Mehr als 130 Teilnehmer aus Bund, Ländern, Kommunen, Wirtschaft und Wissenschaft fanden am vergangenen Dienstag den Weg zu unserer Veranstaltung “Der schöne Schein der Nachhaltigkeit” in Kooperation mit dem Beschaffungsamt des BMI nach Bonn. In vielen Punkten waren sich die Experten aus Verwaltung und Wirtschaft einig, in anderen lagen die Positionen aber auch auseinander und führten zu angenehm kontroversen Diskussionen. Auf der Veranstaltung verkündete Klaus-Peter Tiedtke, Direkter des Beschaffungsamtes (im Bild oben), dass dieses von der Bundesregierung jüngst zur “Kompetenzstelle für Nachhaltige Beschaffung” ernannt wurde. Neben reichlich Erkenntnisgewinn blieb vor allem Eines: Es gibt kein Zurück mehr zu einem auch auf Nachhaltigkeit ausgerichteten öffentlichem Einkauf. Ein Rückblick für alle Daheimgebliebenen.
Normenflut
Den morgendlichen Auftakt machte Dr. Ute von Oertzen Becker (im Bild links) aus dem Referat Referat I B6, Vergaberecht, Immobilienwirtschaft, im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Sie führte detailliert in das aktuelle rechtliche Regelwerk einer an Nachhaltigkeit orientierten Beschaffung ein, betonte aber auch, dass alleine die Nutzung der öffentlichen Nachfragemacht die bestehenden sozialen und ökologischen Probleme bei der Herstellung von Waren- und der Erbringung von Dienstleistungen nicht lösen könne. Martin Krämer (im Bild rechts), bereits seit 1982 im Dienst der Stadt Bonn und seit März dieses Jahres Leitender Städtischer Rechtsdirektor und Leiter des Zentralen Vergabeamtes der Stadt, stellte eindrucksvoll die zu beachtende Flut an nationalen, im diesbzgl. Vorreiterland NRW bestehenden landesspezifischen und nicht zuletzt in Bonn einzuhaltenden Beschaffungsvorschriften dar: “Ich möchte kein bundesweit tätiger Bieter sein”, resümierte Krämer. Mit ironischem Unterton, aber in Sache bestimmt, mahnte er, “Die Wirtschaftlichkeit der Beschaffung darf nicht zu einem vergabefremden Aspekt werden”.
Komplexe Lieferketten
Dr. Christoph Schäfer (im Bild links), Leiter Bereich Recht und Steuern beim Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie e.V. in Berlin, stellte sich den Herausforderungen des textilen Herstellungsprozesses. Der Verband vertritt die Interessen von rund 1.200 Unternehmen mit 120.000 deutschen und 400.000 weltweiten Arbeitnehmern. Bei den überwiegend in Familienhand befindlichen und inhabergeführten Unternehmen sei der Anspruch zu einem nachhaltigen Wirtschaften, das den Belangen von Arbeitnehmern und Umwelt Rechnung trägt, vorhanden, so Schäfer. Allerdings müsse berücksichtigt werden, welche Investitionen hierfür erforderlich sind und ob sich diese am Ende auch rechnen bzw. am Markt tatsächlich nachgefragt werden. Denn Nachhaltigkeit müssen neben Umwelt- und sozialen Aspekten auch das Unternehmen selbst einbeziehen.
Vor allem: Angesichts der komplexen und stark internationalen Lieferketten sei deren Kontrolle nur schwer möglich. Sehr anschaulich verdeutliche er anhand eines (fiktiven) Praxisfalls der Beschaffung von Polizeiuniformen, welche bieter- und produktbezogenen Kriterien rechtssicher nachgefragt werden können und wo juristische Streitpunkte bestehen. Sein Fazit: Bei der Berücksichtigung sozialer Belange bestehe im Bereich der Lieferungen von Waren nach wie vor große Rechtsunsicherheit. Diese führe zu fehlender Nachfrage und schlussendlich so zu einem fehlenden Angebot. Es brauche endlich klare gesetzliche Regelungen auf EU- und nationaler Ebene – “ohne jedoch dass Kind mit dem Bade auszuschütten”.
NGOs als Kontrolleure
Das Beschaffungsamt des BMI beschafft für den gesamten Geschäftsbereich des Ministeriums, d.h. für 26 Bundesbehörden, vom Bund finanzierte Stiftungen und international tätige Organisationen. Im Jahr 2010 entsprach dies einem Auftragsvolumen von mehr als einer Milliarde Euro für Waren und Dienstleistungen. Klaus-Peter Tiedtke, Direktor des Beschaffungsamtes, machte einen ebenso einfachen wie praktikablen Vorschlag zur Kontrolle der internationalen Lieferketten auf Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards: Zwar sei dies in der Tat für seine Behörde nicht leistbar. Allerdings könnten hierfür die weltweilt aufgestellten und entsprechend gut vernetzen NGO´s genutzt werden. Noch in diesem Jahr werde er deshalb an diese eine Einladung zur Aufnahme des Dialogs über diese Möglichkeit aussprechen. Das dort vorhandene Wissen müsse freigesetzt werden. Niels Lau (im Bild rechts), Leiter der Abteilung Wettbewerb, Öffentliche Aufträge und Verbraucher im Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) bot an, hier auch für den BDI zum Dialog bereit zu stehen. Er verwies darauf, dass Nachhaltigkeit auch Kostenbewusstsein miteinschließe. Lau betonte, dass vielerorts die Beschaffungsverantwortlichen erst noch in die Lage versetzt werden müssten, nachhaltig einzukaufen, weshalb entsprechende Aus- und Weiterbildungsangebote notwendig seien.
