In jüngster Zeit hat ein Rechtsgutachten zur Geltung des Tariftreue- und Vergabegesetzes für die Erteilung neuer PBefG-Liniengenehmigungen in Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2013 für Aufsehen gesorgt. Dieses Gutachten ist im Auftrag der Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) sowie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erstellt worden. Im Ergebnis erklärt dieses Gutachten das Tariftreue- und Vergabegesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (TVgG-NRW) auch bei der Erteilung von Konzessionen seitens der Genehmigungsbehörden für anwendbar. Dies hätte zur Folge, dass sich die Verkehrsunternehmen in Nordrhein-Westfalen bei Genehmigungserteilung gegenüber der zuständigen Bezirksregierung verpflichten müssten, den repräsentativen Spartentarifvertrag TV-N bei der Entlohnung ihrer Beschäftigten anzuwenden.
Dieses Ergebnis ist in mehrfacher Hinsicht nicht haltbar. Erstens ist eine solch weite Auslegung des TVgG-NRW nicht durch die europarechtliche Ermächtigungsgrundlage des Art. 4 Abs. 5 und 6 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 (VO 1370/07) gedeckt. Dort heißt es – ebenso wie im Erwägungsgrund 17 zur VO 1370/07 – dass die zuständigen Behörden bestimmte Sozial- und Qualitätsstandards „im Einklang mit dem nationalen Recht“ verlangen können. Für das deutsche Recht ist an dieser Stelle § 97 Abs. 4 Satz 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von Bedeutung. Danach dürfen Auftraggeber für die Auftragsausführung „andere oder weitergehende Anforderungen …an Auftragnehmer“ nur dann stellen, „wenn dies durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist.“ Das TVgG-NRW ist zwar ein solches Landesgesetz. Allerdings handelt es sich bei der Erteilung der Linienkonzession an das jeweilige Verkehrsunternehmen nicht um die Ausführung eines öffentlichen Auftrags im Sinne des § 99 GWB, sondern vielmehr um einen einseitigen Hoheitsakt. Von daher stände die Anwendung des TVgG-NRW im Bereich der Konzessionserteilung nicht „im Einklang mit dem nationalen Recht“ und wäre folglich auch nicht von der Ermächtigungsgrundlage des Art. 4 Abs. 5, 6 VO 1370/07 gedeckt.
Zweitens gewährt die Genehmigungsbehörde dem Verkehrsunternehmen auch kein ausschließliches Recht als Gegenleistung für die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen (vgl. Art. 3 Abs. 1 der VO 1370/07). Dies wäre aber Voraussetzung für die Anwendbarkeit des TVgG-NRW. Gemäß seinem § 2 Abs. 2 ist das TVgG-NRW nämlich im Bereich des ÖPNV insbesondere für Dienstleistungsaufträge im Sinne der VO 1370/07 anwendbar. Ein solcher öffentlicher Dienstleistungsauftrag (ÖDA) muss aber nur dann abgeschlossen werden, wenn „eine zuständige Behörde dem ausgewählten Betreiber ausschließliche Rechte …für die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen“ gewährt. Dabei kann die umstrittene Frage, ob die Linienkonzession ein ausschließliches Recht darstellt oder nicht, an dieser Stelle offen bleiben. Denn jedenfalls fehlt es an einer Leistungsbeziehung („für die Erfüllung…“) zwischen dem Verkehrsunternehmen und der Genehmigungsbehörde: Zum einen ist schon keine Leistung des Verkehrsunternehmens an die Genehmigungsbehörde ersichtlich. Dessen Verpflichtung zur Erbringung bestimmter Verkehre entsteht nämlich bereits durch den Abschluss des ÖDA mit dem Aufgabenträger. Zum anderen kann aber auch die Liniengenehmigung nicht als Gegenleistung qualifiziert werden. Vielmehr stellt sie ein hoheitliches Instrument dar, das rein ordnungspolitische Zwecke verfolgt.
