Vergangene Woche wurde im Europäischen Parlament (EP) der Bericht von Heide Rühle, MdEP, zur „Modernisierung des öffentlichen Auftragswesens“ von den Abgeordneten angenommen. Diese fordern darin u.a., dass KMU die Teilnahme an öffentlichen Aufträgen erleichtert werden soll, zudem sollen Angebote nicht nur auf Grundlage des niedrigsten Preises ausgewählt werden, sondern auch der innovative, soziale und ökologischen Mehrwert berücksichtigt werden. Aber auch sonst wird Alles von Inhouse-Vergabe bis Dienstleistungskonzession angesprochen. Bei genauer Betrachtung fällt auf: In Straßburg fordert man Vieles, was in Deutschland bereits geltendes Recht ist. Gleichwohl lohnt ein Blick ins Detail, gerade für Auftragnehmer. Nachfolgend die Kernforderungen der 54 Punkte umfassenden Entschließung des EP komprimiert zusammengefasst.
Elektronischer Vergabeausweis
„In dieser tiefen Krise brauchen wir klare, simple Regeln. Nur auf diesem Weg können öffentliche Verwaltungen eine Anregung für Innovation und Wachstum liefern“, erklärte die deutsche Berichterstatterin Rühle vor der Abstimmung im EP. Die Teilnahme an Ausschreibungen sei für Unternehmen nach wie vor oft mühsam und kostspielig. Daher sollten zum einen wo möglich Eigenerklärungen der Bieter zugelassen werden – in VOL/A und VOB/A bereits der Fall – und die Vorlage von Originaldokumenten nur vom erfolgreichen Bieter oder von solchen Bewerbern gefordert werden, die in die engere Auswahl gelangt sind.
Die Abgeordnete schlagen zudem einen „elektronischen Vergabeausweis“ vor, durch den der notwendige Verwaltungsaufwand der Unternehmen im Rahmen der Eignungsprüfung verringert wird. Eine Art Präqualifizierung auf EU-Ebene, die in Deutschland für den Bereich der Bauwirtschaft längst durch den Verein für die Präqualifikation von Bauunternehmen e.V. bzw. für den Liefer- und Dienstleistungsbereich durch die Präqualifizierungsdatenbank der Auftragsberatungsstellen wahrgenommen wird. Dabei soll der vom Ausweis ebrachte Nachweis allerdings über das hinausgehen, was bislang Präqualifzierung umfasst („dass die Bieter die EU-Regeln einhalten“).
KMU fördern
Wie der Bericht feststellt, erhalten Kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) weniger öffentliche Aufträge (31 % oder 38 % gemessen am Wert), als ihr Anteil an der Gesamtwirtschaft nahelegen würde (52 % Anteil am gemeinsamen Umsatz). Daher fordern die Abgeordneten eine stärkere Aufteilung von großvolumigen öffentlichen Aufträgen in Fach- und Teillose. So hierzulande im Rahmen der letzten GWB-Reform bereits geschehen – auch, wenn der feine Unterschied zum Wortlaut der alten Norm in § 97 Abs. 3 GWB wohl eher ein Fall für Sprachwissenschaftler bleiben wird.
Auch solle insb. mit Blick auf KMU, aber auch zugunsten kleinerer öffentlicher Auftraggeber, die Webseite „Tenders Electronic Daily“ (TED) hinsichtlich Benutzerfreundlichkeit, Suchkriterien und Übersetzungen modernisiert werden. Hierzu gehöre auch die Einrichtung eines “Warndienstes”, sobald neue interessante Ausschreibungen veröffentlicht werden.
“Warnend” betont auch das EP, dass bei der Einführung neuer Instrumente keine neuen Hindernisse für die KMU geschaffen und vorrangig deren Interessen berücksichtigt werden.
Unteraufträge regeln
Die Kommission solle auch bewerten, „ob weitere Regeln für die Vergabe von Unteraufträgen erforderlich sind, um insbesondere zu vermeiden, dass als Unterauftragnehmer auftretende KMU schlechteren Bedingungen unterliegen als denjenigen, die auf den Hauptauftragnehmer anwendbar sind”. Das EP tritt in diesem Zusammenhang dafür ein, dass die staatlichen Stellen vor Abschluss eines Vertrages mit dem Auftragnehmer in allen Einzelheiten über den Rückgriff auf Unterauftragnehmer unterrichtet werden.
Was mancher vielleicht schon vergessen hat: § 10 Nr. 1 c) VOL/A 2006 regelte, dass in den Verdingungsunterlagen festzulegen ist, dass der Auftragnehmer dem Unterauftragnehmer insgesamt keine ungünstigeren Bedingungen – insbesondere hinsichtlich der Zahlungsweise und Sicherheitsleistungen – stellt, als zwischen ihm und dem Auftraggeber vereinbart sind. Die Bestimmung wurde im Wege der allgemeinen “Entschlackung” der VOL ersatzlos gestrichen.
