Der Wettbewerbsgrundsatz gebietet, dass Auftraggeber auch bei Dringlichkeitsvergaben so viel Wettbewerb wie möglich schaffen. Der Rechtsprechung zufolge müssen Auftraggeber deswegen auch in diesen Fällen – wenn und soweit möglich – Konkurrenzangebote einholen. Dieser grundsätzlichen Linie folgt auch eine aktuelle Entscheidung des OLG Rostock zu einer Corona-bedingten Direktvergabe. Die Begründung ist aber teils bemerkenswert, ebenso das Ergebnis.
GWB § 97 Abs. 1 Satz 1; VgV § 14 Abs. 4
Leitsatz
Sachverhalt
Inhaltlich ging es in der Entscheidung des OLG Rostock um anlasslose Coronatests in Alten- und Pflegeheimen. Der Auftraggeber hatte diese Tests am 7. Mai 2020 für einen Zeitraum von knapp zwei Monaten direkt beauftragt, ohne vorher Konkurrenzangebote einzuholen. Beginnen sollten die Tests bereits einen Tag nach Vertragsschluss.
Der Auftraggeber berief sich zur Rechtfertigung der Direktvergabe auf § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, der Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb ausnahmsweise zulässt. Die dafür erforderlichen äußerst dringlichen, zwingenden Gründe sah er als gegeben. Er verwies darauf, dass die Alten- und Pflegeheime aufgrund der psychischen Belastung der Bewohner so schnell wie möglich wieder geöffnet werden müssten, dass dies jedoch in Anbetracht der hohen Infektionszahlen in Alten und Pflegeheimen nur bei Durchführung anlassloser Massentestungen in den betreffenden Einrichtungen verantwortbar sei.
Die Entscheidung
Diese Einschätzung teilte das OLG Rostock zwar, ebenso wie auch schon die Vergabekammer. Dennoch unterlag der Auftraggeber im Ergebnis weitgehend.
Dringlichkeit lag vor: Auftraggeber durfte frühen Projektstart festlegen
Entscheidend für die Annahme der Dringlichkeit war dabei zunächst die Frage danach, welcher Zeitraum dem Auftraggeber zur Durchführung eines Vergabeverfahrens geblieben wäre. Erst ab dem 15. April 2020 war nach Auffassung des Gerichts von einem hinreichend konkreten Beschaffungsbedarf auszugehen. Der Vergabesenat gestand dem Auftraggeber zu, dass insbesondere bei Einrechnung des Vorbereitungsaufwands der verbleibende Zeitraum von etwa drei Wochen bis zum Projektstart nicht für die Durchführung eines Vergabeverfahrens ausgereicht hätte – selbst dann nicht, wenn der Auftraggeber das offene Verfahren als (als das schnellste Verfahren) gewählt hätte und alle Fristverkürzungsmöglichkeiten in Anspruch genommen hätte. In Anbetracht der zu schützenden höchstpersönlichen Rechtsgüter der Heimbewohner habe ein weiteres Zuwarten bis Ende Mai oder gar darüber hinaus nicht ernstlich zur Debatte stehen können.
Unbeachtlich war hingegen im konkreten Fall, dass der Bedarf schon früher hätte feststehen können. Der Vergabesenat störte sich auch nicht daran, dass der frühe Projektstart am 8. Mai erst nachträglich bestimmt wurde und der Auftraggeber dadurch die für die Beschaffung zur Verfügung stehende Zeit selbst verknappt hatte.
Aber: Direktbeauftragung ermessenfehlerhaft – Vertrag unwirksam
Der Auftraggeber habe aber gegen den Wettbewerbsgrundsatz des § 97 Abs. 1 S. 1 GWB verstoßen, indem er nur ein einziges Angebot eingeholt hatte. Das Gericht stellte daher die Unwirksamkeit des Vertrags gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB fest. Grundsätzlich sei auch bei Dringlichkeitsvergaben ein völliger Verzicht auf den Wettbewerb nur als ultima ratio zulässig. Der Auftraggeber habe aber schon am 15. März 2020, also etwa zwei Monate vor der Vergabe, durch die E-Mail eines Konkurrenzunternehmens gewusst, dass jedenfalls bei einer Losaufteilung auch dieser Wettbewerber eventuell die erforderlichen Kapazitäten gehabt hätte und hätte diesen daher zur Angebotsabgabe auffordern müssen. Die Vorschrift des § 135 GWB sei auch auf solche, nicht vom Wortlaut erfassten, Fälle anwendbar.
