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Zitierangaben: Vergabeblog.de vom 24/03/2025 Nr. 70407

Funktionale Leistungsbeschreibungen sind auch bei Bauvergaben nicht rechtfertigungsbedürftig!

EuGH, Urt. v. 16.01.2025 – C-424/23

Entscheidung-EUBei Bauvergaben der öffentlichen Hand zeichnet sich zunehmend ein Trend zur gesamthaften Vergabe von Planungs- und Bauleistungen aus einer Hand ab. Die sog. Totalunternehmervergabe bietet gegenüber der klassischen Ausschreibung in vielen Einzelgewerken oft zahlreiche Vorteile, insbesondere eine hohe Kosten- und Terminsicherheit. Auch ist es möglich, über ein sog. Zwei-Umschlag-Verfahren Elemente eines Architektenwettbewerbs in die Vergabe zu integrieren.

Notwendig ist dafür eine sog. funktionale Leistungsbeschreibung. Als Hemmnis wird jedoch derzeit oft eine spezifisch deutsche Vorschrift angesehen, die noch aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts stammt. Gemäß § 7c (EU) VOB/A sind funktionale Leistungsbeschreibungen (sog. Leistungsbeschreibung mit Leistungsprogramm) nur im Ausnahmefall zulässig, in der Regel sollen öffentliche Auftraggeber Leistungsverzeichnisse erstellen.

Doch eine aktuelle Entscheidung des EuGH lässt erkennen: diese Vorschrift dürfte nicht vereinbar mit EU-Vergaberecht sein.

Art. 42 Abs. 3 RL 2014/24/EU

Leitsatz

1. Es besteht keine Hierarchie zwischen den in Art. 42 Abs. 3 Buchst. a bis d aufgezählten Methoden der Formulierung der technischen Spezifikationen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2018, Roche Lietuva, C-413/17, EU:C:2018:865, Rn. 26 und 28).

2. Art. 42 Abs. 3 der Richtlinie 2014/24/EU (…) ist dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung enthaltene Aufzählung der Methoden der Formulierung technischer Spezifikationen abschließend ist – unbeschadet mit dem Unionsrecht vereinbarer zwingender nationaler technischer Vorschriften im Sinne dieser Bestimmung und unbeschadet von Art. 42 Abs. 4 dieser Richtlinie.*)
3. Art. 42 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 ist dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung enthaltene Verpflichtung, Wirtschaftsteilnehmern den gleichen Zugang zu den Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge zu gewähren, und das ebenfalls darin enthaltene Verbot, die Öffnung der öffentlichen Beschaffungsmärkte für den Wettbewerb in ungerechtfertigter Weise zu behindern, zwangsläufig verletzt werden, wenn ein öffentlicher Auftraggeber durch eine technische Spezifikation, die nicht mit den Regeln in Art. 42 Abs. 3 und 4 dieser Richtlinie vereinbar ist, bestimmte Unternehmen oder bestimmte Waren ausschließt.

Sachverhalt

In dem entschiedenen Fall ging es um den Bau bzw. die Erneuerung von Abwasserkanälen. Der belgische Auftraggeber hatte allein die Verwendung von Rohren aus Steinzeug zugelassen. Ein Bieter wollte Kunststoffrohre verwenden und griff diese Vorgabe an. Das belgische Gericht meinte, dass die Vorgabe schon grundsätzlich nicht durch die Möglichkeiten, eine Leistung zu beschreiben, gedeckt sei, die in der Vergaberichtlinie geregelt sind, und legte dem EuGH dazu verschiedene Fragen vor.

Die Entscheidung

Keine Hierarchie zwischen funktionaler Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis

Der EuGH betonte zunächst, dass es zwischen den Methoden der Leistungsbeschreibung, die Art. Art. 42 Abs. 3 RL 2014/24/EU regelt, keine Hierarchie gibt (Rn. 29). Dies gilt insbesondere für die Leistungsbeschreibung mittels Leistungs- und Funktionsanforderung einerseits und derjenigen mittels technischer Spezifikationen andererseits. Der Gerichtshof stellte sodann klar, dass diese Vorschrift die Methoden der Leistungsbeschreibung abschließend regelt und Auftraggeber unbeschadet zwingender abweichender technischer nationaler Vorschriften – auch dazu verpflichtet sind, die Leistung mittels dieser Methoden zu beschreiben (Rn. 36).

Bei konkreten Produktvorgaben: Rechtfertigung erforderlich

Im entschiedenen Fall war die Anforderung an das Material keine Leistungs- und Funktionsanforderung (vgl. Rn. 56). Es handelte sich um eine Produktvorgabe, die gemäß Art. 42 Abs. 4 RL 2024/EU gerechtfertigt sein müsse (Rn. 57).

Rechtliche Würdigung

Der im deutschen § 7c EU Abs. 1 VOB/A vorgesehene, grundsätzliche Vorrang des Leistungsverzeichnisses gegenüber der funktionalen Leistungsbeschreibung (Leistungsbeschreibung mit Leistungsprogramm) dürfte nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH kaum haltbar sein. Einen Vorrang der funktionalen Leistungsbeschreibung gegenüber einem Leistungsverzeichnis darf es demnach gerade nicht geben. Auch andere aktuelle Entscheidungen weisen in diese Richtung (vgl. VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.04.2024, AZ.: 1 VK 10/24).