Lebenszykluskosten beachten
Die Abgeordneten des EP „vertreten die Ansicht, dass das Kriterium des niedrigsten Preises nicht mehr das ausschlaggebende Kriterium bei der öffentlichen Auftragsvergabe sein sollte“. Es sollte ersetzt werden sollte durch das „Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots in Bezug auf die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Vorzüge, unter Einbeziehung der gesamten Lebenszykluskosten für die jeweiligen Waren, Dienstleistungen und Arbeiten.“ Dabei betonen die Abgeordneten, dass dies namentlich für Krankenhäuser, Einrichtungen der Seniorenbetreuung, Schulen und Kindergärten gelte, also dort, wo die Qualität wichtiger ist als der Preis. Insbesondere sollten “die Umweltkosten in die Bewertung des wirtschaftlichen günstigsten Angebots und die Berechnung der Lebenszykluskosten aufgenommen werden”. Auch hier hat Deutschland seine Hausaufgaben bereits mit der Aufnahme der einst “vergabefremden” Aspekte in § 97 Abs. 4, S. 2 GWB und den Lebenszykluskosten als mögliche Wertungskriterien in § 16 Abs. 8 VOL/A bzw. § 19 Abs. 9 EG VOL/A gemacht.
Nachhaltige Beschaffung stärken
Die Abgeordneten verweisen darauf, dass das öffentliche Beschaffungswesen “wesentlich dazu beitragen könnte, hochwertige Arbeitsplätze, die Löhne und die Arbeitsbedingungen sowie die Gleichbehandlung, die Entwicklung von Kompetenzen, die Ausbildung und umweltpolitische Strategien zu fördern”. Daher fordern sie die Kommission auf, die “Regierungen und Vergabebehörden dazu anzuhalten, den Rückgriff auf ein nachhaltiges öffentliches Beschaffungswesen zu intensivieren”. Gute Idee: Es soll eine regelmäßig aktualisierte Datenbank mit Normen, vor allem solchen, die sich auf ökologische und soziale Kriterien beziehen, erstellt werden, an denen sich Auftraggeber- und nehmer orientieren können.
Offene ITK-Standards
Das EP fordert den zunehmenden Rückgriff auf nichtdiskriminierende und offene Standards bei der öffentlichen Auftragsvergabe, insbesondere bei ITK-Beschaffungen, im Interesse von Vereinfachung und Innovation.
Nebenangebote zulassen
Das EP bekräftigt seine Forderung nach einer “systematischen Zulassung von Alternativangeboten (oder Varianten)”, da sie für die Förderung und Verbreitung innovativer Lösungen entscheidend seien. Nach Auffassung der Abgeordneten bieten Leistungsbeschreibungen mit Bezug auf funktionale Anforderungen sowie die ausdrückliche Zulassung von Varianten den Bietern die Möglichkeit, innovative Lösungen vorzuschlagen, insbesondere in Bereichen wie der Informationstechnologie.
Inhouse Vergabe freistellen
Angesichts unklarer Spielregeln immer noch und immer wieder ein Thema: Das EP “unterstreicht die Tatsache, dass die Übertragung von Aufgaben zwischen Organisationen des öffentlichen Sektors eine Frage ist, die in die interne Verwaltungsorganisation der Mitgliedstaaten fällt und nicht den Regeln für das Beschaffungswesen unterliegt”. Entsprechend fordert man, dass diese Klarstellungen in den EU-Vergaberichtlinien verankert wird.
Dienstleistungskonzessionen nicht regeln
Das EP betont, “dass Dienstleitungskonzessionen vom Geltungsbereich der europäischen Beschaffungsregeln ausgenommen sind” und “erklärt mit Nachdruck, dass ein Vorschlag für einen Rechtsakt über Dienstleistungskonzessionen nur dann gerechtfertigt wäre, wenn durch ihn etwaige Verzerrungen beim Funktionieren des Binnenmarkts abgestellt würden”. Da diese bisher noch nicht festgestellt worden seien, sei ein Rechtsakt über Dienstleistungskonzessionen folglich auch nicht notwendig.
Unterschwellenbereich belassen
Hier soll möglichst alles bleiben, wie es ist. Die Einführung neuer Regeln für die öffentlichen Beschaffungsmärkte unterhalb der EU-Schwellen sollte vermieden werden, “da dies die auf nationaler Ebene geschaffene Rechtssicherheit gefährden könnte”, so die Abgeordneten.
Schwellenwerte überprüfen
Die Abgeordneten fordern die Kommission auf, „die geeignete Höhe von Schwellen für Liefer- und Dienstleistungsaufträge neu zu bewerten und sie gegebenenfalls anzuheben, um den Zugang zum öffentlichen Beschaffungswesen u.a. für nicht gewinnorientierte Unternehmen und Unternehmen der Sozialwirtschaft sowie für die KMU zu erleichtern”. Zu beachten sei dabei jedoch, dass eine Erhöhung der Schwellenwerte in Europa “leicht zu weiteren Erschwernissen für die EU-Handelspolitik führen könnte”.
