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Zitierangaben: Vergabeblog.de vom 05/03/2025 Nr. 70184

„Wir erleben derzeit eine Überindividualisierung!“ – Interview mit Ralph Brinkaus, CDU

Ein Gespräch über die Modernisierung des Staates und der Rolle des Vergaberechts

Brinkhaus
Spezifische Leitziele im Koalitionsvertrag, eine systematische Effizienzprüfung von Gesetzen und sogar ein eigenes Transformationsministerium – das sind nur drei der insgesamt 100 Vorschläge, die Ralph Brinkhaus in seinem Arbeitspapier „100 Vorschläge für den Neustaat“ präsentiert. Eines wird dabei sofort deutlich: Die Modernisierung des deutschen Staates erfordert umfassende Reformen. Wie diese Transformation konkret aussehen soll, welche Prioritäten die Union nach ihrem jüngsten Wahlerfolg setzt und inwiefern auch die öffentliche Beschaffung reformbedürftig ist, hat uns der CDU-Politiker im Gespräch in seinem Bundestagsbüro in Berlin erläutert.

DVNW: Herr Brinkhaus, ihre Partei hat die Wahl gewonnen, sie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Senior-Partner in der neuen Regierungskoalition. Wo liegen die Prioritäten der Union für die kommende Legislaturperiode? Was steht ganz oben auf der Agenda?

Ralph Brinkhaus: Ganz oben auf der Agenda steht das Thema Außen- und Sicherheitspolitik. Wir Europäerinnen und Europäer stehen vor großen Herausforderungen. Die westliche Sicherheitsarchitektur wird durch Trumps Ukraine–Initiative neu verhandelt und der amerikanische Schutzschirm für Europa wird von uns übernommen werden müssen. Der neue Bundeskanzler wird einen erheblichen Teil seiner Arbeitszeit darauf verwenden müssen. Anschließend ist selbstverständlich die Wirtschaft ein zentrales Thema. Die letzten dreieinhalb Jahre waren wirtschaftlich herausfordernd, daher müssen wir dringend bessere Rahmenbedingungen schaffen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Regulierung der Migration. Und natürlich dürfen wir den Klimawandel nicht kleinreden. Kurz gesagt: Es gibt viel zu tun.

DVNW: Ein für Sie zentrales Thema ist neben all den gerade genannten Punkten die Modernisierung des Staates. Dazu haben Sie kürzlich ein Arbeitspapier verfasst, das 100 Vorschläge für einen sogenannten „Neustaat“ präsentiert. Ein ähnliches Papier wurde von Ihrer Partei bereits im Wahlkampf 2021 veröffentlicht. Was unterscheidet den aktuellen Neustaat-Plan von dem aus 2021? Warum haben Sie sich entschlossen, dieses Thema nun noch mal anzugehen? 
Brinkhaus: Damals habe ich gesagt, der Staat brauche eigentlich eine Revolution statt einer Reform. Damit war ich weitgehend allein, weil das Thema schlicht noch nicht reif war. Zwar fand es etwas Eingang in den Koalitionsvertrag der Ampel, wurde aber nie konsequent umgesetzt – auch wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine und anderer Ereignisse. Inzwischen ist das Thema deutlich gereift. Es gibt nicht nur mein Papier, sondern auch weitere Ansätze von unterschiedlichen Seiten. Mir war es ein Anliegen, diese Ansätze zu ordnen, zu strukturieren, zusammenzuführen und von einer reinen Metaebene herunterzuholen, um konkreter zu werden.
DVNW:  Der erste Abschnitt dieses Papiers spricht von ziel- und wirkungsorientierter Politik. Wir vom DVNW interessieren uns besonders dafür, was das für die öffentliche Beschaffung bedeutet. Sie schlagen hier zu Beginn einen Koalitionsvertrag mit messbaren Leitzielen vor. Wie müssten diese Ziele für die öffentliche Beschaffung aussehen?

Brinkhaus: Wir haben alle mehr als ein Bauchgefühl, dass die öffentliche Beschaffung in Deutschland ineffizient und zu teuer erfolgt. In einem Industriebetrieb würde ich sagen, dass man bei gleicher Qualität mindestens zehn Prozent einsparen kann. Im öffentlichen Bereich ist das natürlich schwieriger. Aus meiner wirtschaftlichen Erfahrung weiß ich aber, wie wichtig es ist, Bedarfe zu bündeln, effizientere Prozesse aufzusetzen, mehr zu standardisieren und weniger auf Spezialanfertigungen zu setzen. Außerdem sollten wir enger mit den Unternehmen zusammenarbeiten, die Dienstleistungen, Bau- oder Warenleistungen erbringen.

