Große bauliche Infrastrukturprojekte stehen häufig im Mittelpunkt der vergaberechtlichen Rechtsprechung. Solche langfristigen Vorhaben sind oft durch ein komplexes Vertragsgeflecht aus Finanzhilfen und Kaufelementen gekennzeichnet, das zudem von der EU-Kommission beihilferechtlich genehmigt werden muss. In vergaberechtlicher Hinsicht stellt sich dabei regelmäßig die Frage, ob ein öffentlicher Bauauftrag vorliegt.
Art. 2 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. c RL 2014/24/EU; § 103 Abs. 3 Satz 2 GWB.
Leitsatz
Ein öffentlicher Bauauftrag liegt auch dann vor, wenn ein Vertragswerk aus einer beihilferechtskonformen Finanzhilfevereinbarung und einem Kaufvorvertrag besteht, sofern darin gegenseitige Verpflichtungen begründet werden. Dazu gehört die Verpflichtung zum Bau gemäß den vom öffentlichen Auftraggeber festgelegten Bedingungen sowie die einseitige Option des Bauunternehmers, den öffentlichen Auftraggeber zum Kauf des Bauwerks zu verpflichten.
Sachverhalt
Im Jahr 2013 schloss die slowakische Regierung ohne wettbewerbliches Vergabeverfahren mit dem Unternehmen NFS einen Finanzhilfevertrag zum Bau des nationalen Fußballstadions in Bratislava und legte die Bedingungen für diesen Bau fest. Die Slowakei verpflichtete sich zur Zahlung von 27,2 Mio. Euro aus dem Staatshaushalt, während NFS sich zur Kofinanzierung von mindestens 60 Prozent der Baukosten verpflichtete.
Drei Jahre später unterzeichneten beide Parteien einen Kaufvorvertrag, der NFS das Recht einräumte, das Stadion an den Staat zu verkaufen und zu übereignen. Der Kaufvorvertrag enthielt detaillierte technische Spezifikationen und Materialparameter des Stadions. Zeitgleich wurde auch die Finanzhilfevereinbarung geändert. 2017 genehmigte die Europäische Kommission die Beihilfe der slowakischen Regierung gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV.
Im Jahr 2020 weigerten sich die slowakischen Behörden, die geschlossenen Verträge zu erfüllen, da sie gegen das EU-Vergaberecht verstießen. Sie argumentierten, dass der Kaufvorvertrag wegen der Zahlungsmodalitäten entgeltlichen Charakter habe und sie entscheidenden Einfluss auf das Stadion ausüben würden, da es gemäß der Finanzhilfevereinbarung den Anforderungen der Union Europäischer Fußballverbände (UEFA) an die Stadioninfrastruktur entsprechen müsse. Das Unternehmen NFS hingegen vertrat die Ansicht, dass der Kaufvorvertrag keine Verpflichtung zur Erbringung von Bauleistungen vorsehe und daher kein entgeltlicher öffentlicher Bauauftrag vorliege. Außerdem habe es sich selbst bei der Auswahl seiner Auftragnehmer zum Stadionbau an das Vergaberecht gehalten, worauf in der Kommissionsgenehmigung hingewiesen würde (Rdnr. 57).
Dies alles führte zu mehreren wechselseitigen Rechtsstreitigkeiten zwischen den Parteien: Der slowakische Staat verklagte NFS auf Rückerstattung der Finanzhilfe in Höhe von 27,2 Mio. Euro, während NFS die Slowakei im Zusammenhang mit dem Stadionprojekt auf Schadensersatz in Höhe von 47,3 Mio. Euro und einer Vertragsstrafe von 48 Mio. Euro verklagte. In einem dieser Rechtsstreitigkeiten ersuchte das vorlegende Gericht den EuGH um Klärung, ob die mit NFS abgeschlossenen Verträge einen öffentlichen Bauauftrag verschleierten und daher europaweit hätten ausgeschrieben werden müssen.
Die Entscheidung
Die Luxemburger Richter stellten fest, dass Verträge auch Willensvereinbarungen umfassen, die sich aus mehreren Dokumenten ergeben, selbst wenn jedes dieser Dokumente nach nationalem Recht als eigenständiger Vertrag gilt (Rdnr. 40). Dementsprechend weisen die Finanzhilfevereinbarung und der Kaufvorvertrag sowohl einen sachlichen als auch einen zeitlichen Zusammenhang auf, weil mit dem Stadionbau erst 2016 begonnen wurde, also nach Abschluss des Kaufvorvertrages und der geänderten Finanzhilfevereinbarung (Rdnr. 41).