Verhandlungsverfahren ausweiten
Das EP fordert “mehr Spielraum für Verhandlungen und Kommunikation” zwischen Auftraggebern und –nehmern, damit “Nachfrage und Angebot effektiver koordiniert werden können”. Entsprechend sollte eine “Ausweitung des Geltungsbereichs des Verhandlungsverfahrens in Auge gefasst werden”. Dazu seien aber auch “Maßnahmen zur Gewährleistung der Transparenz und zur Vorbeugung von Missbrauch und Diskriminierung” notwendig.
Fehlerkorrektur von Angeboten zulassen
In Straßburg nichts Neues, jedenfalls für deutsche Beschaffer: Das EP fordert Möglichkeiten zur Korrektur von Fehlern in Angeboten einzuführen. Vorbild: § 16 Abs. 2 und § 19 Abs. 2 EG VOL/A 2009 bzw. § 16 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A.
Erfahrungen mit Bietern berücksichtigen
Das EP weist darauf hin, dass öffentliche Auftraggeber in der Lage sein sollten, frühere Erfahrungen mit einem Bieter auf der Grundlage eines amtlichen Bewertungsberichtes zu nutzen und fordert die Kommission auf, die hierfür notwendigen rechtlichen Grundlagen zu schaffen.
Korruptionsbekämpfung stärken
Die Kommission solle mit Blick auf die Bekämpfung der Korruption effizientere Berichterstattungspraktiken fördern, einschließlich des Austauschs von Informationen zwischen den Mitgliedstaaten über den Ausschluss unseriöser Anbieter. Auch solle klare Regeln zum Schutz von Informanten eingeführt werden.
eVergabe
Offenes Bekenntnis: Das EP “verweist darauf, dass der Aktionsplan zur elektronischen Auftragsvergabe sein Ziel nicht erreicht hat”. Der sah nämlich vor, dass im Jahr 2010 die eVergabe in 100 % der Fälle möglich und in 50 % der Fälle Angebote tatsächlich auf elektronischem Wege abgegeben werden. Tatsächlich liegt man gegenwärtig bei rund 5 % eVergabe. Konkrete Ideen dazu hat aber auch das EP nicht, bis auf die bekannte Forderung, eine Interoperabilität zwischen den verschiedenen, in den Mitgliedstaaten bereits bestehenden eVergabe-Plattformen zu schaffen. Es brauche “mehr politische Führung auf sämtlichen Regierungsebenen – einschließlich der EU-Ebene”, um den Übergang zur eVergabe zu beschleunigen.
Rechtsvereinfachung
Schlussendlich fordern die Abgeordneten bei der anstehenden Revision der europäischen Vergaberichtlinien “klare und einfache Vorschriften, die weniger ins Detail gehen”. Man solle vielmehr verstärkt auf die allgemeinen Grundsätze der Gleichbehandlung, Transparenz und Nichtdiskriminierung zurückzugreifen. Durch eine solche Vereinfachung könnte zudem das Fehlerrisiko gesenkt und den Bedürfnissen kleiner Vergabebehörden besser Rechnung getragen werden.
Roadmap
Nachdem die Frist zu Stellungnahmen zum Grünbuch der Kommission Ende April diesen Jahres ablief, will sie noch bis Ende diesen Jahres einen Vorschlag für eine Novellierung der europäischen Vergaberichtlinien vorlegen. Auch wenn die Entschließung des EP dabei für die Kommission nicht bindend ist, so ist sie doch ein gewichtiger Fingerzeig, der nicht unbeachtet bleiben wird.
In seiner Entschließung verweist das EP darauf, dass “Rechtsvorschriften nicht das einzige Instrument zur Förderung des Wandels sind” und fordert die Kommission auf, „neue Wege zum Austausch von Erfahrungen sowie zum Wissenstransfer über die Grenzen hinweg zwischen lokalen und regionalen Akteuren des öffentlichen Beschaffungsmarkes zu sondieren“. Nun, da lohnt ein Blick auf das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW), dass Beschaffer, Anbieter, Wissenschaft und Rechtspflege miteinander in den Austausch und Diskurs bringt.
Den vollständigen Text der Entschließung des EP zur „Modernisierung des öffentlichen Auftragswesens“ (2011/2048(INI) finden Sie hier.
Der Autor Marco Junk ist Rechtsanwalt und war bis 2011 als Bereichsleiter Vergaberecht beim Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM) Mitglied im DVAL und im Beraterkreis eVergabe des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Er ist Herausgeber des Vergabeblog und leitet seit März 2011 die Online-Redaktion des Verlags C. H. Beck.
Thema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren .
Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Betriebsw. Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW). Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. Seit 2022 ist Marco Junk zudem als Leiter Regierungsbeziehungen für Eviden tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
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