Die Aufhebung einer Ausschreibung ist rechtswidrig, wenn dem Auftraggeber die tatsächlichen Grundlagen diese Entscheidung bereits vor Einleitung des Vergabeverfahrens vorliegen
Fehler passieren. Auch in Vergabeverfahren. Nicht selten werden diese Fehler auch von den Bietern nicht gerügt. Sei es, dass sie diese Fehler nicht erkannt haben, oder dass sie durch die Rüge ihre Chance im Vergabeverfahren nicht beeinträchtigen wollen. Müssen diese Fehler dann korrigiert werden, greift der Auftraggeber nicht selten zu zwei vermeintlichen Allheilmitteln. Zum einen beruft er sich darauf, dass nach dem Bewerbungsbedingungen einen Verzicht auf die Auftragserteilung ausdrücklich vorbehalten ist. Zum anderen die Aufhebung der Ausschreibung. Die Bieter werden dann damit beruhigt, dass Ihnen mitgeteilt wird, es werde derzeit geprüft, „ob eine neue Ausschreibung in gleicher oder veränderter Form erfolgen werde“.
Beide Allheilmittel haben hier dem Auftraggeber nicht geholfen. Denn der grundlegende Vergaberechtsverstoß, dass die Fehler vor Beginn des Vergabeverfahrens gemacht wurden, lässt sich durch die Aufhebung der Ausschreibung nicht heilen (OLG Naumburg, Beschluss vom 27.02.2014 – 2 Verg 5/13).
VOL/A 2009 § 20 EG Abs. 1 b, c, d
Leitsätze (amtlich, vom Autor angepasst)
Sachverhalt
Der Auftraggeber will eine neue Wärmeerzeugungsanlage planen und errichten lassen. Er beschließt, dies entweder im Wege der Eigenversorgung (Bauauftrag einschließlich Energieträgerlieferungsvertrag) oder im Wege des Betreibermodells (Energieliefer-Contracting) zu realisieren. Gegenstand der europaweiten Ausschreibung im offenen Verfahren wird nur das Betreibermodell (10-Jahres Wärmelieferungsvertrag einschließlich Betriebsführung und Instandhaltung der zu errichtenden Wärmeerzeugungsanlage und des Leitungsnetzes).
Die Bekanntmachung und die Vergabeunterlagen enthaltenen Widersprüche u.a. im Hinblick auf die Zuschlagskriterien. Die Bewerbungsbedingungen sehen zudem vor, dass sich der Auftraggeber vorbehält auf die Auftragserteilung zu verzichten, wenn die Eigenversorgung wirtschaftlicher ist, als das ausgeschriebene Betreibermodell.
Nach Auswertung der Angebote gelangt der Berater des Auftraggebers zu dem Ergebnis, dass die Eigenversorgung wirtschaftlicher ist, falls der Auftraggeber die nötigen finanziellen Mittel bereitstellen kann. Nachfolgend hebt der Auftraggeber die Ausschreibung auf und stützte seine Entscheidung darauf, dass es im Vergabeverfahren kein wirtschaftliches Ergebnis gegeben hat und dass Widersprüche in den Vergabeunterlagen sowie Bedenken hinsichtlich der Einhaltung des Transparenzgebotes bestehen.
Die Entscheidung
Vergabekammer und Vergabesenat gelangen zu der dem Ergebnis, dass die Aufhebung der Ausschreibung rechtswidrig war.
Das OLG Naumburg wendet auf den vorliegenden Vertrag die VOL/A an, da es sich um einen leistungsartengemischten Vertrag handelt, dessen Schwerpunkt – Wärmeliefercontracting – eine Dienstleistung darstellt. Folgerichtig beurteilt es die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Ausschreibung nach § 20 EG Abs. 1 VOL/A. Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor.
