Vergabeblog

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Digitale Akte Berlin: Antworterwartungen müssen vor der Angebotsöffnung nachweisbar feststehen (VK Berlin, Beschl. v. 13.03.2020 – VK-B1-36/19)

EntscheidungDie Vergabekammer sieht bei dem für das E-Government in Berlin zentralen Beschaffungsprojekt erhebliche Dokumentationsmängel und erblickt in Antworterwartungen, die dem Wertungsgremium zur einheitlichen Prüfung der Angebote an die Hand gegeben wurden, einen Verstoß gegen den Grundsatz einer transparenten und diskriminierungsfreien Vergabe.

GWB § 97 Abs. 1 und 2; § 127 Abs. 1 VgV § 8 Abs. 1; § 58

Sachverhalt

Mit dem Vergabeverfahren beabsichtigt das Land Berlin für die Einführung der digitalen Akte u.a. Standardsoftwarelizenzen für bis zu 100.000 Anwender, Konfiguration und Bereitstellung des Gesamtsystems sowie Unterstützungsleistungen, Schulungen, Support und Service auf Basis eines EVB-IT Systemvertrags zu beschaffen. Nach einem vorgeschalteten Teilnahmewettbewerb sah das Verhandlungsverfahren die Einladung auf Basis der Erstangebote ausgewählter Bieter zu einer Angebotspräsentation vor, die vor allem der Beantwortung von Fragen des Auftraggebers sowie der Prüfung der Angaben des schriftlichen Angebots dienen sollte. Nach den Bewerbungsbedingungen sollten Abweichungen zwischen Präsentation und schriftlichem Angebot allenfalls zu einer Verschlechterung der Bewertung, nicht zu einer Verbesserung führen. Auf Basis von im Nachgang geänderter Angebote sollten ausgewählte Bieter zu einem verifizierenden Praxistest und schließlich zur Abgabe endgültiger Angebote aufgefordert werden.

Zu den Vergabeunterlagen gehörte, wie für IT-Vergaben üblich, ein Kriterienkatalog. Dieser sah für Kriterien K.3.1.1 und K.3.1.2 zum Projektvorgehen eine Punkteverteilung von 0 – 2 – 4 – 7 – 10 vor. Der intern dem aus 6 Personen bestehenden Wertungsgremium zugänglich gemachte Bewertungskatalog unterschied sich von dem bekanntgemachten Kriterienkatalog durch eine zusätzliche Spalte mit Antworterwartungen für die Bewerter.

Zu K 3.1.1 enthielt diese Spalte folgende Ausführungen:

Nachvollziehbares Vorgehen mit eindeutigem Bezug auf das Projektvorgehen der Leistungsbeschreibung

Klare und nachvollziehbare Beschreibung der wesentlichen gelebten Prozesse und Rollen im Rahmen von Projekten, Standard-Projektvorgehen verwendet (z.B. V-Modell XT, Prince2, PMBOK, weitere gängige Marktstandards im Projektmanagement

Der Projektaufgabe angemessene und praktikable Ausgestaltung wichtiger Projektmanagementprozesse, insbes.:

Projekt- und Terminplanung

Projektcontrolling, -berichtswesen

Risikomanagement

Scope- und Änderungsmanagement

Berücksichtigung des Projekthandbuchs des Landes Berlin durch Adaption entsprechender Rollen/Vorgehensweisen

während zu K 3.1.2 folgende Erwartungshaltung formuliert wurde:

verständliche Darstellung der Projektorganisation und Zuständigkeiten,

effiziente, flexible und klare Struktur

Berücksichtigung unterschiedlicher Erfordernisse in verschiedenen Projektphasen (Implementierung, Pilotierung, Rollout)

eindeutige Verantwortungsaufteilung, kurze und effektive Eskalationswege

Anlehnung an vorhandene Projektstruktur und Standards im Land Berlin,

Berücksichtigung der relevanten Akteure und Gremien im Land Berlin

konkrete und dauerhafte Zusicherung von Schlüsselpersonen, möglichst namentlich und in Bezug auf die in der Eignung nachgewiesenen Profile.

