Der EuGH hat einem engen Verständnis der Aufgreifschwelle für ungewöhnliche niedrige Angebote eine Absage erteilt. Ein Vergleich der Angebotspreise sei hilfreich, aber keinesfalls das einzige Kriterium, um die näher zu überprüfenden Angebote herauszufiltern.
Art. 38 und 49 der Richtlinie 2009/81, Art. 56 und 69 der Richtlinie 2014/24, VgV § 60 Abs. 1
Das bulgarische Innenministerium schrieb 2018 im Wege eines nicht offenen Verfahrens Planung, Aufbau und Verwaltung eines Systems zur Ausstellung von Ausweisdokumenten aus. Zur Angebotsabgabe wurden zwei Unternehmen aufgefordert. Das mit seinem Angebot unterlegene Unternehmen wehrte sich gegen die Zuschlagsentscheidung mit der Begründung, dass das Angebot des Wettbewerbers ungewöhnlich niedrig sei. Das bulgarische Vergaberecht sieht hierzu folgende Regelung vor:
„Ist das zu bewertende Angebot eines Teilnehmers in Bezug auf Preis oder Kosten hinsichtlich desselben Bewertungsfaktors um mehr als 20 % günstiger als der Mittelwert der Angebote der übrigen Teilnehmer, verlangt der öffentliche Auftraggeber eine ausführliche schriftliche Rechtfertigung, wie das Angebot erstellt wurde; diese Rechtfertigung ist innerhalb von fünf Tagen nach Erhalt der Aufforderung vorzulegen.“
Erstinstanzlich wurde der Antrag zurückgewiesen, da die Regelung bei lediglich zwei eingereichten Angeboten nicht anwendbar sei. Das oberste bulgarische Verwaltungsgericht fragte den EuGH u.a. ob eine Prüfpflicht bestehe, wenn das gesetzliche festgelegte Bewertungskriterium objektiv nicht anwendbar und kein anderes Kriterium im Vorhinein bekanntgemacht worden sei, und ob eine Prüfpflicht nicht entfalle, wenn lediglich zwei Angebote vorliegen.
Der EuGH stellte wenig überraschend fest, dass der öffentliche Auftraggeber aufgrund der Art. 38 und 49 der Richtlinie 2009/81 verpflichtet sei, die zweifelhaften Angebote zu identifizieren. Natürlich auch dann, wenn lediglich zwei Angebote vorliegen. Der Gerichtshof knüpfte ferner an seine Rechtssprechungslinie an, wonach es Sache der Mitgliedstaaten und insbesondere der öffentlichen Auftraggeber sei, die Ungewöhnlichkeitsschwelle und ggf. eine bestimmte Methode zur Ermittlung ungewöhnlich niedriger Angebote festzulegen.
Bemerkenswert ist allerdings, dass der Gerichtshof verlangt, dass die zweifelhaft erscheinenden Angebote anhand sämtlicher Merkmale des betreffenden Ausschreibungsgegenstandes zu identifizieren seien und nicht allein über einen (Preis-)Vergleich. Die Richter schließen sich in dem Punkt ausdrücklich der in den Schlussanträgen des Generalanwalts wie folgt geäußerten Rechtsauffassung an:
„37. Die bulgarische Regierung ist der Auffassung, die Feststellung ungewöhnlich niedriger Angebote könne nur auf arithmetische Berechnungen, wie sie im nationalen Recht geregelt seien, gestützt werden. Sie meint, bei dieser Lösung sei eine Objektivität gewährleistet, die nicht sichergestellt werden könne, wenn die Identifizierung zweifelhafter Angebote auf der subjektiven Beurteilung des öffentlichen Auftraggebers beruhe.
38. Ich teile diese Ansicht nicht. Der öffentliche Auftraggeber muss anhand sämtlicher Merkmale des Ausschreibungsgegenstands die Angebote identifizieren, die zweifelhaft erscheinen (und deshalb dem kontradiktorischen Verfahren der Überprüfung unterliegen). So sehr ein Vergleich mit den übrigen konkurrierenden Angeboten in bestimmten Fällen zur Feststellung einer Anomalie auch hilfreich sein mag, kann er doch nicht zum einzigen Kriterium gemacht werden, das der öffentliche Auftraggeber anwendet. Die Prüfung aller für sich betrachteten Merkmale eines Angebots ermöglicht ihm die Feststellung, ob das zweifelhafte Angebot trotz des Anscheins und der Abweichung von den Preisen anderer Bewerber der Ausschreibung hinreichend seriös ist.“
Sowohl der Generalanwalt als auch der Gerichtshof halten die zur RL 2009/81 erfolgten Auslegung zudem auf die im Wesentlichen übereinstimmenden Art. 56 und 69 der Richtlinie 2014/24 übertragbar. Die Entscheidung ist somit für das gesamte Oberschwellenrecht relevant und wohl auch für die UVgO, da sie eine der VgV entsprechende Regelung enthält (vgl. EuGH, Urt. v. 16.06.2022 – C-376/21, dazu).
Ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig erscheint, ergibt sich nach dem EuGH nicht allein durch einen (Preis-) Vergleich mit den Angeboten der Wettbewerber. Dies mag ein wichtiges und in der Praxis sicherlich auch gut handhabbares Instrument sein, aber es ist eben nur ein Teil der verlangten Einzelfallbetrachtung. Insbesondere als prozentualen Preisabstand vom nächsthöheren Angebotspreis definierte Schwellenwerte können eine Methode sein, mit der verdächtigte Angebote ermittelt werden. Für die Frage, ob es sich um ein zweifelhaftes Angebot handelt, über das vom Bieter nähere Aufklärung zu verlangen ist, sind indes vom Auftraggeber alle besonderen Umstände, sämtliche Merkmale des Ausschreibungsgegenstandes heranzuziehen. In den Schlussanträgen wird zudem noch deutlicher der hierbei bestehende Beurteilungsspielraum des Auftraggebers herausgearbeitet.
Der Bundesgerichtshof hatte in dem Beschluss vom 31.01.2017 XZB 10/16 noch offengelassen, ob es unverrückbare Schwellenwerte gebe, bei deren Überschreiten eine Aufklärung immer verpflichtend oder bei deren Unterschreiten eine Aufklärung schon gar nicht zulässig sei. Es klang aber bereits an, dass Preisabstände zu Angeboten der Wettbewerber (lediglich) ein Indiz für ein ungewöhnlich niedrig erscheinendes Angebot sein können, die Unangemessenheit des Verhältnisses von Preis und Leistung sich aber auch anhand anderer Kriterien feststellen ließe:
„Ob eine Schwelle von 20 % als unverrückbare Untergrenze anzusehen ist oder ob besondere Umstände im Einzelfall Aufklärungsbedarf auch bei geringeren Abständen indizieren können, kann fraglich sein, bedarf im Streitfall aber keiner abschließenden Beurteilung, weil hier der Preisabstand von über 30 % zum Angebot der Ast. jedenfalls hinreicht, um den Auftraggeber zu einer Angemessenheitsprüfung zu veranlassen. Im Übrigen kann sich die Frage der Unangemessenheit eines Preises nicht nur aufgrund des signifikanten Abstandes zum nächstgünstigen Gebot im selben Vergabeverfahren stellen, sondern gleichermaßen etwa bei augenfälliger Abweichung von in vergleichbaren Vergabeverfahren oder sonst erfahrungsgemäß verlangten Preisen […].“
Aus der EuGH-Entscheidung folgt, dass die in der deutschen Vergaberechtsprechung anerkannten Schwellenwerte, insb. die 20%-Grenze, den Auftraggebern eine gute Orientierung geben können. Die Auftraggeber müssen und dürfen aber auch jenseits dieser starren prozentualen Abstandsregelungen die Umstände des Einzelfalls prüfen. Beurteilt der Auftraggeber ein Angebot als zweifelhaft, d.h. erscheint es ihm als ungewöhnlich niedrig, hat er Aufklärung von dem betroffenen Bieter zu verlange.
Sieht der Auftraggeber keinen Anlass zur Preisaufklärung, sollte dieser sich nicht schematisch auf das Unterschreiten eine Aufgreifschwelle (von 20%) verlassen. Neben dem Preisabstand zum nächsthöheren Angebot sollte vorsorglich erörtert und dokumentiert werden, dass auch keine weiteren Umstände ersichtlich sind, die ein Angebot als ungewöhnlich niedrig erscheinen lassen.
Will der Auftraggeber trotz eines relativ geringen Preisabstands (von weniger als 10%) aufklären, kann er sich auf die EuGH-Entscheidung Veridos stützen, um weitere Merkmale heranzuziehen und einen subjektiven Beurteilungsspielraum für sich in Anspruch zu nehmen. Es sollte wie immer darauf geachtet werden, dass der zugrunde gelegte Sachverhalt hinreichend ermittelt wird.
Jan Helge Mey ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht. Er ist Partner in der Sozietät BHO Legal in Köln. Jan Helge Mey ist spezialisiert auf das Vergabe- und Zuwendungsrecht, Luft- und Weltraumrecht sowie Außenwirtschaftsrecht, ist Autor zahlreicher Fachbeiträge und führt Schulungen für Behörden und Unternehmen durch.
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