Öffentliche Auftraggeber müssen bei der Vergabe von Aufträgen im Unterschwellenbereich das europäische Primärrecht beachten. Dies gilt aber nur, sofern ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse am Auftrag besteht. Zu beachten sind dann die Grundregeln des AEUV, insbesondere die Art. 49 AEUV (Niederlassungsfreiheit) und Art. 56 AEUV (Dienstleistungsfreiheit), sowie die sich daraus ergebenden allgemeinen Grundsätze der Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und Transparenz. Durch welche Maßnahmen öffentliche Auftraggeber die allgemeinen Grundsätze verwirklichen wollen, ist in einem gewissen Maß in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt (BGH, Urteil v. 30.8.2011 X ZR 55/10). Die Verpflichtung zur Transparenz etwa soll die Gefahr willkürlicher Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers ausschließen.
Art. 49 und 56 AEUV
Leitsatz
Im Rahmen eines Auftrags, der nicht unter die Richtlinie 2004/18/EG fällt, an dem aber ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, sind die Grundregeln und die allgemeinen Grundsätze des AEU-Vertrags, insbesondere die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie die daraus folgende Pflicht zur Transparenz, dahin auszulegen, dass der öffentliche Auftraggeber ein den Anforderungen der Vergabebekanntmachung entsprechendes Angebot nicht ablehnen kann, indem er sich auf Gründe stützt, die in dieser Bekanntmachung nicht vorgesehen sind.
Sachverhalt
Ein Kreiskrankenhaus schrieb die Vergabe eines Auftrages über die Lieferung von Computersystemen und Computerhardware aus. Der geschätzte Netto-Auftragswert belief sich auf ungefähr 58.600 Euro. In den Vergabeunterlagen für das Computersystem war ein Prozessor Intel Core i5 3,2 GHz oder gleichwertig gefordert. Einer der Bieter offerierte einen Prozessor der Marke AMD und des Typs Quad Core A8-5600k mit sechs Prozesskernen, einer Standard-Taktfrequenz von 3,6 GHz und einer Turbo-Taktfrequenz von 3,9 GHz. Sein Angebot wurde vom Kreiskrankenhaus mit der Begründung abgelehnt, es entspreche nicht den technischen Spezifikationen der Ausschreibung. Das Kreiskrankenhaus recherchierte hierzu vorab im Internet und stellte fest, das der ausgeschriebene Intel-Prozessor der ersten und zweiten Generation nicht mehr hergestellt wurde, aber noch im Handel verfügbar war. Der in dritter Generation produzierte Intel-Prozessor hingegen war leistungsstärker als der angebotene AMD-Prozessor. Letzerer wurde vom Kreiskrankenhaus aber als nicht den technischen Spezifikationen des in dritter Generationen hergestellten Intel-Prozessors entsprechend eingestuft. Das Angebot fand deshalb keine Berücksichtigung.
Die Entscheidung
Der EuGH hat seine bisherige Rechtsprechung bestätigt, wonach Unterschwellenvergaben den Grundregeln und allgemeinen Grundsätzen des AEUV unterfallen, sofern an den öffentlichen Aufträgen angesichts bestimmter objektiver Kriterien ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht (Rdnr. 16). Hierzu ist eine eingehende Würdigung aller maßgeblichen Gegebenheiten notwendig (Rdnr. 19). Im Hinblick auf die objektiven Kriterien, die auf das Bestehen eines eindeutigen grenzüberschreitenden Interesses hinweisen könnten, erinnert der EuGH an die Bedeutung z.B. des Auftragsvolumens, des Leistungsorts, der technischen Merkmale oder von ernstgemeinten Konkurrentenbeschwerden (Rdnr. 20).
Vorliegend gelangten die Luxemburger Richter zu der Einschätzung, dass ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse trotz des geringen Auftragsvolumens wegen des ausgeschriebenen Referenzprozessors einer internationalen Marke nicht ausgeschlossen werden könne (Rdnr. 21). Der EuGH stellte sodann fest, dass das dem öffentlichen Auftraggeber zur Ausfüllung der Grundregeln und allgemeinen Grundsätze des AEUV zugestandene Ermessen fehlerhaft ausgeübt wird, wenn er sich von den Bedingungen befreien könnte, die er selbst festgelegt hat. Die Grundsätze der Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und Transparenz verpflichten den öffentlichen Auftraggeber dazu, die technischen Spezifikationen ebenso wie die Zuschlagskriterien nicht während des Vergabeverfahrens zu ändern (Rdnrn. 27, 29). Folglich darf ein öffentlicher Auftraggeber ein den Anforderungen der Ausschreibung genügendes Angebot nicht wegen Gründen ausschließen, die nicht in der Ausschreibung vorgesehen sind (Rdnr. 28).
Rechtliche Würdigung
Das Urteil des EuGH ist in zweierlei Hinsicht beachtlich. Zum einen scheinen die Luxemburger Richter bei einem geringen Auftragswert ein grenzüberschreitendes Interesse auch dann für möglich zu halten, wenn der Beschaffungsgegenstand einen/mehrere Bestandteil/e einer internationalen Marke beinhaltet. In der Beschaffungspraxis kann dies bspw. für eine Vielzahl von Lieferleistungen (etwa Medizinprodukte) zutreffen, bei denen aufgrund der heute weitgehend internationalen (Zuliefer-)Ketten Komponenten zum Einsatz kommen können, die nicht ausschließlich in einem einzigen Unionstaat hergestellt werden. Eine solche enge Auslegung wird den Grundregeln und Grundsätzen des AEUV allerdings nicht gerecht. Sie könnte allenfalls dann Bestand haben, wenn der oder die Bestandteile von wesentlicher, nicht aber nur von untergeordneter Bedeutung für die Leistungserbringung sein können. Denn letztlich können auch die Leistungsbestandteile internationaler Herkunft nur einen, aber nicht den einzigen Gesichtspunkt einer ordnungsgemäßen Ermessensausübung bilden.
Zum anderen ist die gerichtlicherseits besonders betonte Selbstbindung des öffentlichen Auftraggebers an die von ihm selbst aufgestellten (technischen) Ausschreibungsbedingungen hervorhebenswert. Zwar hat der EuGH geurteilt, dass nach Bekanntgabe von technischen Spezifikationen keine Änderung mehr erfolgen dürfe. Allerdings wird dies nicht so einschränkend auszulegen sein, wie es der Wortlaut vermuten lässt. Vielmehr sind Änderungen technischer Ausschreibungsbedingungen auch nach deren Veröffentlichung durchaus zulässig, wenn und soweit die Grundsätze und Grundregeln des AEUV Beachtung finden. Ausgeschlossen sind bspw. aber überraschende bzw. willkürliche Änderungen, welche die Bieter bei der Angebotsabgabe nicht berücksichtigen konnten.
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.
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