Der Bewertungskatalog, aus dem die Begründungen für die Punktvergabe und die erreichte Punktzahl für die einzelnen Kriterien hervorging, lag den zu der Vergabeakte genommenen Vermerken zur Angebotswertung bei und wurde allerdings ohne die Angebotserwartungen auch der zweitplatzierten Bieterin mitgeteilt. Diese rügte u.a., dass die Bewertung nicht nachvollziehbar und für Bieter auch vorher nicht erkennbar gewesen sei, wonach und wie die Vergabestelle den Unterschied zwischen 7 und 10 bzw. 4 und 10 Punkten machen wolle und welche Anforderungen für die Erreichung der Höchstpunktzahl erforderlichen gewesen seien. Nach erweiterter Akteneinsicht im Nachprüfungsverfahren wurde in den Angebotserwartungen zudem Unterkriterien zu den Bewertungskriterien gesehen, die offenkundig erst nach Öffnung der Angebote erstellt bzw. verändert worden seien.

In den Augen der Auftraggeberin handelt es sich bei den Angebotserwartungen lediglich um eine Zusammenfassung der Anforderungen aus den Vergabeunterlagen, die als Arbeitserleichterung für die Bewerter auch einen einheitlichen Bewertungsmaßstab ermitteln solle. Die Angebotserwartungen seien vor Veröffentlichung der Ausschreibung festgelegt worden, wofür als Beleg der Screenshot einer noch vor dem Veröffentlichungsdatum versandten E-Mail vorgelegt wurde. Dem Screenshot ist der Dateiname des Anhangs 181105 Bewertungskatalog_Digitale Akte Berlin v.0.13.xlsx zu entnehmen, wobei im Text der E-Mail darauf hingewiesen wurde, dass etwaiger Änderungsbedarf ausschließlich in der Datei eingepflegt werden solle. Eine Bekanntmachungspflicht für die Angebotserwartungen habe nicht bestanden, denn damit wäre es den Bietern ermöglicht worden, diese wie eine Checkliste abzuhaken, die eigene Kreativität und das Fachwissen der Bieter träte dadurch in den Hintergrund.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer erkannte einen Verstoß gegen das Recht auf Durchführung eines transparenten, alle Bieter gleich behandelnden Vergabeverfahrens. Sie sah sich mangels Dokumentation des Zeitpunkts, in dem der finale, im Wertungsvorgang verwendete Bewertungskatalog festgelegt wurde, nicht zu der Feststellung in der Lage, dass die Angebotserwartungen bereits vor Angebotsöffnung festgelegt waren. Die Vergabekammer zweifelte an, ob der Screenshot einer vor mehr als einem Jahr versandten E-Mail ohne jegliche Anknüpfung in der Vergabeakte überhaupt noch zur Nachweisführung geeignet sei, jedenfalls lasse sich aus diesem weder der seinerzeitige Inhalt des Bewertungskatalogs ersehen bzw. nachträgliche Änderungen ausschließen. Es handele sich bei den Angebotserwartungen auch nicht um eine bloße unveränderte Zusammenführung ohnehin an anderer Stelle den Bietern bekanntgemachter Angebotsanforderungen, Bewertungskriterien und -maßstäbe, die ausnahmsweise auch in Ansehung der Angebote zulässig wäre.

Im Ergebnis müsse zwar nicht der Teilnahmewettbewerb wiederholt, aber das Verfahren in das Stadium vor Aufforderung zur Abgabe der Erstangebote zurückversetzt werden. Dem nicht am Nachprüfungsverfahren beteiligten dritten Bieter müsse ebenfalls Gelegenheit zu einem neuen Angebot gegeben werden und Wissensvorsprünge durch Mitteilung der Angebotserwartungen an sämtliche Bieter ausgeglichen werden.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung überzeugt insofern, als dass zusätzliche Vorgaben für die Bewertung in Ansehung der geöffneten Angebote den Gleichbehandlungs- und Transparenzgrundsatz verletzten. Auch nach dem EuGH besteht nicht nur hinsichtlich der Zuschlagskriterien und Unterkriterien, sondern auch für die Bewertungsmethode die Pflicht zur vorherigen Festlegung (EuGH, Urt. v. 14.07.2016, Rs. C-6/15 TNS Dimarso, Rn. 31):

„Im Sinne der in Art. 2 der Richtlinie 2004/18 vorgesehenen Grundsätze für die Vergabe von Aufträgen und zur Vermeidung jeder Gefahr von Parteilichkeit darf die Bewertungsmethode, anhand deren der  öffentliche Auftraggeber die Angebote konkret bewertet und einstuft, grundsätzlich nicht nach der Öffnung der Angebote durch den öffentlichen Auftraggeber festgelegt werden. Wenn allerdings die Festlegung dieser Methode aus nachweislichen Gründen nicht vor der Öffnung möglich war, kann man, […] dem öffentlichen Auftraggeber nicht vorwerfen, sie erst festgelegt zu haben, nachdem er oder sein Bewertungsausschuss vom Inhalt der Angebote Kenntnis genommen hat.“

Dass die Angebotserwartungen hier ausnahmsweise nach Angebotsöffnung festgelegt werden durften, verneint die Vergabekammer ebenfalls mit überzeugenden Argumenten. Die Angebotserwartungen gingen wohl über eine bloße Arbeitserleichterung in Form einer Zusammenführung der Anforderungen, Kriterien und Maßstäbe aus den Vergabeunterlagen für die Mitglieder des Wertungsgremiums hinaus.