DVNW: Im Rahmen dieser Leitziele soll auch deren klare Priorisierung erfolgen. Welche Dringlichkeit haben Verbesserungen in der öffentlichen Beschaffung für ihre Partei in dieser kommenden Legislaturperiode?

Brinkhaus: Wenn wir mit einem öffentlichen Beschaffungsvolumen von ungefähr 360 Milliarden Euro rechnen, könnte eine Effizienzsteigerung um nur zehn Prozent ganze 36 Milliarden Euro freisetzen. Diese Summe könnte Bund, Ländern und Kommunen enorm helfen. Aktuell pressen wir die Haushalte aus, anstatt konsequent nach Potenzialen im Beschaffungswesen zu suchen. Eine effizientere Beschaffung ist daher nicht nur eine Frage geringerer Bürokratie. Sie ist auch eine haushaltspolitische Notwendigkeit. Das gelingt uns nur, wenn wir das Primärziel der Beschaffung nicht aus den Augen verlieren: möglichst schnell und nachhaltig Waren und Leistungen in guter Qualität und ausreichender Menge zu erhalten. Deshalb sollten wir uns jetzt genau ansehen, was in den Regelwerken wirklich notwendig ist – und welche Vorgaben zu weit gehen und eher Nebenziele sind.

DVNW: Welche Regelwerke und Gesetze müsste man sich Ihrer Meinung nach hier genauer ansehen?

Brinkhaus: Wir haben derzeit das Problem, dass besonders auf europäischer Ebene viele Vorgaben existieren. Inzwischen gibt es jedoch die Initiative von Ursula von der Leyen – auch auf sanften Druck meiner Parteienfamilie – Europa insgesamt schlanker und weniger bürokratisch zu gestalten. Die nächste Bundesregierung muss mit unseren  europäischen Kolleginnen und Kollegen das europäische Beschaffungsrecht gründlich überarbeiten. Ein konkretes Beispiel wäre die Definition von Schwellenwerten. Es gibt aber noch deutlich mehr Regelungen, die angepasst werden müssten.

DVNW: Beim Thema Vergaberecht sprechen Sie in Ihrem Papier immer wieder von mehr Zentralisierung, schlagen unter anderem eine zentrale Vergabestelle vor. Wie genau soll das Ihrer Meinung nach aussehen?

Brinkhaus: Ich würde noch weiter gehen und bereits vor der Vergabe Bedarfe bündeln, damit wir mit größeren Beschaffungseinheiten arbeiten können. Ein gutes Beispiel ist Österreich: Dort gibt es eine zentrale Bundesbeschaffung, die Rahmenverträge abschließt und Bedarfe sammelt. Kommunen und Länder können sich anschließen, müssen aber nicht. So was sollten wir auch in Deutschland aufbauen. Außerdem brauchen wir mehr gemeinsame Vergabeplattformen, aber auch Shared-Service Center für die Vergabe, damit zum Beispiel nicht jede Kommune alles eigenständig neu aufsetzen muss. So könnten wir einheitliche Verfahren schaffen, die für Anbieter und Beschaffer gleichermaßen einfacher werden.

DVNW: Sie wollen zudem Bestellungen „aus dem Katalog“ als Standard etablieren – Stichwort „Standard“ vor „Sonderanfertigung“. Wird hier nicht der individuelle Anspruch einer Kommune infrage gestellt?

Brinkhaus: Tatsächlich sind viele Dinge einander ähnlicher, als wir glauben. Natürlich kann man auf lokaler Ebene oder bei einzelnen Beschaffern Unterschiede machen, wenn sie wirklich relevant sind. Dennoch halte ich einen Katalogansatz für sinnvoll. Wir erleben derzeit eine Überindividualisierung, bei der das Pendel oft zu weit ausschlägt. Statt jedes Mal Spezialanfertigungen auszuschreiben, könnten wir stärker auf Standardlösungen setzen. Dasselbe Prinzip ließe sich auf europäischer Ebene anwenden – etwa bei der Ausstattung unserer Streitkräfte. Wenn mehrere Staaten gemeinsam bestellen, werden Stückzahlen größer und Prozesse effizienter. So könnten Ausrüstungsgegenstände von Streitkräften oder auch Panzer in größerer Stückzahl und damit kostengünstiger beschafft werden.

