In dem neuesten Urteil seiner aktuellen Entscheidungsserie (vgl. Urt. v. 04.06.2020, C-429/19 – Remondis, Urt. v. 28.05.2020, C-796/18 – Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung) zur vergaberechtsfreien Zusammenarbeit von öffentlichen Auftraggebern befasst sich der EuGH mit einer Aufgabenübertragung zwischen Kommunen im ÖPNV und Bereich des Sozial- und Gesundheitsdienstes. Im Fokus der Entscheidung steht die bislang ungeklärte Frage, ob der nach einer vergaberechtsfreien Aufgabenübertragung zuständige Hoheitsträger eine Inhouse-Vergabe durchführen darf, mit der er nicht nur ihren seinen Bedarf, sondern auch den Bedarf der anderen Hoheitsträger, die ihm die Befugnis übertragen haben, deckt.
Art. 1 Abs. 2 lit. a) Richtlinie 2004/18/EG
Leitsätze (nicht amtlich)
Sachverhalt
Die noch zur Vergabekoordinierungsrichtlinie 2004/18/EG ergangene Entscheidung des EuGH geht auf einen Vorlagebeschluss des Obersten Verwaltungsgerichts von Finnland zurück. Auf Grundlage kommunalgesetzlicher Regelungen hatten mehrere finnische Kommunen im Jahre 2012 Kooperationsverträge für die Bereiche des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) und von Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen geschlossen, bei denen der Stadt Pori jeweils die zentrale Verantwortung übertragen wurde.
Der Kooperationsvertrag für den ÖPNV-Bereich sah vor, dass die Stadt Pori gemeinsames Organ der Vertragsgemeinden für den ÖPNV auf dem Gebiet der Vertragsgemeinden sein sollte. In den Personenverkehrsausschuss, der zuständigen Behörde für den ÖPNV der Stadt Pori und der Vertragsgemeinden, entsandte die Stadt Pori fünf und die vier weiteren Gemeinden jeweils ein Mitglied.
Mit einem weiteren Kooperationsvertrag übertrugen zwei Gemeinden der Stadt Pori die Funktion als verantwortliche Gemeinde für die Organisation der Dienstleistungen der Gesundheits- und Sozialfürsorge auf dem Gebiet der Vertragsgemeinden. Der Vertrag sah vor, dass die Dienstleistungen der Sozial- und Gesundheitsfürsorge von der verantwortlichen Gemeinde und den Vertragsgemeinden gemeinsam entwickelt wird. Die verantwortliche Gemeinde hatte den Bedarf der Einwohner an Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen zu bewerten und zu definieren, über den Umfang und das Qualitätsniveau der Dienstleistungen zu entscheiden, für die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Dienstleistungen durch die Einwohner zu sorgen und über die Art und Weise der Erbringung der Dienstleistungen zu entscheiden. In der Praxis trägt der Grundsicherheitsausschuss der Stadt Pori die Verantwortung für die Organisation der Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen des Kooperationsgebiets. Der Ausschuss setzt sich aus 13 von der Stadt Pori und 5 von den weiteren Vertragsgemeinden bestimmten Mitgliedern zusammen.
Der Grundsicherungsausschuss der Stadt Pori beschloss im Mai 2015, die Leistung der Beförderung von Personen mit Behinderungen zu Arbeits- und Tagesbetreuungsstätten mit Niederflurbussen für das Gebiet des Kooperationsvertrags für die Dienstleistungen der Gesundheits- und Sozialfürsorge im Wege einer Inhouse-Vergabe auf die im 100%-igen Anteilsbesitz der Stadt Pori stehende Gesellschaft Porin Linjat zu übertragen. Zuvor hatte die Stadt Pori im Rahmen des Kooperationsvertrags für den ÖPNV bereits zwei weitere Verträge über die Durchführung von Leistungen des Linienverkehrs zwischen der Stadt Pori und den Vertragsgemeinden im Wege von Inhouse-Vergaben an Porin Linjat vergeben.