Drittens verbietet auch die Auslegung des TVgG-NRW eine Interpretation, die das Gesetz auf Linienkonzessionen anwenden will. So werden nach dem Willen des Gesetzgebers weder eigenwirtschaftliche Verkehre noch Inhouse-Vergaben nach den „Teckal“-Kriterien vom TVgG-NRW erfasst. Würde man das Gesetz aber auf das Verhältnis Genehmigungsbehörde/Verkehrsunternehmen ausweiten, so würden diese Verkehre – quasi durch die Hintertür – doch wieder vom TVgG-NRW erfasst werden. Auch vom Wortlaut her wird deutlich, dass das Gesetz vergaberechtlichen Charakter hat. So heißt schon das Gesetz selbst „Gesetz über die Sicherung von Tariftreue … bei der Vergabe öffentlicher Aufträge“. Darüber hinaus sind viele Vorschriften ausschließlich auf typisch vergaberechtliche Situationen zugeschnitten, in denen sich der Aufgabenträger und das Verkehrsunternehmen nicht – wie im Verhältnis Genehmigungsbehörde/Verkehrsunternehmen – in einem Über-/Unterordnungsverhältnis, sondern in einem Austauschverhältnis als gleichberechtigte Geschäftspartner gegenüberstehen. Schließlich zeigt auch ein Vergleich mit entsprechenden Gesetzen anderer Bundesländer, die erklärtermaßen das TVgG-NRW als Orientierungshilfe verwendet haben, dass das TVgG-NRW nicht auf die Erteilung von Linienkonzessionen ausgeweitet werden kann.
Da das Rechtsgutachten weit gestreut wurde und durchaus auf fruchtbaren Boden gestoßen ist, empfiehlt es sich, mit der jeweiligen Bezirksregierung Rücksprache zu halten und – wenn nötig – mit stichhaltigen Gegenargumenten das Ergebnis des Gutachtens zu entkräften. Ferner ist zu beachten, dass das Gutachten über das TVgG-NRW hinaus auch für die entsprechenden Tariftreue- und Vergabegesetze anderer Bundesländer von Bedeutung ist. Denn diese sind nach dem gleichen Muster wie das TVgG-NRW gestrickt, so dass auch die im Gutachten verwendete Argumentationslinie 1:1 auf sie zutrifft.
Die Autoren Bettina Werres und Sascha F. Schaefer sind Rechtsanwälte bei der PricewaterhouseCoopers Legal Rechtsanwaltsgesellschaft AG (PwC Legal). Beide sind spezialisiert in der Rechtsberatung rund um den Öffentlichen Personenverkehr (ÖPNV). Gegenstand ihrer Beratung sind sowohl Direktvergaben und wettbewerbliche Verfahren nach der VO (EG) 1370/2007 (Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste) als auch die Vergabe von öffentlichen Dienstleistungsaufträgen über öffentliche Personenverkehrsdienste mit Bussen und Straßenbahnen nach dem allgemeinen Vergaberecht (GWB, VgV, VOL/A, SektVO). Die Autoren gehören dem zehnköpfigen, in Düsseldorf angesiedelten Team "Verkehr" von PwC Legal an. Dieses berät in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg im Bereich Verkehr in allen rechtlichen, steuerlichen und strategischen Fragen.
Die beiden Autoren blenden die europarechtliche Grundlage des deutschen GWB völlig aus. Nach Art. 51 EG-Vertrag kommen die allgemeinen Vergaberichtlinien 2004/17 und 2004/18 für öffentliche Dienstleistungsaufträge im Sinne der VO1370 nicht zur Anwendung, mithin gilt das GWB nicht. För öffentliche Dienstleistungsaufträge gelten die Regeln der VO1370 direkt und unmittelbar. Demnach ist die Genehmigungsbehörde eine zuständige Behörde und die Vergabe einer Liniengenehmigung (und nicht Kozession!) ein öffentlicher Dienstleistungsauftrag im Sinne der VO1370. Wahrscheinlich verwechseln die Autoren dieselbe Begrifflichkeit des „öffentlichen Dienstleistungsauftrages“ im Sinne der VO1370 mit denen im Sinne der Vergaberichtlinien 2004/17 bzw. 2004/18.
Diese mussten erst in nationales Recht umgesetzt werden, was in deutschland durch das GWB geschah. Insofern geht die Argumentation der beiden Autoren fehl und berücksichtigt nicht die Dualität zweier verschiedener Inhalt unter demselben Begriff. Schade.
Der Kommentator geht Recht in der Annahme, dass die VO 1370/2007 den Vergaberichtlinien 2004/17 und 2004/18 sowie dem nationalen Recht, namentlich dem GWB, vorgeht. Dies gilt allerdings nur so lange, wie die VO 1370/2007 sich nicht selbst „zurücknimmt“ und auf diese Regelungen verweist (wie etwa Art. 5 Abs. 1 der VO 1370 mit Blick auf die Vergaberichtlinien). Ein solcher Verweis findet sich für das nationale Recht in dem von uns zitierten Art. 4 Abs. 5 und Abs. 6 der VO 1370/2007. Dies hat zur Folge, dass das nationale Recht, hier also das GWB, ohne weiteres zur Anwendung kommt. Auf die Dualität von Begrifflichkeiten kommt es daher nicht an.