Insbesondere der Einwand des Auftraggebers, er habe nicht genügend Personal für die Einholung weiterer Angebote gehabt, war dabei unbeachtlich für die Bestimmung des objektiv (noch) Machbaren.
Und dennoch…
Obwohl der Antragsteller in der Sache Recht bekam, schaute er letzten Endes im konkreten Fall allerdings „in die Röhre“. Da es sich um ein Fixgeschäft handele, das auch schon vollständig abgewickelt worden sei, so das Gericht, sei der Vertrag zwar gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB unwirksam, aber ein Anspruch auf erneute, diesmal wettbewerbliche, Vergabe bestehe nicht.
Rechtliche Würdigung
Neu ist das grundsätzliche Gebot eines „kleinen“ Wettbewerbs bei Dringlichkeitsvergaben nicht. Das Gericht reiht sich hier in eine lange Entscheidungspraxis ein (vgl. u.a. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 30.01.2014 – 11 Verg 15/13, OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.09.2008 – Verg 57/08).
Bemerkenswert ist hingegen, dass der Vergabesenat vorliegend einerseits ein förmliches Vergabeverfahren für nicht machbar hielt und dabei insbesondere auch auf die Zeitspanne für die Vorbereitung und die Angebotswertung verwies, ein formloses wettbewerbliches Verfahren andererseits aber offenbar schon für möglich erachtete – ohne dass erkennbar würde, inwiefern der Aufwand für Vorbereitung und Wertung dort geringer wäre. Immerhin konnte der Auftraggeber im vorliegenden Fall ja (im Gegensatz zu anderen, bereits entschiedenen Interimskonstellationen) vermutlich nicht auf bereits vorhandene Vergabeunterlagen, etwa aus einem vorangehenden förmlichen Verfahren oder einem vergleichbaren Vorgang, zurückgreifen. Das erscheint für einen Außenstehenden etwas widersprüchlich. Ebenso wenig geht der Vergabesenat darauf ein, dass bei einer Losaufteilung ja nicht nur ein Vergabeverfahren erforderlich gewesen wäre, sondern mindestens zwei mit einem entsprechend erhöhten zeitlichen Aufwand insbesondere für die Eignungsprüfung und Angebotsauswertung.
Es überrascht auch, dass das Gericht die Frage, ob das Konkurrenzunternehmen rechtlich überhaupt zur Leistungserbringung befugt gewesen wäre, offen lässt, ohne das Problem des erforderlichen Schadens gemäß § 160 Abs. 2 GWB zu thematisieren.
Letztlich zeigt diese Entscheidung einmal mehr, dass Gerichte die Direktvergabe nur in äußerst engen Ausnahmefällen zulassen und auch für Corona-bedingte Vergaben nicht mit Ausnahmen gerechnet werden sollte. Am Ende dürfte der Auftraggeber im entschiedenen Fall vor allem deswegen so glimpflich davongekommen sein, weil er die Direktvergabe auf einen kurzen Zeitraum beschränkt hatte.
Praxistipp
Vor allem dann, wenn Unternehmen bereits im Vorfeld ihr Interesse an einem Auftrag gezeigt haben, sollte der Auftraggeber diese auch bei einer Dringlichkeitsvergabe grundsätzlich beteiligen, es sei denn, er kann ihre Eignung (auch bei Nachunternehmereinsatz oder als Bietergemeinschaftsmitglied) sicher ausschließen oder er hat sehr stichhaltige Gründe für eine ausnahmsweise zulässige Direktvergabe. Auftraggeber sind zudem gut beraten, Direktvergaben aufgrund von Dringlichkeit nur mit möglichst kurzer Laufzeit zu beauftragen.
Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.
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