1. Das Gericht weist zunächst darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des BGH der notwendige schwerwiegende Aufhebungsgrund nur dann eine Aufhebung rechtfertigen kann, wenn er erst nach Beginn der Ausschreibung eingetreten ist und dem Ausschreiben vor Beginn der Ausschreibung nicht bekannt war bzw. nicht bekannt sein musste. Ob die tatsächlichen Voraussetzungen der schwerwiegenden Grundes und des Zeitpunktes der Kenntnis vorliegen, ist von den Nachprüfungsinstanzen und den Gerichten uneingeschränkt überprüfbar und zwar auch insoweit, als die Tatbestandsalternativen unbestimmten Rechtsbegriffe enthalten.
2. Das Ergebnis der Angebotsauswertung, dass die Eigenversorgung wirtschaftlicher ist, als das ausgeschriebene Betreibermodell, lässt den Beschaffungsbedarf nicht entfallen, sondern verändert Ihnen lediglich. Denn der Auftraggeber geht weiter davon aus, einen erheblichen Teil der ausgeschriebenen Leistungen, hier die Bauleistungen und die Lieferleistungen von einem Dritten zu beschaffen. Er erwägt lediglich den Eigenbetrieb der Wärmeerzeugungsanlage. Der Senat zeigt erhebliche Zweifel daran, ob sich der Auftraggeber auf eine erhebliche Veränderung des Beschaffungsbedarfes als Aufhebungsgrund im Sinne von § 20 EG Absatz 1 lit. b) VOL/A berufen kann, weil sich dem Inhalt der Vergabedokumentation nicht entnehmen lässt, dass die Voraussetzungen für eine Eigenversorgung vorliegen bzw. geschaffen werden können. Insbesondere fehlt es an einer nachweislichen Prüfung der Frage, ob die Eigenversorgung finanzierbar ist. Der Senat lässt dieses jedoch im Ergebnis offen, weil die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Ausschreibung daran scheitert, dass der Auftraggeber die Ausschreibung vor der Herstellung der Ausschreibungsreife (§ 2 EG Abs. 3 VOL/A) begonnen hat. Dem Auftraggeber lag bei Beginn des Vergabeverfahrens eine Kostenschätzung für die Betreibervariante vor. Eine Kosten- und Wirtschaftlichkeitsberechnung für die Eigenversorgung, wie er sie später im Rahmen der Angebotsauswertung vorgenommen hat, hätte er schon vor Beginn des Vergabeverfahrens (Absendung des Textes der Vergabebekanntmachung) zur Herstellung der Ausschreibungsreife erstellen können und müssen.
3. Der Auftraggeber kann sich auch nicht darauf berufen, dass die Ausschreibung kein wirtschaftliches Ergebnis hatte (§ 20 EG Absatz 1 lit. c VOL/A). Ein unwirtschaftliches Ergebnis liegt nur dann vor, wenn die von den Bietern angebotenen Lösungen unter Berücksichtigung der Vorgaben der Vergabeunterlagen objektiv nicht den gebotenen Marktverhältnissen entsprechen. Einen solchen Vergleich hat der Auftraggeber nicht dargelegt. Der von ihm angestellte Vergleich zwischen Eigenversorgungsmodell und Betreibermodell rechtfertigt nicht diese Aufhebung, weil dem Eigenversorgungsmodell ein grundlegend anderes Leistungssoll zugrunde liegt.
4. Der Auftraggeber kann sich auch nicht wegen der anderen Vergaberechtsverstöße auf einen schwerwiegenden Grund zur Aufhebung der Ausschreibung im Sinne von § 20 EG Abs. 1 d VOL/A berufen. Denn sämtliche vom Auftraggeber selbst angeführten Fehler seiner Ausschreibung sind vor Beginn der Ausschreibung gemacht worden. Zwar haben die Bieter die Vergaberechtswidrigkeit nicht gerügt und im Ergebnis wertungsfähige Hauptangebote abgegeben. Der Dokumentation das Vergabeverfahrens ist aber nicht zu entnehmen, dass der Auftraggeber die Interessenlage der Bieter in seine Entscheidung einbezogen hat und beispielsweise die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Beseitigung der Vergaberechtsverstöße im laufenden Vergabeverfahren, etwa durch Zurückversetzung in den vorigen Stand, geprüft hätte.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung ist gut strukturiert und in sich logisch. Sie bewegt sich auf der Grundlage bekannter höchstrichterlicher Rechtsprechung.