Ein Busunternehmen beanstandete den Beschluss des Grundsicherungsausschusses. Die an dem Kooperationsvertrag für die Gesundheits- und Sozialdienstleistungen würden keine Kontrolle über Porin Linjat ausüben. Der Gewinn, den Porin Linjat aus dem Betrieb des ÖPNV erziele, dürfe daher nicht bei der Beurteilung berücksichtigt werden, ob die Gesellschaft ihre Tätigkeit im Wesentlichen für den öffentlichen Auftraggeber ausübe, dessen Kontrolle sie unterstehe. Die Stadt Pori berief sich auf die durch die Kooperationsverträge im ÖPNV erfolgte Übertragung der Zuständigkeit zur Organisation des ÖPNV in den an der Kooperation beteiligten Kommunen. Der hierdurch erzielte Umsatz sei ihr zuzurechnen. 90% des Umsatzes der Porin Linjat würden daher mit dem Betrieb des ÖPNV der Stadt Pori erzielt.
Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen wollte das finnische Oberste Verwaltungsgericht wissen, ob der Kooperationsvertrag über die Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen vom Anwendungsbereich der Vergabekoordinierungsrichtlinie 2004/18/EG ausgenommen ist.
Die Entscheidung
Unter Verweis auf seine bereits 2016 ergangene Entscheidung in der Rechtssache Remondis (Urteil v. 21. Dezember 2016 C-51/15) bekräftigt der EuGH, dass die Aufteilung von Zuständigkeiten innerhalb eines EU-Mitgliedsstaats einschließlich der innerstaatlichen Neuordnung der Kompetenzen unter dem Schutz von Art. 4 Abs. 2 EUV steht.
Eine im Rahmen einer innerstaatlichen Neuordnung der Kompetenzen vorgenommene Aufgabenübertragung falle nicht in den Geltungsbereich der EU-Vergaberichtlinien. Sie stelle keinen öffentlichen Auftrag dar. Voraussetzung für einen öffentlichen Auftrag sei das Vorliegen eines entgeltlichen Vertrags. Durch die Aufgabenübertragung entfalle bei dem übertragenden Hoheitsträger aber das wirtschaftliche Interesse an der Erfüllung der entsprechenden Aufgaben, so dass kein Synallagma von Leistung und Gegenleistung bestehe. Es liege daher kein entgeltlicher Vertrag vor.
Ein von Art. 4 Abs. 2 EUV geschützter Organisationsakt setze allerdings voraus, dass der Hoheitsträger, dem die Kompetenz übertragen wird, befugt sei, die Erfüllung der sich aus der Kompetenz ergebenden Aufgaben zu organisieren und den diese Aufgaben betreffenden rechtlichen Rahmen zu schaffen. Er müsse zudem finanziell unabhängig sein, so dass er die Finanzierung der ihm übertragenden Aufgaben sicherstellen kann. Die ursprünglich zuständige Stelle dürfe weder die Hauptverantwortung für diese Aufgaben behalten, noch sich eine finanzielle Kontrolle oder Zustimmungsbefugnisse hinsichtlich der Entscheidungen des nunmehr zuständigen Hoheitsträgers vorbehalten. Zwar dürfe der übertragende Hoheitsträger ein gewisses Überwachungsrecht für die mit der übertragenen öffentlichen Dienstleistung verbundenen Aufgaben behalten, jedoch sei grundsätzlich jede Einmischung in konkrete Modalitäten der Durchführung der übertragenen Aufgaben ausgeschlossen.
Nach der Prüfung der Regelungen der Kooperationsverträge und der zugrundeliegenden gesetzlichen Regelungen kommt der EuGH zu dem Schluss, dass die Voraussetzungen einer Aufgabenübertragung vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht erfüllt sind.
Sodann wendet sich der EuGH der Frage zu, ob die nach der Aufgabenübertragung zuständige Stadt Pori befugt war, eine Inhouse-Vergabe durchzuführen, um nicht nur ihren eigenen Bedarf, sondern auch den Bedarf der anderen Vertragsgemeinden zu decken. Auch diese Frage bejaht der EuGH. Aufgrund der Aufgabenübertragung sei die Stadt Pori zwangsläufig als öffentlicher Auftraggeber für die entsprechenden Aufgaben anzusehen, und zwar für das gesamte Gebiet der Gemeinden, die Parteien der Kooperationsverträge sind. Das Kontrollkriterium sei erfüllt. Die Stadt Pori übe gemeinsam mit den Vertragsgemeinden über das Inhouse-Unternehmen eine Kontrolle aus, die einer Kontrolle über die eigenen Dienststellen entspreche. Auch das Tätigkeitskriterium sei erfüllt. Die von der Inhouse-Gesellschaft durch Leistungen auf Anforderung der Vertragsgemeinden erzielten Umsätze seien den durch Leistungen auf Anforderung der Stadt Pori erzielten Umsätzen hinzuzurechnen.
