Nachprüfungsverfahren sind für den öffentlichen Auftraggeber unerfreulich. Sie bedeuten zusätzlichen Aufwand, Zeitverzögerungen und Mehrkosten. Für Bieter sind sie als Instrument effektiven Rechtsschutzes im Vergaberecht aber unabdingbar. Wie sind die gegenläufigen Interessen von Auftraggeber und Auftragnehmer zu bewerten, wenn dem Auftraggeber aufgrund der Zeitverzögerungen durch ein Nachprüfungsverfahren der Verlust von Fördermitteln für das Projekt droht? Kann der Auftraggeber dann die vorzeitige Gestattung der Zuschlagserteilung durchsetzen?
§ 169 Abs. 2 Satz 1 GWB
Der Antragsgegner, das Land Berlin, schreibt einen Bauauftrag für die Modernisierung der Gebäudeautomation für das Konzerthaus Berlin aus. Die energetische Sanierung soll aus Fördermitteln finanziert werden.
Die Antragstellerin macht mit ihrem Nachprüfungsantrag geltend, dass das für den Zuschlag vorgesehene Unternehmen die vom Antragsgegner aufgestellten Anforderungen nicht erfülle und auszuschließen sei.
Im Nachprüfungsverfahren stellt der Antragsgegner einen Antrag auf Vorabgestattung des Zuschlags. Er begründet den Antrag damit, dass seine eigenen und die Interessen der Allgemeinheit an einer energetischen Sanierung des Konzerthauses unter Ausschöpfung der bewilligten Förderung und Vermeidung zusätzlicher Kosten die Interessen der Antragstellerin überwiegen würden. Die Be- und Entlüftung des Konzerthauses würde derzeit mittels Überbrückungsmaßnahmen sichergestellt. Diese Maßnahme sei ausgereizt. Eine weitere Verzögerung habe einen Bau- und Sanierungsstop zur Folge. Nach dem im Zuwendungsverlängerungsbescheid festgelegten Projektzeitraum sei die Maßnahme bis zum 30. April 2023 durchzuführen, abzuschließen und abzurechnen. Die Gebäudeautomation sei ein Schlüsselgewerk für die sach- und zeitgerechte Durchführung des Förderprojekts.
Die VK Berlin lehnt den Antrag auf Vorabgestattung des Zuschlags ab.
Bei einer Abwägung der Interessen des Antragstellers und des Antragsgegners sowie dem Interesse der Allgemeinheit an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens würden die verzögerungsbedingten Nachteile nicht gegenüber den mit der Verzögerung einhergehenden Vorteilen überwiegen. Durch die Vorabgestattung würde der Antragstellerin der Primärrechtsschutz irreversibel genommen und sie auf den Sekundärrechtsschutz verwiesen. Das Vorbringen des Antragsgegners zeige kein überwiegendes besonderes Beschleunigungsinteresse auf.
Die Vergabekammer hält zunächst fest, dass die Verzögerung einer Zuschlagserteilung durch ein Nachprüfungsverfahren grundsätzlich auch dann kein besonderes Beschleunigungsinteresse begründen kann, wenn die Vergabekammer die grundsätzlich 5-wöchige Entscheidungsfrist nach § 167 Abs. 1 1 GWB verlängert hat. Die Verlängerung sei bereits im Gesetz angelegt und werde statistisch in rund der Hälfte aller Nachprüfungsverfahren verfügt. Zudem gäbe es in der Beschwerdeinstanz überhaupt keine Entscheidungsfrist und die Verfahrensdauer bei Beschwerdeverfahren sei in der Regel deutlich länger als bei dem Vergabekammerverfahren.
Auch die vom Auftraggeber dargelegten finanziellen Mehraufwände durch die fortdauernden Überbrückungsmaßnahmen, einen denkbaren Baustopp und etwaigen Mehrverbrauch an Energie würden die sofortige Gestattung des Zuschlags nicht rechtfertigen. Grundsätzlich trage der öffentliche Auftraggeber das Vergabeverfahrensrisiko. Er habe die Realisierungsvoraussetzungen für sein Beschaffungsvorhaben zu schaffen und die notwendigen Zeiträume für das Vergabeverfahren mit anschließendem Rechtsbehelfsverfahren zu berücksichtigen. Die finanziellen Folgen eines verzögerten Zuschlags habe er prinzipiell ebenfalls zu tragen.
