmlichen“ Vergabeverfahrens einen Antrag auf Vornahme oder Unterlassung vergaberelevanter Maßnahmen durch die Vergabestelle bei der Vergabekammer stellen können, um eine Ausschreibung der Leistungen zu erreichen. Bisher ist dies anerkannt nur für den Fall, dass ein Auftraggeber ein Vergabeverfahren aufgehoben hat und ein Auftragsinteressent sich gegen diese Aufhebung wehrt (vgl. BGH, Beschl. v. 18.02.2003, X ZB 43/02).
Nicht angesprochen ist das für den Beschluss nicht entscheidungserhebliche „Spannungsverhältnis“ zwischen der Vorschrift des § 101 b Abs. 2 GWB zu § 97 Abs. 7 GWB, das noch einer weiteren Beleuchtung bedarf. Gemeinschaftsrechtlich ergibt sich für den öffentlichen Auftraggeber jedenfalls eine Kündigungspflicht vergaberechtswidrig und de-facto abgeschlossener Dauerschuldverhältnisse (vgl. EuGH, Urt. v. 18.11.2004, C 126/03).
Den Beschluss des OLG Schleswig vom 07.10.2011 – 1 Verg 1/11, finden Sie zum Download im Vergabeblog hier.
Der Autor Christian Frhr. v. Ulmenstein ist Namensgeber der Kanzlei ULMENSTEIN Rechtsanwälte, Hannover, die sich auf das Vergaberecht ausgerichtet hat. Der Autor berät und vertritt öffentliche Auftraggeber aber auch Bieter in Vergabeverfahren. Mit dem besonderen Bereich der Vergabe von Postdienstleistungen ist die Kanzlei bereits seit 2002 befasst.
1 Kommentar