Der erste Teil des Beitrags zur Vergabe von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe hat die möglichen Leistungserbringungsvereinbarungen auf diesem Gebiet näher dargestellt, das sogenannte jugendhilferechtliche Dreiecksverhältnis erläutert und die Auffassungen der bislang ergangenen vergabe- und verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung geschildert. Der zweite Teil geht nunmehr auf die Ansichten in vergabe- und sozialrechtlichen Literatur ein, schildert die Auffassung der Bundesregierung zur Anwendbarkeit des Vergaberechts in diesem Teilgebiet des Sozialrechts, wirft darüber hinaus einen Blick auf die beim Unterbleiben eines Vergabeverfahrens gegebenenfalls entstehende kartellrechtliche Problematik und schließt mit einer Zusammenfassung und Praxishinweisen.
Auffassungen in der vergabe- und sozialrechtlichen Literatur
In der sozialrechtlichen Literatur und der sozialwissenschaftlichen Praxis werden in Bezug auf die Anwendbarkeit des Vergaberechts bei der Beauftragung von Jugendhilfeleistungen unterschiedliche Auffassungen vertreten. Die Ergebnisse der bislang vorliegenden Literatur und Rechtsgutachten sind naturgemäß sehr stark durch die Perspektive der Auftraggeber dieser Gutachten und Stellungnahmen motiviert. Zudem beschränken sich diese regelmäßig auf eine rein inländische Betrachtung, die bei einer Überlagerung durch das europäische Gemeinschaftsrecht aber zu kurz greift.
Die bislang umfassendste Untersuchung zur Frage der Anwendbarkeit des Vergaberechts beim Abschluss von Leistungserbringungsvereinbarungen gelangt hingegen zum Ergebnis, dass das Kartellvergaberecht zwar nicht auf alle Arten von jugendhilferechtlichen Leistungserbringungsvereinbarungen zwingende Anwendung findet, grundsätzlich aber die meisten der Maßnahmen des SGB VIII erfasst (vgl. im Einzelnen Franz, Abschluss von Leistungserbringungsvereinbarungen auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendhilferechts und Vergaberecht, S. 105 ff.). Einer Anwendung des europäischen Vergaberechts stehe nach dieser Auffassung weder verfassungs- noch sozialrechtliche Aspekte entgegen (vgl. S. 47 ff.). Im Hinblick auf die Anwendbarkeit des Kartellvergaberechts müsse beispielsweise bei der Entgeltfinanzierung auf Basis der §§ 77 ff. SGB VIII nach dem Inhalt des jeweils in Rede stehenden Vertrags differenziert werden. Ohne Relevanz sei hierbei, ob der öffentliche Träger die Leistungen selbst erhalte, sofern dieser nur ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse an ihrer Erbringung habe. Da durch den Abschluss von SGB VIII-Verträgen die notwendigen Voraussetzungen für die Erfüllung der Gewährleistungsverpflichtung nach § 79 Abs. 2 Satz 1, 1. Hs. SGB VIII geschaffen werden und die Jugendhilfeplanung nach § 80 SGB VIII in tatsächlicher Hinsicht verwirklicht wird, sei ein solches Eigeninteresse stets gegeben. Eine Ausnahme könne allenfalls für Rahmenverträge auf Basis des § 78 f SGB VIII anerkannt werden, deren Beschaffungscharakter einzelfallbezogen zu ermitteln sei.
Auffassung der Bundesregierung
Auch nach Auffassung der Bundesregierung (Antwort auf eine kleine Anfrage der FDP-Fraktion vom 14. Mai 2007 – BT-Drs. 16/5 347) werden im Leistungserbringungsrecht der Kinder- und Jugendhilfe keine Aufträge durch den öffentlichen Träger der Jugendhilfe vergeben. Vielmehr nehmen die Leistungsberechtigten im Rahmen des Wunsch- und Wahlrechts nach § 5 SGB VIII die entsprechenden Einrichtungen und Dienste in Anspruch, weshalb ein Vergabeverfahren nicht stattfinden könne.
Dieser Aussage kommt gewiss ein bestimmtes politisches Gewicht zu, für die Anwendbarkeit des europäischen Vergaberechts ist jedoch die Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts und der in Umsetzung dieses Rechts ergangenen nationalen Rechtsakte maßgeblich. Auch in Bezug auf die Vergabe von Rettungsdienstleistungen stellte sich die Bundesregierung in den Verfahren vor dem EuGH auf den Standpunkt, dass das europäische Vergaberecht keine Anwendung finde. Nach Auffassung des EuGH ist jedoch im Submissionsmodell das europäische Vergaberecht umfassend anzuwenden und im Rahmen des Konzessionsmodells zumindest ein wettbewerbliches Verfahren erforderlich.
