Im ersten Teil dieses Beitrags wurde die neuen Regeln für In-House-Geschäfte und Interkommunale Kooperationen sowie das neue Verfahren der „Innovationspartnerschaft“, das Gebot der Losvergabe und die neuen Anforderungen an die Bietereignung besprochen. Der zweite Teil des Beitrags gibt ein Überblick über wichtige Neuerungen bei den Zuschlagskriterien, Unterkostenangeboten, wesentlichen Vertragsänderungen und nachrangigen Dienstleistungen.
6. Zuschlagskriterien – Artikel 67
Das Zuschlagskriterium des “wirtschaftlich günstigsten Angebots” wurde im Vergleich zu Artikel 53 der Richtlinie 2004/18/EG um Qualitäts-, Umwelt- und Sozialaspekte erweitert. Außerdem soll die Innovation eines Angebots stärker berücksichtigt werden können, ohne den Preis außer Acht zu lassen. Für den Lebenszykluskostenansatz, der nun ebenfalls als Wertungskriterium aufgenommen wurde, enthält Artikel 68 detaillierte Vorgaben zur Berechnung.
Artikel 67 Abs. 5 stellt ausdrücklich klar, dass Auftraggeber die Zuschlagsentscheidung allein nach dem Kriterium des niedrigsten Preises treffen können. Die in Deutschland lange Zeit streitige Frage nach der Zulässigkeit einer reinen Preiswertung ist damit für die Zukunft geklärt.
Allerdings: Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass Auftraggeber bei bestimmten Aufträgen nicht den Preis oder die Kosten allein als einziges Zuschlagskriterium verwenden dürfen. Ob und für welche Branchen der deutsche Gesetzgeber hiervon Gebrauch macht, darf mit Spannung erwartet werden. In einigen Branchen wie den Reinigungsdienstleistungen oder im Druckgewerbe beklagen Marktakteure seit Längerem einen von öffentlicher Hand befeuerten Preiskampf, bei dem qualitative Aspekte kaum noch eine Rolle spielen. Dabei ist die Vorliebe für reine Preiswertungen häufig auf die Unsicherheit beim rechtssicheren Umgang mit komplexen Wertungssystemen und auf klamme Kassen der öffentlichen Hand zurückzuführen.
7. Aufgabe der Trennung von Eignungs- und Zuschlagskriterien – Artikel 67
Die strikte Trennung von Eignungs- und Zuschlagskriterien wird bei „persönlichen“ Dienstleistungen aufgegeben.
Wenn die Qualität des eingesetzten Personals erheblichen Einfluss auf das Niveau der Auftragsausführung haben kann, dürfen nach Artikel 67 Abs. 2 lit. b) die Organisation, die Qualifikation und die Erfahrung des einzusetzenden Personals künftig als Zuschlagskriterien berücksichtigt werden.
Diese Neuerung hat der deutsche Gesetzgeber mit Blick auf die bevorstehende Richtlinie zumindest für nachrangige Dienstleitungen (Anhang I B) bereits mit der 7. Änderung der VgV umgesetzt. Im Blick hatte er hier vor allem Arbeitsmarktdienstleistungen. Die auf Organisation, Qualifikation und Erfahrung bezogenen Zuschlagskriterien sollen jedoch höchstens 25 % der gesamten Gewichtung ausmachen. Das bedeutet aber nicht, dass die übrigen 75 % der Wertung auf den Preis entfallen müssen. Sie dürfen lediglich keine weiteren eignungsbezogenen Zuschlagskriterien enthalten.
Weitere wichtige Einschränkung: Derartige Zuschlagskriterien müssen stets über den für die Eignung geforderten Umfang hinausgehen. Das bedeutet, dass in der Eignung berücksichtigte Kriterien nicht nochmals auf Ebene der Wertung eine Bedeutung haben dürfen („Verbot der Doppelberücksichtigung“).
8. Unterkostenangebote – Artikel 69
Die Regeln für den Umgang mit Angeboten, deren Preise ungewöhnlich niedrig sind, werden verschärft. Die Richtlinie regelt nun detailliert, welche Angaben Auftraggeber von Bietern verlangen können, wenn der Verdacht eines Unterkostenangebots im Raum steht. Hierzu zählen insbesondere
· die Wirtschaftlichkeit des Fertigungsverfahrens, der Erbringung der Dienstleistung oder des Bauverfahrens
· die gewählten technischen Lösungen oder alle außergewöhnlich günstigen Bedingungen, über die der Bieter bei der der Lieferung der Waren oder der Erbringung der Dienstleistung sowie der Durchführung der Bauleistungen beziehungsweise der Waren verfügt
· die Originalität der angebotenen Leistungen.
Anhand dieser Informationen bewertet der Auftraggeber, ob das Angebot unauskömmlich ist und schließt es gegebenenfalls aus. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage, ob der Bieter seine umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen einhält.