DVNW: Wenn wir über öffentliche Beschaffung sprechen, kommen wir nicht umher, auch das Thema Haushalt anzusprechen. Sie kritisieren in ihrem Papier die oftmals unklare Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern und wollen etwaige Transferzahlung ersatzlose streichen. Kommunen in strukturschwachen Regionen sind jedoch auf diese finanzielle Unterstützung angewiesen. Wie wollen Sie vermeiden, dass soziale und infrastrukturelle Unterschiede weiter zunehmen?

Brinkhaus:Der Bund sollte zunächst ermitteln, wie viel Geld er außerhalb des Sozialbereichs über die Länder an die Kommunen weitergibt. Das könnte man mit einem sinnvollen Verteilschlüssel umsetzen, der soziale und strukturelle Ungleichgewichte berücksichtigt, etwa die Einwohnerzahl und Bedarfsgemeinschaften. Das Geld wird dann direkt an die Kommunen ausgezahlt. So könnten diese selbst entscheiden, wofür sie das Geld verwenden, statt komplizierte Förderanträge mit immer neuen Richtlinien stellen zu müssen. Das spart nicht nur Bürokratie, sondern auch Zeit. Denn derzeit drehen wir unzählige Runden mit Vergabe- und Förderrichtlinien, was komplett ineffizient ist.

DVNW: Die Beseitigung von Ineffizienzen zieht sich als zentrales Thema durch viele Ihrer 100 Vorschläge. Um diese strukturiert anzugehen, schlagen Sie ein Transformationsministerium vor. Welche spezifischen Vorteile hätte eine derartige Behörde für die öffentliche Beschaffung?

Brinkhaus: Alle Ministerien und Bundesbehörden wirken in irgendeiner Form an Transformationsprozessen mit. Ein eigenes Transformationsministerium würde für die gesamte Bundesregierung – und wo föderal möglich, auch für Länder – einheitliche Standards festlegen. Eine solche Herangehensweise würde auch die Beschaffung und Vergabe vereinheitlichen, weil wir auf einheitliche Standards setzen könnten.

DVNW: Sie betonen in ihrem Papier, dass das staatliche Handeln durch die seit Jahrzehnten kaum veränderten staatlichen bzw. politischen Strukturen bestimmt und auch begrenzt wird. Die Union hat den größten Teil der von Ihnen erwähnten Jahrzehnten selbst regiert, diese staatlichen und politischen Strukturen also zwangsläufig auch mit aufgebaut bzw. nicht verändert. Man könnte mit Blick auf diesen Fakt vier weitere Jahre Stillstand vermuten. Wie sehen Sie diese Einschätzung?

Brinkhaus: Wir blicken auf 75 Jahre Bundesrepublik zurück. Und egal wer über die Zeit Kanzler war – ob Sozialdemokrat oder Christdemokrat – nach den Aufbaujahren in den 1950ern ist der Reformeifer einfach erloschen. Da müssen wir uns natürlich auch an die eigene Nase fassen. Man kann es sich wie ein Haus vorstellen. Das hat 30, 40 Jahre gut gehalten und alle größtenteils zufriedengestellt. Dann hat es jedoch angefangen zu bröckeln, in der letzten Zeit wurde es bereits ungemütlicher und nun ist es einfach Zeit für eine Kernsanierung. So ist es auch bei der Bundesrepublik. Das heißt nicht, dass die letzten 75 Jahre schlecht waren oder dass die Kollegen, die vor 20 Jahren dran waren, alles falsch gemacht haben. Damals war es das Richtige. Nun ist es das Richtige, einiges zu ändern. Ob unser Koalitionspartner da die Innovationskraft mitbringen wird, bleibt abzuwarten.


Auf unserer kommenden Tagung „Die Kultur des Vergaberechts“ am 26. März 2025 stellt Ralph Brinkhaus den Teilnehmenden seine Impulse für einen „Neustaat“ genauer vor. Sichern Sie sich jetzt Ihr Ticket unter www.kultur-des-vergaberechts.de !

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