Einmal Microsoft, immer Microsoft? Die Verpflichtung zur produktneutralen Beschaffung ergibt sich aus dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot gemäß dem Rahmenwerk der Direktive 93/36/EWG des Rates vom 14. Juni 1993. Nach Informationen der Zeitschrift ComputerWeekly soll man es in Brüssel selbst allerdings damit nicht so genau genommen haben: Die EU-Kommission höchstselbst habe seit – eben – 1993 diverse Male Software-Lizenzen von Microsoft beschafft, ohne auch nur ein einziges Mal mögliche Alternativprodukte anderer Hersteller ausgeschrieben zu haben.
Laut Computer Weekly habe die für IT-Beschaffungen zuständige Generaldirektion Informatik (DIGIT) der Kommission die Direktvergabe an Microsoft im Jahr 1992 damit begründet, dass kein anderer Anbieter die benötigte Software habe liefern können. Nach weiteren Direktvergaben in den Folgejahren soll die DIGIT ab 2003 schließlich den Standpunkt vertreten haben, dass alternative Software inkompatibel und eine Migration zu aufwendig sei.
Karsten Gerloff, Präsident der “Free Software Foundation Europe” (FSTE), einer gemeinnützigen Organisation, die sich für den Einsatz quelloffener Software stark macht, kommentierte dies etwas ironisch mit den Worten: “It’s astounding that every single agreement between the Commission and Microsoft since 1993 has been concluded without a public call for tender”.
Eine Stellungnahme von Microsoft dazu gibt es, soweit bekannt, bislang nicht.
Ausschreibungsfreie Upgrades?
Erst im Mai dieses Jahres hatte die Kommission ohne Alternativprodukte nachzufragen Software-Lizenzen für Upgrades von Windows XP auf Windows 7 für 36.000 PCs der Kommission und anderer europäischer Institutionen, darunter EU-Parlament und EuGH, für rund 50 Millionen Euro beschafft. Ein solches Upgrade des Betriebssystems wurde von der Kommission als nicht ausschreibungspflichtig eingestuft.
Vergleich Deutschland
Zwar erlaubt auch in Deutschland der noch recht neue § 7 Abs. 4 VOL/A deutlich mehr Freiräume in der Beschaffung, wenn bei Einsatz von Alternativprodukten die hierdurch verursachten Anpassungskosten unverhältnismäßig würden. Dies aber eben nur im Unterschwellenbereich.
§ 7 Abs. 4 VOL/A
Bezeichnungen für bestimmte Erzeugnisse oder Verfahren (z. B. Markennamen) dürfen ausnahmsweise, jedoch nur mit dem Zusatz „oder gleichwertiger Art“, verwendet werden, wenn eine hinreichend genaue Beschreibung durch verkehrsübliche Bezeichnungen nicht möglich ist. Der Zusatz „oder gleichwertiger Art“ kann entfallen, wenn ein sachlicher Grund die Produktvorgabe rechtfertigt. Ein solcher Grund liegt dann vor, wenn die Auftraggeber Erzeugnisse oder Verfahren mit unterschiedlichen Merkmalen zu bereits bei ihnen vorhandenen Erzeugnissen oder Verfahren beschaffen müssten und dies mit unverhältnismäßig hohem finanziellen Aufwand oder unverhältnismäßigen Schwierigkeiten bei Integration, Gebrauch, Betrieb oder Wartung verbunden wäre. Die Gründe sind zu dokumentieren.
Im Oberschwellenbereich findet sich in § 3 Abs. 4 lit. e) EG VOL/A eine Ausnahmebestimmung für Nachlieferungen:
§ 3 Abs. 4 e EG VOL/A
(4) Die Auftraggeber können Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben:
[…]
e) bei zusätzlichen Lieferungen des ursprünglichen Auftragnehmers, die entweder zur teilweisen Erneuerung von gelieferten Waren oder Einrichtungen zur laufenden Benutzung oder zur Erweiterung von Lieferungen oder bestehenden Einrichtungen bestimmt sind, wenn ein Wechsel des Unternehmens dazu führen würde, dass die Auftraggeber Waren mit unterschiedlichen technischen Merkmalen kaufen müssten und dies eine technische Unvereinbarkeit oder unverhältnismäßige technische Schwierigkeiten bei Gebrauch, Betrieb oder Wartung mit sich bringen würde. Die Laufzeit dieser Aufträge sowie die der Daueraufträge darf in der Regel drei Jahre nicht überschreiten;
Die Kommission bemüht zur Rechtfertigung des ausschreibungsfreien Upgrades den nahezu wort- und gänzlich inhaltsgleichen Art 126 Abs. 1 lit. g) der Durchführungsbestimmungen des Rates über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften – VERORDNUNG (EG, Euratom) Nr. 2342/2002 DER KOMMISSION vom 23. Dezember 2002 (abrufbar hier). Die Frage: Ist ein komplettes Update von einer Versionsnummer eines Betriebssystems auf die nächste eine “zusätzliche Lieferung zur teilweisen Erneuerung von gelieferten Waren”? Wohl kaum. Und trotzdem erscheint es einsichtig, dass die komplette Umrüstung der Softwarelandschaft der europäischen Institutionen teurer käme.
Leitfäden zur produktneutralen Ausschreibung
Im diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Leitfäden zur produktneutralen Ausschreibung von ITK hingewiesen, die gemeinsam von ITK-Anbietern und öffentlichen Einkäufern unter Federführung des BITKOM und des Beschaffungsamtes des Bundesministeriums des Innern erarbeitet wurden. Diese stehen kostenfrei auf www.itk-beschaffung.de zum Abruf bereit, betreffen bislang allerdings nur Hardware-, keine Softwareprodukte.
Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Betriebsw. Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW). Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. Seit 2022 ist Marco Junk zudem als Leiter Regierungsbeziehungen für Eviden tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
Das Argument, wonach die komplette Umrüstung der Softwarelandschaft der europäischen Institutionen teurer käme als ein Upgrade der vorhandenen Microsoft-Software ist – von der Ausnahmevorschrift des § 3 EG Abs. 4 Buchst. e VOL/A abgesehen – nicht geeignet von einem offenen bzw. nicht offenen Verfahren abzusehen. Denn dieser wirtschaftliche Aspekt kann durch eine funktionale Leistungsbeschreibung berücksichtigt werden. So können durch die Beschreibung der vorhandenen IT-Landschaft und der durch die Beschaffung zu realisierenden Leistungs- und Funktionsanforderungen sowohl Microsoft ein Angebot für ein Upgrade der vorhandenen Software als auch andere Unternehmen Angebote für ihre (neu zu beschaffende) Software abgeben. Auf diesem Wege ist es für den Auftraggeber ohne weiteres möglich, die – in seinen Augen preisgünstigere Möglichkeit – eines Updates im Vergabeverfahren neben einer kompletten Neubeschaffung zu berücksichtigen.