Ein Bieter kann die Vergabeentscheidung eines Auftraggebers bereits mit dem bloßen Hinweis angreifen, dass sein Angebot nach seiner Branchen- und Marktkenntnis das wirtschaftlichste Angebot darstelle. Dem OLG Düsseldorf zufolge reicht ein solcher Vortrag aus, um die Formerfordernisse des § 108 Abs. 2 GWB an die Substantiierung einer Rüge zu erfüllen. Das Gericht gibt zudem weitere praxisrelevante Hinweise zur Unverzüglichkeit und zu Alternativpositionen.
Sachverhalt
Dem Fall des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 13.04.2011 – Verg 58/10) lag die Ausschreibung von Entsorgungsleistungen in einem offenen VOL-Verfahren zugrunde. In den Vergabeunterlagen war den Bietern mitgeteilt worden, dass der Abfuhrrhythmus „derzeit einheitlich eine Woche“ betrage, in Zukunft aber „ggf. auf zweiwöchentliche Leerung umgestellt werden“ solle. Die Bieter hatten ihr Angebot daher für eine wöchentliche und alternativ für eine zweiwöchentliche Leerung abzugeben.
Der Auftraggeber entschied sich für die Beigeladene und legte dabei ihr Angebot für die zweiwöchige Leerung zugrunde. Anschließend informierte er die unterlegenen Bieter, darunter die Antragstellerin, über seine Vergabeentscheidung. Da der Geschäftsführer der Antragstellerin, der allein zur Einleitung rechtsförmlicher Verfahren berechtigt war, montags bis freitags ortsabwesend war, nahm er erst am darauffolgenden Freitag von der Vorinformation Kenntnis, holte am folgenden Montag Rechtsrat ein und ließ die beauftragte Kanzlei am gleichen Tag eine Rüge erheben und einen Nachprüfungsantrag stellen.
Die Antragstellerin begründete beides damit, dass sie aufgrund ihrer Branchen- und Marktkenntnis davon ausgehe, selbst das wirtschaftlichste Angebot abgegeben zu haben; das Wertungsergebnis des Auftraggebers sei daher fehlerhaft. Hiergegen wandte der Auftraggeber ein dass der Rügevortrag willkürlich und „ins Blaue hinein“ aufgestellt worden und darüber hinaus verspätet sei.
Vor der Vergabekammer stellte die Antragstellerin zudem im Rahmen der Akteneinsicht fest, dass der Zuschlag auf das Angebot mit zweiwöchiger Leerung ergangen war, und rügte dies als willkürlich. Die Vergabekammer verpflichtete daraufhin den Auftraggeber, das Verfahren erneut auszuschreiben. Hiergegen richtete sich dessen Beschwerde.
Geringe Anforderungen an Substantiierung einer Rüge
Das OLG Düsseldorf hat die Entscheidung der Vergabekammer nun bestätigt. Den Einwand, die ursprüngliche Rüge sei „ins Blaue hinein“ geführt worden und daher unzulässig, ließ das Gericht nicht gelten. Der Verweis auf ihre Branchen- und Marktkenntnis beinhalte hinreichenden Sachvortrag zu den erforderlichen konkreten Umständen, aus denen sich die Fehlerhaftigkeit der Vergabeentscheidung ergeben soll.
Die Ausführungen des OLG Düsseldorf überraschen auf den ersten Blick, zeigen aber bei genauerem Hinsehen die Problematik des Substantiierungsgebotes des § 108 Abs. 2 GWB gerade im VOL-Verfahren. Die Vorschrift verlangt u.a. eine Beschreibung der behaupteten Rechtsverletzung mit Sachverhaltsdarstellung.
§ 108 GWB
(1) […]
(2) Die Begründung muss die Bezeichnung des Antragsgegners, eine Beschreibung der behaupteten Rechtsverletzung mit Sachverhaltsdarstellung und die Bezeichnung der verfügbaren Beweismittel enthalten sowie darlegen, dass die Rüge gegenüber dem Auftraggeber erfolgt ist; sie soll, soweit bekannt, die sonstigen Beteiligten benennen.
Da es im VOL-Verfahren keinen Submissionstermin gibt und die Bieter daher nicht die Preise der konkurrierenden Angebote kennen, stellt sich durchaus die Frage, welchen Sachverhalt ein Bieter hier für eine ausreichende Substantiierung präsentieren soll. Andererseits ist der Verweis auf die eigene Branchen- und Marktkenntnis ein für jeden Bieter unproblematisch zu leistender Vortrag, der die Abgrenzung zur „Rüge ins Blaue hinein“ letztlich entbehrlich machen kann.