Der EuGH betonte, dass der Begriff entgeltlich einerseits einen Vertrag beschreibt, bei dem beide Parteien verpflichtet sind, eine Leistung im Austausch für eine andere zu erbringen. Dieses Synallagma ist ein zentrales Merkmal öffentlicher Aufträge, da es rechtlich bindende Verpflichtungen für beide Vertragsparteien schafft, deren Erfüllung einklagbar sein muss (Rdnr. 44). Selbst wenn ein Vertrag eine Kaufverpflichtung des öffentlichen Auftraggebers ohne entsprechende Verkaufsverpflichtung des Vertragspartners enthält, schließt dies den synallagmatischen Charakter des Vertrages nicht zwangsläufig aus. Eine solche Beurteilung erfordert eine umfassende Prüfung aller relevanten Aspekte (Rdnr. 45). Im vorliegenden Fall verpflichtete der Finanzhilfevertrag den öffentlichen Auftraggeber zur Gewährung der Finanzhilfe und das Unternehmen zum Bau des Fußballnationalstadions gemäß staatlichen Vorgaben sowie zur Finanzierung von mindestens 60 Prozent der Baukosten (Rdnr. 46).
Ein öffentlicher Bauauftrag umfasst andererseits die Erbringung der gewünschten Bauleistungen, an denen der öffentliche Auftraggeber ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse hat. Dieses Interesse besteht nicht nur, wenn der Auftraggeber Eigentümer der Bauleistung oder des Bauwerks wird, sondern auch in anderen Fällen, insbesondere wenn er über einen Rechtstitel verfügt, der ihm die Verfügbarkeit der Bauwerke für ihre öffentliche Zweckbestimmung sichert (Rdnr. 47). Das wirtschaftliche Interesse des öffentlichen Auftraggebers kann sich auch in den Vorteilen aus der zukünftigen Nutzung oder Veräußerung des Bauwerks zeigen. Es kann zudem in seiner finanziellen Beteiligung an der Erstellung des Bauwerks oder in den Risiken bestehen, die er im Falle eines wirtschaftlichen Fehlschlags des Bauwerks trägt (Rdnr. 49). In diesem Fall durfte das Unternehmen das Stadion nur mit Zustimmung des öffentlichen Auftraggebers an Dritte verkaufen, was dem öffentlichen Auftraggeber im Wesentlichen ein Vorkaufsrecht für das Stadion einräumt, das einen eigenen wirtschaftlichen Wert hat (Rdnr. 48). Zudem stellt die im Kaufvorvertrag eingeräumte Option eine Garantie gegen das Geschäftsrisiko dar, dass sich das Stadion als wirtschaftlich nicht tragfähig erweisen könnte. Der öffentliche Auftraggeber übernahm somit durch seine Verpflichtung, das Stadion auf Ersuchen des Unternehmens zu kaufen, das volle Risiko für den Fall des wirtschaftlichen Scheiterns des Bauvorhabens (Rdnr. 50).
Ein öffentlicher Bauauftrag zur Errichtung eines Bauwerks muss zudem gemäß den Erfordernissen des öffentlichen Auftraggebers ausgeführt werden (Rdnr. 51). Der Einfluss des Auftraggebers auf die architektonische Struktur, wie Größe, Außenwände und tragende Wände, ist entscheidend (Rdnr. 52). Im vorliegenden Fall musste das Fußballstadion den UEFA-Regeln für Stadioninfrastruktur entsprechen. Diese Anforderungen könnten den bestimmenden Einfluss des Auftraggebers auf die Struktur des Stadions verdeutlichen, etwa hinsichtlich der Spielfeldgröße, Zuschauerkapazität oder Parkplätze, was das vorlegende Gericht noch näher prüfen muss (Rdnr. 54).
Ein öffentlicher Bauauftrag wird schließlich nicht dadurch ausgeschlossen, dass die EU-Kommission die Finanzhilfe für den Bau des Fußballnationalstadions und den Kaufvorvertrag als mit dem Binnenmarkt vereinbare staatliche Beihilfe gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV genehmigt hat (Rdnr. 56). Mögliche Beurteilungen, die sich implizit aus einem Kommissionsbeschluss über staatliche Beihilfen ergeben, sind – wie hier – für Rechtsstreitigkeiten ohne Bezug zur Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt unbeachtlich und für nationale Gerichte nicht bindend (Rdnr. 59). Ein öffentlicher Auftraggeber, der an das EU-Vergaberecht gebunden ist, kann sich auch nicht dadurch entlasten, dass er die von ihm beauftragten Unternehmen zur Einhaltung der Vergabevorschriften verpflichtet. Für das Bestehen eines öffentlichen Bauauftrags zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und dem Unternehmen ist es daher unerheblich, dass im Kommissionsbeschluss festgehalten wurde, dass der Unternehmer selbst die Bauarbeiten für das Fußballstadion nach den geltenden Vergabevorschriften beauftragt hat (Rdnr. 60).
Rechtliche Würdigung
Das Urteil ist in dreierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens bekräftigt der EuGH die synallagmatische Rechtsformel des do ut des, die für die Entgeltlichkeit aller öffentlicher Aufträge kennzeichnend ist: Der Unternehmer erbringt eine Leistung, um eine Gegenleistung (das Entgelt) vom öffentlichen Auftraggeber zu erhalten, und umgekehrt. Dieser Gedanke, der für Bauaufträge im Urteil Helmut Müller (EuGH, Urt. v. 25.3.2010, C-451/08, Rdnr. 60) angedeutet und auf der Entscheidung Ordine degli Architetti u.a. (EuGH, Urt. v. 2.7.2001, C-399/98, Rdnr. 77) basiert, wurde zuletzt in der Rechtssache Tax-Fin-Lex (EuGH, Urt. v. 10.9.2020, C-367/19, Rdnr. 25 f.) präzisiert. Die Luxemburger Richter beschränken den synallagmatischen Charakter aber nicht auf einzelne Vertragsteile wie etwa Kauf- und Verkaufsverpflichtungen. Vielmehr betrachten sie das gesamte, aus mehreren Teilen bestehende Vertragswerk, um ein gegenseitiges Austauschverhältnis zu begründen.