Von den Dokumentationsdefiziten, die hier offenbar dazu führten, dass sich nicht nachweisen ließ, dass die unstreitig in die Wertung einbezogenen Angebotserwartungen bereits vorher festgelegt wurden, ist die Frage zu unterscheiden, ob eine Bekanntmachungspflicht für solche Angebotserwartungen besteht. Die Auftraggeberin weist zutreffend darauf hin, dass gerade bei der Ausarbeitung von Konzepten Vorgaben in Art einer Checkliste dazu führen würden, dass die eigene Kreativität und das Fachwissen des jeweiligen Bieters in den Hintergrund treten. Der EuGH erinnert in der Entscheidung TNS Dimarso auch daran, dass ein

„Bewertungsausschuss […] bei der Erfüllung seiner Aufgabe über einen gewissen Freiraum verfügen [muss] und darf somit, ohne die in den Verdingungsunterlagen oder in der Bekanntmachung festgelegten Zuschlagskriterien zu verändern, seine Tätigkeit der Prüfung und Bewertung der eingereichten Angebote strukturieren.“

Und auch nach dem Bundesgerichtshof (BGH, Beschl. v. 04.04.2017 – X ZB 3/17)

„steht es einer transparenten und wettbewerbskonformen Auftragsvergabe (§ 97 Abs. 1 Satz 1 GWB) nicht entgegen, dass die von den Bietern vorgelegten Konzepte […] im Rahmen der Angebotswertung benotet werden und einen der jeweiligen Note zugeordneten Punktwert erhalten, ohne dass die Vergabeunterlagen weitere konkretisierende Angaben dazu enthalten, wovon die jeweils zu erreichende Punktzahl für das Konzept konkret abhängen soll.“

Diese Freiräume müssen erhalten bleiben, ermöglicht wird dies durch eine Punktevergabe nach Schulnoten (siehe zur Thematik: . Erforderlich ist aber, dass Grundlage der Benotung die bekanntgemachten Zuschlagskriterien und deren Unterkriterien sind, die Erwartungshaltung angemessen in den Vergabeunterlagen kommuniziert wird und die Erwägungen, die zur Benotung geführt haben, im Wertungsvorgang nachvollziehbar dokumentiert werden; also im Prinzip so, wie ein Lehrer oder eine Lehrerin eine Klausur zu einem bestimmten Thema benotet und die Note am Ende der Klausur begründet und damit rechtfertigt.

Praxistipp

Für Auftraggeber unterstreicht diese Entscheidung die Bedeutung einer fortlaufenden Dokumentation und die Anfälligkeit von Konzeptwertungen. Etwaige Handreichungen für Wertungsgremien sollten rechtzeitig finalisiert und dokumentiert werden und keine Erwartungshaltung formulieren, die sich nicht auch aus den Vergabeunterlagen, insbesondere der Leistungsbeschreibung und dem Kriterienkatalog herauslesen lässt. Aus Transparenzgründen ist auf eine ausreichende Verknüpfung der Kriterien und den sich aus der Leistungsbeschreibung ergebenden Anforderungen bzw. Erwartungen zu achten.

Für Bieter, die sich als zu Unrecht übergangen wähnen, ist diese Entscheidung wieder einmal Anlass, sich bei Konzeptwertungen gewisse Hoffnungen auf einen erfolgreichen Nachprüfungsantrag zu machen. Auch wenn das Wertungssystem als solches nicht frühzeitig gerügt wurde, kann eine Rüge, die sich jedenfalls auch gegen die konkrete Angebotswertung richtet oder Zufallsfunde durch die Akteneinsicht zu Tage fördert, wie in diesem Fall durchdringen.

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Über Jan Helge Mey, LL.M. (McGill)

Jan Helge Mey ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht. Er ist Partner in der Sozietät BHO Legal in Köln. Jan Helge Mey ist spezialisiert auf das Vergabe- und Zuwendungsrecht, Luft- und Weltraumrecht sowie Außenwirtschaftsrecht, ist Autor zahlreicher Fachbeiträge und führt Schulungen für Behörden und Unternehmen durch.

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