Der vom Antragsgegner angeführte drohende Fördermittelverlust könne ebenfalls kein besonders dringliches Interesse an einer Zuschlagserteilung begründen. Es sei schon nicht ersichtlich, dass es bei einer noch geringfügigen Verzögerung nicht möglich sein sollte, den im Zuwendungsbescheid vorgesehenen Projektzeitraum einzuhalten. Zudem habe der Antragsgegner auch nicht dargelegt, dass eine Änderung des Zuwendungsbescheids (Verlängerung des Projektzeitraums und unter Umständen Erhöhung der Förderung um verzögerungsbedingte Mehrkosten) ausgeschlossen sei.
Anträge auf vorzeitige Gestattung des Zuschlags sind in der Praxis selten. Und noch seltener haben sie Erfolg. Auch der Beschluss der Vergabekammer Berlin belegt, dass die Hürden für eine vorzeitige Gestattung des Zuschlags sehr hoch sind. Der Auftraggeber muss darlegen, dass ein Ausnahmefall vorliegt, in dem ein dringendes Interesse von besonderem Gewicht an der vorzeitigen Zuschlagserteilung besteht. In Betracht kommt dies beispielsweise in Fällen, in denen ohne einen vorzeitigen Zuschlag die gesamte Beschaffungsmaßnahme hinfällig werden würde. Auch wenn die Aufrechterhaltung wichtiger Funktionen der Daseinsvorsorge oder Leib und Leben der Bevölkerung gefährdet sind, kann eine Ausnahmekonstellation vorliegen, in der das Rechtschutzinteresse eines Antragstellers zurückstehen muss.
Die Entscheidung der Vergabekammer Berlin zeigt ferner, dass es dem Auftraggeber obliegt, alle zur Vermeidung von Verzögerungsschäden notwendigen Schritte zu unternehmen. Bei drohenden Schäden aufgrund der drohenden Nichteinhaltung eines im Förderbescheid vorgegebenen Projektzeitraums gehört hierzu die Kontaktaufnahme mit dem Zuwendungsgeber und die Beantragung einer Änderung des Zuwendungsbescheids. Der Antrag auf Vorabgestattung des Zuschlags ist quasi ultima ratio, wenn der drohende Schaden nicht mehr anders abgewehrt werden kann.
Welche Alternativoptionen hat der Auftraggeber? Wenn sich bei zeitkritischen Vergabeverfahren ein Nachprüfungsverfahren abzeichnet, kann der Auftraggeber auch überlegen, ob die Hinterlegung einer Schutzschrift bei der Vergabekammer Sinn macht. Wird dann ein Nachprüfungsantrag eingereicht, kann die Vergabekammer bei ihrer noch vor Übermittlung des Nachprüfungsantrags und damit vor Auslösung des Zuschlagsverbots anzustellenden Prüfung, ob der Nachprüfungsantrag offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist, die Gegenargumentation des Auftraggebers bereits berücksichtigen. In Betracht zu ziehen ist eine Schutzschrift daher beispielsweise in Fällen, in denen der Auftraggeber darlegen kann, dass die in dem Nachprüfungsantrag zu erwartenden Rügen offensichtlich präkludiert sind oder ohne jede Substanz ins Blaue hinein erhoben werden.
Außerhalb von solchen Ausnahmekonstellationen gilt, dass Auftraggeber Verzögerungen durch Nachprüfungsverfahren wohl am ehesten durch eine möglichst transparente Verfahrensgestaltung vermeiden können. Hierzu trägt insbesondere eine nachvollziehbare Kommunikation der Gründe für die Nichtberücksichtigung eines Angebots bei. Im Regelfall machen es sich unterlegene Bieter mit der Entscheidung zur Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens nicht leicht. Fühlt der Bieter sich aber subjektiv unfair behandelt, weil er aus seiner Sicht nicht einmal eine hinreichend nachvollziehbare Begründung für die Nichtberücksichtigung seines Angebots erhält, kann dies den Ausschlag für die Entscheidung zur Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens geben.
Der Autor Dr. Tobias Schneider ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht im Berliner Büro der Kanzlei Dentons. Er berät Unternehmen und öffentliche Auftraggeber bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen und vertritt deren Interessen in Vergabeverfahren und vor den Nachprüfungsinstanzen.
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