Ähnlich wie bei der Eignung (Artikel 57 der Richtlinie) darf ein Bieter jedoch nicht ohne Anhörung vom Verfahren ausgeschlossen werden.9. Vertragsänderungen – Artikel 72
Der neue Artikel 72 regelt nun erstmals, unter welchen Voraussetzungen Änderungen an laufenden Verträgen eine Pflicht zur Neuausschreibung begründen. Die Richtlinie setzt die Vorgaben des EuGH aus dem „Pressetext“-Urteil (19.6.2008, Rs. C-480/06) um und enthält zudem präzisierende Bestimmungen. Danach bedarf es insbesondere keiner Neuausschreibung, wenn
· Zusatzleistungen ungeachtet ihres Umfangs bereits im Ursprungsvertrag klar, präzise und eindeutig angelegt sind
· unvorhergesehene Zusatzleistungen aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen nur von dem bisherigen Auftragnehmer erbracht werden können und diese Leistungen weniger als 50 % des ursprünglichen Auftragswerts ausmachen
· sich die Person des Auftragnehmers aufgrund einer Umstrukturierung ändert
Eine besonders weitreichende Ausnahme enthält Artikel 72 Abs. 2: Kleinere Zusatzleistungen dürfen hiernach ohne Weiteres beauftragt werden, wenn sie den Schwellenwert nicht überschreiten und nicht mehr als 10 % (Bau: 15 %) des ursprünglichen Auftragswerts ausmachen. Bei einem Lieferwert von ca. Euro 2 Mio. dürfte ein Auftraggeber also Zusatzleistungen von ca. Euro 200.000 ausschreibungsfrei beauftragen. Mehrere aufeinander folgende Änderungen werden aber wertmäßig addiert.
10. Unterscheidung zwischen A und B-Dienstleistungen fällt weg – Artikel 74
Die bisherige Unterscheidung zwischen prioritären (Anhang I A) und nicht-prioritären (Anhang I B) Dienstleistungen wird aufgegeben. Die ursprüngliche Begründung der EU-Kommission, die Anhang I B-Dienstleistungen seien nicht binnenmarktrelevant, wird von dieser nicht mehr vertreten.
Allerdings wird es weiterhin Unterschiede geben: So sollen bestimmte „soziale und andere besondere Dienstleistungen“ erst ab einem Schwellenwert von Euro 750.000 unter die neue Richtlinie fallen (Artikel 4 lit. d)). Zudem gelten für diese Dienstleistungen nur wenige Basisregeln wie die vorherige Ankündigung und die nachträgliche Bekanntmachung vergebener Aufträge (Artikel 74 ff.) Die genauere Ausgestaltung des Verfahrens für diese Dienstleistungen bleibt den Mitgliedstaaten vorbehalten.
Eine Auflistung der erfassten Dienstleistungen enthält Anhang XIV der Richtlinie. Hierzu zählen etwa Gesundheits-, Sozial- und Bildungsdienstleistungen, ein großer Teil juristischer Beratungsleistungen sowie Postdienste.
Fazit – Nichts ist beständiger als der Wandel
An einigen Stellen enthält das neue Regelwerk erfreuliche Klarstellungen, Flexibilisierungen und Vereinfachungen. Anderenorts, etwa bei den „besonderen Dienstleistungen“, wird die Komplexität nicht aufgegeben, sondern nur durch eine neue ersetzt. Deshalb kann von einer Vereinfachung wie schon bei den 2004er-Richtlinien leider keine Rede sein.
Wie geht es nun weiter? Nach einer förmlichen Verabschiedung der bereinigten Fassung der Richtlinien durch das EU-Parlament muss ihnen noch der Ministerrat zustimmen. 20 Tage nach der Veröffentlichung im Amtsblatt der EU treten sie in Kraft. Damit wird noch im Frühjahr 2014 gerechnet. Nach diesem Stichtag haben die Mitgliedstaaten 24 Monate Zeit, die umfassenden Bestimmungen in nationales Recht umzusetzen. Hierfür ist der deutsche Gesetzgeber nicht zu beneiden. Ob die Umsetzung im bekannten Kaskadenprinzip mit einer weiteren Verordnung für Konzessionen oder – wie in Österreich – in einem einheitlichen Vergabegesetz erfolgt, ist noch ungewiss. Als sicher dürfte aber gelten, dass auch das neue Vergaberecht die Nachprüfungsinstanzen beschäftigen wird.
Herr Dr. Daniel Soudry ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner der Sozietät SOUDRY & SOUDRY Rechtsanwälte (Berlin). Herr Soudry berät bundesweit öffentliche Auftraggeber und Unternehmen bei Ausschreibungen, in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren und im Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Darüber hinaus publiziert er regelmäßig in wissenschaftlichen Fachmedien zu vergaberechtlichen Themen und tritt als Referent in Fachseminaren auf.
Der Rat hat die Richtlinien am 11. Februar ebenfalls angenommen.