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Dr. Valeska Pfarr, MLE

Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.

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2 Antworten zu „Funktionale Leistungsbeschreibungen sind auch bei Bauvergaben nicht rechtfertigungsbedürftig!“

  1. Avatar von Florian Bretzel
    Florian Bretzel

    Sehr geehrte Frau Kollegin Dr. Pfarr,

    vielen Dank für den Hinweis auf diese interessante Entscheidung des EuGH. Dass sich daraus wirklich ableiten lässt, dass die funktionale LB aufgrund richtlinienkonformer Rechtsauslegung auch in Deutschland gleichrangig mit dem konstruktiven LV stehen muss (was ich sehr begrüßen würde), erscheint mir aber doch etwas vorschnell:

    Zum einen ging es in der Entscheidung nicht um die Frage, ob der Auftraggeber zulässiger Weise funktional ausgeschrieben hat. Im Streit stand vielmehr eine konkrete Produktvorgabe, worauf Sie ja auch hinweisen. Es ging also unmittelbar um eine Rechtfertigung nach Art. 42 Abs. 4 der RL, nicht um die alternativen Arten der Leistungsbeschreibung gemäß Art. 42 Abs. 3.

    Zum anderen war aber m. W. schon lange klar, dass es im Rahmen von Art. 42 Abs. 3 der RL keinen Vorrang der konstruktiven vor der funktionalen Beschreibung gibt. Dazu gab es auch frühere Rechtsprechung des EuGH, die in der aktuellen Entscheidung zitiert wird. Entscheidend ist aber doch, ob der nationale Gesetzgeber in Deutschland gehindert ist, einen strengeren Maßstab anzulegen und eine Hierarchie zu regeln. Diese Frage wurde vom EuGH – da es darum nicht ging – nach meiner Lesart der Entscheidung nicht untersucht. Auch die VK Baden-Württemberg hat dies in ihrer Entscheidung aus dem April 2024 nicht wirklich diskutiert. Die RL selbst enthält in Art. 42 Abs. 3 die Einschränkung, dass zwingende nationale Vorschriften (die natürlich mit dem Unionsrecht vereinbar sein müssen), abweichendes regeln können.

    Ich meine daher, dass wir auf eine entsprechende Vorlage einer deutschen Nachprüfungsinstanz an den EuGH warten müssen, damit man in dieser Frage wirklich belastbar beraten kann, oder?

    Freundliche Grüße
    Florian Bretzel

    1. Avatar von Valeska Pfarr

      Sehr geehrter Herr Kollege Bretzel,

      herzlichen Dank für Ihre ausführliche Rückmeldung! Tatsächlich habe ich beim Schreiben des Artikels überlegt, ob ich näher darauf eingehen soll, dass der EuGH hier seine schon länger bestehende Spruchpraxis lediglich fortsetzt – und die besprochene Entscheidung insofern bei strenger Betrachtung nichts grundsätzlich Neues ist. Nachdem die bisherige Spruchpraxis aber nach meiner Wahrnehmung bislang keine besondere Aufmerksamkeit erfahren hat, erschien es mir legitim, diese lediglich in Klammern zu zitieren (für den Leser wahrscheinlich auch interessanter als die exakte Entscheidungsgenese :))

      Richtig ist auch, dass die Entscheidung sich nicht im Kern auf die Problematik des deutschen § 7c EU VOB/A bezog. Dennoch sind die Aussagen des EuGH zur technischen Spezifikation mittels Leistungs- und Funktionsanforderung meiner Ansicht nach so grundlegender Natur, dass sie m.E. auch über den konkreten Einzelfall hinausgehend Gültigkeit haben.
      Wenn der EuGH also feststellt, dass zwischen den in der Richtlinie genannten Methoden der Leistungsbeschreibung keine Hierarchie besteht, dann setzt eine deutsche Vorschrift, die demgegenüber für genau diese Methoden eine Hierarchie vorsieht, die Richtlinie nicht korrekt in nationales Recht um. Zwar enthält Art. 42 Abs. 3 RL 24/2014/EU die einleitende Formulierung „Unbeschadet zwingender nationaler Vorschriften“ – dies jedoch mit dem (eigentlich selbstverständlichen) Zusatz: „soweit sie mit dem Unionsrecht vereinbar sind“. Eine nationale Vorschrift, die die EU-Richtlinie nicht korrekt umsetzt, ist aber nicht mit dem Unionsrecht vereinbar.
      Es kann im Fall des § 7c EU VOB/A auch nicht von einer „überschießenden“ oder besonders strengen Umsetzung des EU-Rechts die Rede sein. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn an Tatbestände der Richtlinie in der deutschen Rechtsumsetzung noch strengere Rechtsfolgen geknüpft würden, oder wenn Richtlinienvorgaben im deutschen Recht auch auf Sachverhalte ausserhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie erstreckt würden – nichts davon ist bei § 7c EU VOB/A der Fall. Es ist kein Ausdruck besonderer Gemeinschaftsrechtstreue, öffentliche Auftraggeber ohne Grund besonders einzuschränken.

      Ich denke daher, dass kein besonderer Vorlagebedarf besteht….

      Mit besten Grüßen
      Valeska Pfarr