Leider geht das OLG nicht darauf ein, dass sich der Auftraggeber in den Bewerbungsbedingungen ausdrücklich vorbehalten hat, auf die Auftragserteilung zu verzichten, wenn eine Vergleichsanalyse ergibt, dass sich bei Eigenerrichtung und -betrieb der Anlage ein wirtschaftliche Vorteil begründen lässt. Hier hätte durchaus problematisiert werden können, ob dieser Aspekt, der wohl vorher von den Bietern nicht gerügt worden ist, das Vertrauen darauf, dass die Ausschreibung nur durch Zuschlagserteilung beendet wird, beseitigt.
Eine Absage erteilt das OLG auch dem Gegenangriff des Auftraggebers, der beantragt hatte, die Rechtmäßigkeit der Aufhebung festzustellen. Das Nachprüfungsverfahren dient der Durchsetzung vergaberechtlicher Bestimmungen, soweit eine Verletzung subjektiver Rechte des Antragstellers vorliegt. Ausnahmen bestehen nur im Falle des § 101 b GWB und § 114 Abs. 2 Satz 2 GWB. Für einen Antrag auf positive Feststellung der Rechtmäßigkeit der Aufhebung besteht kein Rechtsschutzbedürfnis. Auch dieses Ergebnis ist zutreffend, weil der Auftraggeber durch die Entscheidung der Nachprüfungsinstanzen über die beantragte Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufhebung der Ausschreibung hinreichend Klarheit über die Rechtmäßigkeit seines Vorgehens erhält.
Es ist eine der wenigen Entscheidungen, bei denen der Verpflichtung zur Herstellung der Ausschreibungsreife entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt. Und bei denen die Verletzung dieser Verpflichtung dazu führt, dass der Auftraggeber im Nachprüfungsverfahren unterliegt. Wünschenswert wäre es, wenn die Gerichte auch diesem Punkt zukünftig mehr Beachtung schenken.
Große Bedeutung hatte im Rahmen dieser Entscheidung auch die Qualität der Vergabedokumentation. Sie zeigt einen in der Praxis nicht selten anzutreffenden Verbesserungsbedarf beim Auftraggeber. Gerade im Hinblick auf die Dokumentation von Ermessensentscheidungen ist in der Rechtsprechung die Tendenz zu beobachten, dass dem Auftraggeber größere Sorgfalt abverlangt wird. Und womit? Mit Recht!
Oliver Weihrauch arbeitet seit 1995 als Rechtsanwalt, Referent und Autor im Bereich des Vergaberechts. Als of counsel in der Sozietät caspers mock Anwälte berät und vertritt er von Bonn aus bundesweit Auftraggeber und Bieter in Vergabeverfahren und Nachprüfungsverfahren. Im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) ist er im Vorstand der Regionalgruppe Köln|Bonn|Koblenz.
Dem in der rechtlichen Würdigung angesprochenen Argument des möglicherweise fehlenden Vertrauensschutzes auf Seiten der Bieter, weil darauf hingewiesen wurde, dass der Zuschlag unter dem Vorbehalt einer wirtschaftlichen Vergleichsbetrachtung stehe, ist m.E. § 2 EG Abs. 3 VOL/A entgegen zu halten.
Danach ist es unzulässig Vergabeverfahren lediglich zur Markterkundung und zum Zwecke von Ertragsberechnungen durchzuführen.
Der Vorbehalt einer Vergleichsbetrachtung mit einem alternativen Modell – das nicht ausgeschreiben wurde – würde m.E. aber dem Rechtsgedanken dieser Vorschrift widersprechen.