Rechtliche Würdigung
Im Rahmen der Prüfung des Kontrollkriteriums stellt der EuGH fest, dass eine Inhouse-Vergabe bislang vom Gerichtshof nur in Fällen zugelassen worden sei, in denen das Inhouse-Unternehmen ganz oder teilweise im Eigentum des öffentlichen Auftraggebers stand. Hieraus konnte der EuGH die Erfüllung des Kontrollkriteriums nicht ableiten, denn die Vertragsgemeinden hielten keine Kapitalbeteiligung an dem Inhouse-Unternehmen der Stadt Pori.
Der EuGH stellte daraufhin klar, dass eine Kapitalbeteiligung an der Inhouse-Gesellschaft nicht das einzige Mittel sein kann, um das Kontrollkriterium zu erfüllen. Entscheidend sei, dass die Vertragsgemeinden bei dem Modell der verantwortlichen Gemeinde die Möglichkeit hätten, wie die verantwortliche Gemeinde sowohl auf die strategischen Ziele als auch auf die wichtigen Entscheidungen der Inhouse-Gesellschaft Einfluss zu nehmen und damit eine wirksame, strukturelle und funktionale Kontrolle über die Inhouse-Gesellschaft auszuüben. Dies war nach Auffassung des EuGH vor allem aufgrund der Regelungen der Satzung des Personenverkehrsausschusses und der Kooperationsverträge zu der Zusammensetzung und den Verantwortlichkeiten der beiden Ausschüsse der Fall.
Praxistipp
Mit der Entscheidung entwickelt der EuGH seine Rechtsprechung zur vergaberechtsfreien Aufgabenübertragung fort. Der EuGH beantwortet die bislang ungeklärte Frage, ob eine Aufgabenübertragung derart mit einer Inhouse-Vergabe kombiniert werden, dass das Inhouse-Privileg auch für diejenigen Hoheitsträger fruchtbar gemacht werden kann, die ihre Kompetenz zur Wahrnehmung der öffentlichen Aufgabe auf einen anderen Hoheitsträger übertragen. Die wichtige Klarstellung des EuGH erweitert damit die Möglichkeiten öffentlicher Auftraggeber, durch interne Organisationsentscheidungen ihre Bedarfsdeckung vergaberechtsfrei zu organisieren.
Gleichwohl sollte öffentlichen Auftraggebern bewusst sein, dass sie sich in derartigen Konstellationen auf einem schmalen Grad bewegen. Während das Konzept der vergabefreien Aufgabeübertragung erfordert, dass die übertragende Stelle weder die Hauptverantwortung für die übertragene Aufgabe, noch eine finanzielle Kontrolle oder einen Zustimmungsvorbehalt behalten darf, erfordert die Inhouse-Vergabe in derartigen Konstellationen eine (gemeinsame) Kontrolle, die der Kontrolle über die eigenen Dienststellen entspricht. Das Urteil des EuGH zeigt, dass insoweit eine funktionale Gesamtbetrachtung aller Umstände anzustellen ist. Eine der Höhe nach jedenfalls nicht nur symbolische Kapitalbeteiligung kann ein Indiz für eine gemeinsame Kontrolle darstellen, wenn wie im Fall der deutschen GmbH die Gesellschafterversammlung ein Weisungsrecht gegenüber der Geschäftsführung hat und ggf. auch die Mehrheit der Vertreter in einem etwaigen Aufsichtsrat stellt. Von entscheidender Bedeutung wird in solchen Fällen aber die konkrete Ausgestaltung der vertraglichen und ggf. satzungsrechtlichen Regelungen sein, denen die Aufgabenübertragung unterliegt. Als Lohn für die Ausbalancierung einer von Art. 4 Abs. 2 EUV geschützten Aufgabenübertragung einerseits mit den Anforderungen einer Inhouse-Vergabe andererseits winkt die Möglichkeit einer insgesamt vergaberechtsfreien Bedarfsdeckung.
Der Autor Dr. Tobias Schneider ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht im Berliner Büro der Kanzlei Dentons. Er berät Unternehmen und öffentliche Auftraggeber bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen und vertritt deren Interessen in Vergabeverfahren und vor den Nachprüfungsinstanzen.
0 Kommentare