“Kompetenzstelle für Nachhaltige Beschaffung”
Tiedtke verkündete auf der Veranstaltung auch erstmals offiziell, dass das Beschaffungsamt (im Bild das Foyer) nun von der Bundesregierung, genauer dem Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung, zur “Kompetenzstelle für Nachhaltige Beschaffung” ernannt wurde. Hierzu seien durch Bereitstellung personeller Ressourcen vom Verteidigungsministerium auch die nötigen Kapazitäten geschaffen worden. Ziel sei es, die Nachhaltigkeit in der Beschaffung gleichberechtigt neben der Wirtschaftlichkeit zu berücksichtigen. Gegenwärtig werde dazu ein “Masterplan für Nachhaltigkeit” von der Behörde erarbeitet. Desweitern soll eine neue online Informationsplattform zum Thema geschaffen werden. Die damit angebotene Hilfestellung richte sich nicht nur an die Beschaffungsstellen in Deutschland, sondern ebenso an die Anbieter aus der Wirtschaft. Diese müsse man “fordern, aber nicht überfordern”, so Tiedtke. Er kritisierte, dass es bislang keinen Wettbewerb zur Nachhaltigkeit gäbe. Nachhaltigkeit müsse zu einem Wettbewerbsvorteil für Unternehmen am öffentlichen Markt werden.
Den Wald vor lauter Siegeln…
…nicht mehr sehen können? Dr. Evelyn Hagenah (im Bild links), Leiterin der Abteilung Nachhaltige Produkte und Konsummuster, Kommunale Abfallwirtschaft im Umweltbundesamt (UBA), ging in ihrem Vortrag “Vertrauen auf das Siegel” ausführlich auf deren Belastbarkeit und Vergaberechtskonformität ein. Ihre Abteilung im UBA ist u.a. zuständig für die Weiterentwicklung des Umweltzeichens “Blauer Engel”. Zurückhaltung sei geboten bei herstellereigenen Umweltkennzeichen. Dabei verwies sie auf das enorme Umweltentlastungspotential, dass 260 Mrd. Euro öffentliche Nachfragemacht freisetzen können. So könne z.B. eine umweltorientierte öffentliche Beschaffung die Treibhausgasemissionen des öffentlichen Sektors in Deutschland bis 2020 um 30% verringern. Hagenah stellte eine Reihe von geeigneten Werkzeugen, Arbeitshilfen und Informationsquellen zur nachhaltigen Beschaffung vor. Für das Kaufhaus des Bundes erarbeitete das UBA auch entsprechende Ausschreibungsempfehlungen. “Die Berücksichtigung nachhaltiger Aspekte muss eine Selbstverständlichkeit werden”, so Hagenah.
Fazit
Eine rege Nachfrage – sogar Vertreter von TCO-Development aus Schweden kamen angereist (die Organisation vergibt das TCO-Siegel für IT, insb. Monitore) – viel Neues, Einblicke von unmittelbar mit der Thematik befassten Experten und Praktikern und nicht zuletzt kontroverse Diskussionen. Uns hat es jedenfalls mehr als sehr gut gefallen. Ein herzlicher Dank gilt neben den ReferentInnen vor allem den MitarbeiterInnen des Beschaffungsamtes für die ebenso angenehme wie erfolgreiche Kooperation.
Und: Soviel Pragmatismus wie der Vorschlag von Direktor Tiedtke hat man zum Thema nachhaltige Beschaffung selten gehört. Dieser ist wohl nicht nur zielführender, sondern auch schneller umsetzbar als auf die nächste Vergaberechtsreform zu warten. Die Letzte, so Tiedkte, sei bei diesem Thema “auf halbem Wege stecken geblieben”. Das für das Vergaberecht federführende Bundeswirtschaftsministeriums hat übrigens aktuell – wieder einmal – die Leitung des Vergabereferats eingebüßt. Wenig Aussicht auf ein schnelles Vorankommen in dieser Sache. “Dicke Bretter”, so Tiedtke, „sind zwangsläufig noch zu bohren“.
Hinweis: Wenn Sie nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnten, so können Sie die Präsentationen der ReferentInnen auch im Bereich „Bibliothek“ des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) abrufen. Noch kein Mitglied? Hier kostenlose Mitgliedschaft beantragen.
Marco Junk
Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Kaufmann Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW). Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. Seit 2022 ist Marco Junk zudem als Leiter Regierungsbeziehungen für Eviden tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
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