Ein Auftraggeber darf einem Nebenangebot auch dann den Zuschlag erteilen, wenn er als Zuschlagskriterium ausschließlich den Preis festgelegt hat. Mit dieser Auffassung tritt das OLG Schleswig der Ansicht des OLG Düsseldorf entgegen, sieht sich aber an einer Vorlage gehindert. Rechtsklarheit in dieser Frage lässt daher weiter auf sich warten.
Das OLG Schleswig hatte über die Vergabe von Straßenbauarbeiten zu entscheiden. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. In den Vergabeunterlagen waren Nebenangebote zugelassen. Der Auftraggeber entschied sich im Anschluss an die Prüfung und Wertung der Angebote, auf die Nebenangebote 1 und 3 der Bestbieterin den Zuschlag zu erteilen. Hiergegen stellten zwei Wettbewerber Nachprüfungsanträge, da sie die Gleichwertigkeit der Nebenangebote nicht für gegeben ansahen.
Vorinstanz: Argumente des OLG Düsseldorf verbieten Zuschlag
Die Vergabekammer sah indes das gesamte Vergabeverfahren als rechtswidrig an, da Nebenangebote unzulässig seien, wenn der Preis einziges Zuschlagskriterium sei. Dies ergebe sich aus der Vergabekoordinierungsrichtlinie: Art. 53 Abs. 1 der Richtlinie 2004/18/EG erlaube die Erteilung des Zuschlags nur auf den „niedrigsten Preis“ oder das „wirtschaftlich günstigste Angebot“, und Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/18/EG sehe Nebenangebote nur im letztgenannten Fall – und damit gerade nicht bei einer reinen Preiswertung – vor. Zudem sei eine ausschließliche Wertung des Preises bei Nebenangeboten gar nicht möglich, da immer auch deren Gleichwertigkeit geprüft werden müsse. Die Vergabekammer schloss sich damit der Rechtsprechung des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 23.03.2010 – Verg 61/09; Beschluss vom 18.10.2010 – Verg 39/10) an und verpflichtete den Auftraggeber zur Aufhebung des Verfahrens.
OLG Schleswig: Argumente gelten nicht
Das OLG Schleswig hat die Entscheidung nun korrigiert. Nach seiner Ansicht darf ein Auftraggeber sehr wohl Nebenangeboten den Zuschlag erteilen, wenn lediglich der Preis entscheidet.
Die Herleitung des Verbots aus dem europäischen Vergaberecht durch die VK sei fehlerhaft. Die Richtlinie 2004/18/EG enthalte kein Verbot von Nebenangeboten bei alleiniger Preiswertung. Die Unterscheidung zwischen „niedrigstem Preis“ und „wirtschaftlich günstigstem Angebot“ diene lediglich dazu, für letzteres weitere Vorgaben (z.B. den Zusammenhang der Kriterien mit dem Auftragsgegenstand) machen zu können. Die Formulierung in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/18/EG bedeute daher nicht, dass Nebenangebote bei der Zuschlagsvariante „niedrigster Preis“ unzulässig wären.
Auch das Argument der Gleichwertigkeitsprüfung, die einer ausschließlichen Preiswertung entgegenstehe, weist das OLG Schleswig zurück. Dieser Gedanke übersehe, dass die Gleichwertigkeit nicht auf einer Wertungsstufe mit dem Preis, sondern weit davor erfolge.
Keine Vorlage an BGH oder EuGH
Trotz des Widerspruchs zur Ansicht des OLG Düsseldorf lehnt das OLG Schleswig eine Vorlage an den BGH ab und begründet dies formal: die Entscheidungen des OLG Düsseldorf enthielten keine abschließenden Rechtssätze. Auch eine Vorlage an den EuGH hält das OLG Schleswig nicht für angezeigt, da dieser die Zulassung von Nebenangeboten bei einer reinen Preiswertung nicht beanstandet habe (Urteil vom 16.10.2003 – C-421/01). Für die Praxis bleibt die Entscheidungslage dennoch unbefriedigend; dass das OLG Düsseldorf sich der Sichtweise des OLG Schleswig beim nächsten Mal anschließt, ist nicht sicher.
Prüfung trotz Präklusion?
Einen interessanten Hinweis enthält die Entscheidung noch zu einer anderen Rechtsfrage. Die Wettbewerber hatten nämlich vor dem OLG Schleswig auch gerügt, dass die VK mit der – nicht beantragten – Aufhebungsverpflichtung ihre Kompetenzen überschritten habe. Dies hat das Gericht nicht abschließend beurteilt. Es hat aber darauf hingewiesen, dass eine Vergabekammer selbst Umstände berücksichtigen dürfe, die ein Bieter wegen Präklusion nicht mehr geltend machen könne. Dies ist längst nicht unumstritten (vgl. VK Brandenburg, Beschluss vom 22.06.2010 – VK 28/10). Mit diesem „obiter dictum“ macht das OLG Schleswig aber künftig präkludierten Bietern Hoffnung auf „gerechte“ Entscheidungen.
Der Autor Dr. Jan Seidel ist Rechtsanwalt im Düsseldorfer Büro der Sozietät HEUKING KÜHN LÜER WOJTEK. Dort betreut er Projekte der öffentlichen Hand mit einem Schwerpunkt auf der vergaberechtlichen und umweltrechtlichen Beratung. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.
Dr. Jan Seidel ist Rechtsanwalt im Düsseldorfer und Nürnberger Büro der KPMG Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. Dort berät er öffentliche Auftraggeber und Bieter in Vergabeprojekten mit einem Schwerpunkt auf der kommunalen Infrastruktur (insbesondere Ver- und Entsorgung sowie ÖPNV).
Die Entscheidung steht mehrfach im Widerspruch zu anderer obergerichtlicher Rechtsprechung und überzeugt auch in der Begründung in keinster Weise. Sie kann daher nur als Kontrapunkt für andere Obergerichte verstanden werden, die dann hoffentlich den BGH bemühen werden. So hat das OLG Düsseldorf (Beschluss vom 15.06.2005 – Verg 5/06, IBR 2006, 1023) mit der herrschenden Sichtweise entschieden, dass eine Maßnahme nach § 114 GWB einen – insoweit – zulässigen Antrag voraussetzt und die Einwirkungsmöglichkeit auf die Rechtsmäßigkeit des Verfahrens insoweit begrenzt ist. Das OLG München (Beschluss vom 20.05.2010 – Verg 4/10, wenn auch zur SKR, IBR 2010, 411) hat überzeugend dargelegt, dass sich die beiden Varianten der Zuschlagskriterien gerade in einem Verhältnis der Alternativität konträr gegenüberstehen (so auch schon EuGH, Urt. v. 7.10.2004, Rs. C-247/02 zur klassischen Bauvergabe, VergabeR 2005, 62; vgl auch Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht Kompaktkommentar, § 21 EG VOL/A, Rdnr. 5). Die klare Bestimmung des Art. 24 Richtlinie 2004/18/EG über den Umweg des Art. 53 Richtlinie 2004/18/EG relativieren zu wollen, überzeugt schon deshalb nicht, weil der Grundsatz einer Verschmelzung der beiden alternativen Zuschlagskriterien aus Art. 53 Richtlinie 2004/18/EG – wie dargelegt – fehlerhaft ist.