Das neuartige Corona-Virus hat Europa und nun auch Deutschland erreicht. Das Virus und die zur Eindämmung seiner weiteren Verbreitung getroffenen Maßnahmen machen vor dem Vergaberecht nicht halt. Öffentliche Auftraggeber und Unternehmen müssen sich auf die besonderen Herausforderungen der nächsten Wochen vorbereiten. Dabei besteht kein Grund zur Panik. Das Vergaberecht bietet auch in dieser Ausnahmesituation angemessene Reaktionsmöglichkeiten.
Laufende Vergabeverfahren
Für bereits laufende Vergabeverfahren sollten öffentliche Auftraggeber abwägen, ob sie Verfahren trotz des „Shutdowns“ des öffentlichen Lebens weiterführen. Verwaltungen und Bieter sind trotz Home-Office-Lösungen möglicherweise nicht mehr in der Lage, die nötigen Schritte im Ausschreibungsverfahren vorzunehmen oder können aufgrund der derzeitigen Ungewissheit keine Kalkulation vornehmen. Die ersten Erfahrungen der letzten Tage zeigen jedoch, dass dies auf Bieterseite sehr branchenabhängig ist. Eine Rücksprache mit Bietern kann im Einzelfall sicherlich hilfreich sein.
In einigen Fällen kann das „Aussetzen“ eines Verfahrens sinnvoll sein. Informationen hierüber sollten über die üblichen Kommunikationskanäle – in der Regel via E-Vergabe-Tool – mitgeteilt werden. Zudem sollte im E-Vergabe-Tool die Änderung der Teilnahme- oder Angebotsfrist nicht vergessen werden, um das Verfahren nicht versehentlich zu beenden.
Entfällt aufgrund der aktuellen Lage der Beschaffungsbedarf, ist zudem die Aufhebung des Verfahrens vergaberechtlich möglich.
Sofern bereits Angebote vorliegen und der Zuschlag nicht erteilt werden kann, weil z.B. erforderliche Gremienentscheidungen nicht möglich sind, droht häufig der Ablauf der Bindefrist. Die Beauftragung des Bestbieters bleibt auch nach abgelaufener Bindefrist trotzdem möglich. Der Bestbieter hat dann allerdings die Möglichkeit, den Vertragsschluss abzulehnen. Es empfiehlt sich daher, von den Bietern vor Fristablauf die Verlängerung der Bindefrist zu verlangen.
Bieterpräsentationen und Verhandlungen
Bisher wurde in der Rechtsprechung vertreten, dass ein Bieter keinen Anspruch auf weitere Beteiligung am Verfahren hat, wenn er von sich aus einen angesetzten Verhandlungstermin absagt. Dies ist auf die momentane Situation sicherlich nicht übertragbar. Verlangt ein Bieter mit Verweis auf „Corona“ die Verschiebung, sollte dem nachgekommen werden. Bereits angesetzte Präsentations- oder Verhandlungstermine könnten im Übrigen auch als Videokonferenz abgewickelt werden.
Sollte ein Ausschreibungsverfahren unmittelbar bevorstehen oder derzeit laufen, für das ursprünglich ein wertungsrelevanter Präsentationstermin vorgesehen war, könnten die Zuschlagskriterien zudem modifiziert werden. Die konzeptionellen Inhalte eines Angebots könnten dann allein auf Grundlage der Papierfassung bewertet werden.
Dringlichkeitsbeschaffungen
In besonders gelagerten Fällen können Dringlichkeitsbeschaffungen vorgenommen werden. Zunächst ist zu prüfen, ob die Beschaffung unter Verkürzung der gesetzlich vorgesehenen Fristen möglich ist. Kommt die Durchführung eines regulären Verfahrens auch mit verkürzten Fristen nicht in Betracht, so kann eine Dringlichkeitsbeschaffung als Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb durchgeführt werden. Dies wird derzeit nicht nur für Medizinprodukte in Betracht kommen, sondern beispielsweise auch für die Beauftragung von Dienstleistern, die die Überlastung oder den Ausfall eigener Kräfte oder beauftragter Dienstleister kompensieren. Auch die Beschaffung von Hard- und Software zur Einrichtung von Home-Office-Arbeitsplätzen kann hierunterfallen. Soweit möglich, sollten Auftraggeber hierbei trotzdem Vergleichsangebote einholen. Die Direktbeauftragung eines Auftragnehmers bleibt die ultima ratio. Häufig wird eine Dringlichkeitsvergabe als Interimsvergabe nur für einen begrenzten Zeitraum möglich sein. Nach Beendigung der aktuellen Krisensituation müssen Leistungen wieder ordnungsgemäß ausgeschrieben werden.
Auch die Regelungen zur Änderung bestehender Verträge ermöglichen flexible Beschaffungen ohne erneutes Vergabeverfahren. Nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB kann das Auftragsvolumen bestehender Verträge um bis zu 50% erweitert werden, wenn die Änderung aus Umständen erforderlich wurde, die der öffentliche Auftraggeber nicht vorhersehen konnte. Zudem darf der Gesamtcharakter des Vertrags nicht geändert werden. Beide Voraussetzungen dürften bei einer Ausweitung des Vertragsvolumens gegenwärtig gegeben sein.
Fazit
Die momentane Lage ist auch rechtlich eine Ausnahmesituation. Öffentliche Auftraggeber haben die Möglichkeit, laufende Verfahren auszusetzen, um sie nach dem hoffentlich zeitnahen Ende der Corona-Krise in geordneten Bahnen fortzuführen. Für sämtliche dringlichen Beschaffungen bietet das Vergaberecht den erforderlichen „Instrumentenkasten“, der auch formlose Direktbeauftragungen ermöglicht.
Dr. Alexander Dörr
Dr. Alexander Dörr ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Er berät bundesweit in erster Linie die öffentliche Hand bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsprojekten sowie bei komplexen vergaberechtlichen Fragestellungen. Ein Schwerpunkt bildet dabei die rechtliche und strategische Begleitung von großvolumigen Ausschreibungsvorhaben öffentlicher Auftraggeber, überwiegend im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb. Daneben vertritt Herr Dörr regelmäßig öffentliche Auftraggeber in Nachprüfungsverfahren. Zudem hält er zu unterschiedlichen vergaberechtlichen Themen Schulungen und Seminare. Dr. Dörr ist unter anderem Dozent am Bildungszentrum der Bundeswehr. Er publiziert darüber hinaus zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften und ist regelmäßiger Autor auf vergabeblog.de.
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