Zweitens betonen die europäischen Richter erneut die in der Entscheidung Wiener Wohnen (EuGH, Urt. v. 22.4.2021, C-537/19, Rdnr. 53) beschriebene Einflusstrias des öffentlichen Auftraggebers für den Drittbau gemäß § 107 Abs. 3 Satz 2 GWB. Der öffentliche Auftraggeber beeinflusst die Gestaltung eines Gebäudes maßgeblich, wenn er die architektonische Struktur bestimmt. Dazu gehören (1.) die Größe, also die Gesamtabmessungen und das Volumen, (2.) die Außenwände, also die äußeren Gebäudebegrenzungen, und (3.) die tragenden Wände für das Gebäudegewicht. In diesem Fall wird der Drittbau nach den Erfordernissen des öffentlichen Auftraggebers umgesetzt. Seine Vorgaben beeinflussen maßgeblich die Art und Planung des Bauprojekts. Eine richterliche Präzisierung und Abgrenzung wäre jedoch wünschenswert gewesen, um diesen wichtigen Aspekt für die Baupraxis klarer zu definieren. Denn unter die architektonische Struktur eines Bauwerks lassen sich beispielsweise weitere äußere Bestandteile subsumieren, die das Erscheinungsbild eines Gebäudes prägen, wie etwa die Dachform/-konstruktion, die Fassadengestaltung sowie Fenster und Türen. Weitere Entscheidungshilfen wären auch deshalb hilfreich, weil die kraft Gesetzes geltenden technischen Normen oder die einem marktüblichen Stand der Technik entsprechenden Gebäudemerkmale keinen entscheidenden Einfluss eines öffentlichen Auftraggebers vermitteln sollen (EuGH, Urt. v. 22.4.2021, C-537/19, Wiener Wohnen, Rdnr. 83). Ob und in welchem Umfang solche vom öffentlichen Auftraggeber vorgegebenen Kriterien sowohl bei der äußeren Gestaltung als auch bei der Ausführung der Innenräume noch eine Vielzahl architektonischer Lösungen zulassen, die innerhalb eines sehr weiten fachlichen Kreativitätsspielraums entwickelt werden können, und damit nicht mit detaillierten technischen Lösungen gleichzusetzen sind, die ein Bauherr dem Auftraggeber vorschreiben kann (vgl. Generalanwalt Campos Sànchez-Bordona, Schlussanträge v. 11.4.2024, C-28/23 NFS, Rdnr. 66 f.), bleibt daher schwer abgrenzbar.
Drittens stellt der EuGH klar, dass das europäische Beihilferecht und das EU-Vergaberecht unterschiedliche Regelungsbereiche haben. Indirekte Schlussfolgerungen aus Beihilfebeschlüssen der Europäischen Kommission zu vergaberechtlichen Themen, wie das Vorliegen eines öffentlichen Auftrags, sind für Nachprüfungsverfahren grundsätzlich irrelevant (anders wohl Generalanwalt Campos Sànchez-Bordona, Schlussanträge v. 11.4.2024, C-28/23 NFS, Rdnr. 78 ff.). Für Nachprüfungsverfahren, die keinen Bezug zur Prüfung der Beihilferechtskonformität haben, welche ausschließlich von der EU-Kommission beurteilt wird, besteht keine bindende Wirkung. Ein Notifizierungsbeschluss der Europäischen Kommission, der eine Beihilfe gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV als mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt, hat somit keine Konzentrationswirkung dahin, dass er zugleich vergaberechtliche Aspekte regelt und in einem einzigen Beschluss konzentrieren würde.
Praxistipp
Die Frage, ob Immobilienbedarfsgeschäfte als ausschreibungspflichtige öffentliche Bauaufträge gelten, bleibt weiterhin umstritten. Besonders der Drittbau nach § 103 Abs. 3 Satz 2 GWB weist unscharfe vergaberechtliche Konturen auf und lässt verschiedene Interpretationen zu. Öffentliche Auftraggeber müssen daher die aktuellen Entscheidungen genau verfolgen und die Voraussetzungen eines öffentlichen Bauauftrags im Einzelfall laufend prüfen. Aufgrund der langen Projektphasen und häufig zahlreichen Einzelvertragsabschlüssen ist eine kontinuierliche Anpassung der juristischen Bewertungen an geänderte Rahmenbedingungen notwendig. Beihilferechtlich erfolgreich notifizierte Vorhaben bieten in diesem Zusammenhang jedenfalls keinen vergaberechtlichen Freifahrtschein und entlasten die öffentlichen Auftraggeber insoweit nicht.
Holger Schröder
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss „Fachanwalt für Vergaberecht“ der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.
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