Das OLG Düsseldorf nimmt diese Abgrenzung – unter Berufung auf das OLG München (Beschluss vom 07.08.2007 – Verg 8/07) – danach vor, ob überhaupt ein (wenngleich nur geringer) Tatsachenvortrag vorliegt. In seinem Fall wäre die Rüge also unzulässig gewesen, wenn der Bieter schlicht vorgetragen hätte, sein Angebot sei das wirtschaftlichste. Der Zusatz „nach unserer Branchen- und Marktkenntnis“ führt hingegen zur Zulässigkeit. Dieser wird sich – soviel ist sicher – bei künftigen Bietern großer Beliebtheit erfreuen.
Unverzüglichkeit bei Abwesenheit des Vertretungsbefugten
Daneben enthält die Entscheidung des OLG Düsseldorf einen wichtigen Hinweis zur Frage, wann die Rüge eines Bieters noch unverzüglich ist. Trotz der Abwesenheit des alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführers unter der Woche ging das Gericht von einer unverzüglichen Rüge aus.
Den Vortrag des Auftraggebers, hierin liege ein Organisationsverschulden der Antragstellerin, ließ das Gericht nicht gelten. Eine ununterbrochene Präsenz des Geschäftsführers oder das Vorhalten zweier Geschäftsführer sei von einem Bieter nicht zu verlangen. Der Umstand, dass der Geschäftsführer nicht am Tag des Eingangs der Vorinformation, sondern erst bei seiner freitäglichen Rückkehr ins Unternehmen Kenntnis von der Vergabeentscheidung nahm, ist nach Ansicht des OLG Düsseldorf unerheblich. Entscheidend sei vielmehr, dass der Geschäftsführer nach Kenntnis unmittelbar Rechtsrat eingeholt und das Einlegen der Rüge veranlasst habe.
Fehlerhafte Ausschreibung von Alternativpositionen
Schließlich gibt das OLG Düsseldorf noch zwei interessante Hinweise zur Verwendung von Alternativpositionen.
Der erste Hinweis betrifft die Präklusion von Rügen, mit denen sich Bieter gegen eine unzulässige Verwendung von Alternativpositionen wenden. Das OLG Düsseldorf hält das Wissen um die engen Voraussetzungen, unter denen Alternativpositionen vergaberechtlich zulässig ausgeschrieben werden können, für vergaberechtliches Spezialwissen, das bei einem Bieter nicht vorausgesetzt werden könne. Dies führt dazu, dass derartige Verstöße für Bieter erst in der anwaltlichen Beratung „erkennbar“ im Sinne des § 107 Abs. 3 GWB werden und die Obliegenheit zur unverzüglichen Rüge auch erst in diesem Zeitpunkt einsetzt. Dies hatte das OLG Düsseldorf bereits vor Kurzem für die fehlende Festlegung von Unterkriterien für das Wertungskriterium „Wirtschaftlichkeit“ ebenso entschieden (Beschluss vom 13.01.2011 – VII-Verg 64/10).
Zum Zweiten stellt das OLG Düsseldorf klar, dass Auftraggeber bei der Verwendung von Alternativpositionen vorab bekannt machen müssen, welche Kriterien für die Inanspruchnahme der ausgeschriebenen Alternativpositionen maßgebend sein sollen. Anderenfalls sei ein transparentes Vergabeverfahren nicht gewährleistet. Da dies im entschiedenen Fall (einwöchige oder zweiwöchige Leerung) nicht erfolgt war, musste das OLG Düsseldorf zu einer weiteren spannenden Frage – nämlich nach der Obergrenze für den Anteil von Alternativpositionen im Verhältnis zu den Grundpositionen – nicht mehr Stellung nehmen.
Der Autor Dr. Jan Seidel ist Rechtsanwalt im Düsseldorfer Büro der Sozietät HEUKING KÜHN LÜER WOJTEK. Dort betreut er Projekte der öffentlichen Hand mit einem Schwerpunkt auf der vergaberechtlichen und umweltrechtlichen Beratung. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.
Thema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren.
Dr. Jan Seidel
Dr. Jan Seidel ist Rechtsanwalt im Düsseldorfer und Nürnberger Büro der KPMG Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. Dort berät er öffentliche Auftraggeber und Bieter in Vergabeprojekten mit einem Schwerpunkt auf der kommunalen Infrastruktur (insbesondere Ver- und Entsorgung sowie ÖPNV).
Schreibe einen Kommentar