Beauftragung der Geschäftsführung der Familien- und Jugendhilfeverbünde: öffentlicher Auftrag?
Sowohl die Bildung der FJV als auch die Erbringung von (Geschäftsführungs-) Leistungen durch deren Mitglieder ist im SGB VIII nicht geregelt. Ihr rechtlicher Charakter sowie die zulässigen Inhalte sind daher gesetzlich nicht definiert. Gleichwohl sind entsprechende Vereinbarungen in der Praxis der Jugendhilfe mittlerweile üblich.
Für die Annahme eines öffentlichen Auftrags spricht auf der einen Seite, dass die freien Träger der Jugendhilfe regelmäßig verpflichtet werden, sowohl bestimmte Koordinierungsauftragen im FJV wahrzunehmen, als auch bestimmte Kapazitäten für Aufgaben der Jugendhilfe, etwa als „erfahrene Fachkraft nach § 8a SBG VIII“, vorzuhalten. Außerdem erhält der jeweilige geschäftsführende freie Träger des FJV regelmäßig eine gewisse personelle oder sachliche Mittelausstattung zur Erfüllung der Aufgaben als geschäftsführender Träger. Bei diesem Verständnis stellte sich die Beauftragung der Geschäftsführungsaufgaben als Leistung zu Gunsten des öffentlichen Aufgabenträgers dar.
Auf der anderen Seite könnte argumentiert werden, dass es bei der Beauftragung von Geschäftsführungsleistungen oder vergleichbaren Koordinierungsleistungen an dem für das Vorliegen eines öffentlichen Auftrags konstitutiven Merkmals des Leistungsaustausches fehlt und daher eine Beschaffung des öffentlichen Trägers nicht vorliegt.
Exkurs: Kartellrechtliche Betrachtung
Für den Fall, dass ein öffentlicher Träger beim Abschluss von Leistungserbringungsvereinbarungen nach dem SGB VIII das Vorliegen eines öffentlichen Auftrags verneinen sollte und daher ein wettbewerbliches Vergabeverfahren durchführt, sind auch die kartellrechtlichen Vorgaben im Blick zu behalten.
Sofern ein öffentlicher Träger nämlich einen spürbaren finanziellen Nutzen (ggf. auch in der Form der Reduzierung bestehender Belastungen) erhält, handelt er als „Unternehmen“ im kartellrechtlichen Sinne nach § 130 GWB i.V.m. § 1 GWB bzw. Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), d.h. als Erbringer einer selbstständigen Tätigkeit im geschäftlichen Verkehr, die auf den Austausch von Waren oder gewerblichen Leistungen gerichtet ist und sich nicht auf die Deckung des privaten Lebensbedarfs beschränkt (vgl. z.B. BGH GRUR 1999, 771, 773). Er wäre dann grundsätzlich Adressat der kartellrechtlichen Vorschriften.
Da die öffentlichen Träger der Jugendhilfe in ihrem jeweiligen Gebiet eine faktische Alleinstellung in Bezug auf die (dann entgeltliche) Beauftragung freier Träger haben, könnten diese sich in einer marktbeherrschenden Stellung gemäß § 19 GWB bzw. Art. 102 AEUV befinden. Entsprechend den Vorgaben des Bundeskartellamts in den Verwaltungsverfahren „Große Kreisstadt Dinkelsbühl“ (Beschl. v. 18.10.2011 – AZ: B 10-6/11) und „Stadt Markkleeberg“ (Beschl. v. 21.10.2011 – AZ: B 10 – 17/11) zur Vergabe von Netzkonzessionen käme dann eine Anwendung der Vorgaben der kartellrechtlichen Missbrauchskontrolle in Betracht.
Um den Vorwurf eines möglichen Missbrauchs dieser marktbeherrschenden Stellung zu vermeiden, empfiehlt es sich, das Auswahlverfahren in Bezug auf die Beauftragung der freien Träger im Falle einer Vergleichbarkeit zur Konzessionsvergabe nach den durch das Bundeskartellamt in den oben genannten Verwaltungsverfahren vorgegebenen Grundsätzen auszugestalten.
Zusammenfassung und Praxishinweise
Die Anwendbarkeit des europäischen Vergaberechts beim Abschluss von Leistungserbringungsvereinbarungen auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendhilferechts ist von einer abschließenden Klärung noch ein gutes Stück entfernt. Die bislang überwiegende Rechtsprechung geht davon aus, dass kein öffentlicher Auftrag oder allenfalls eine Dienstleistungskonzession vorliegt, wenngleich das OLG Düsseldorf in einer vergleichbaren Fallgestaltung schon zum Vorliegen eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags gelangte.
Auch unter Berücksichtigung der sozialrechtlichen Besonderheiten ist zu beachten, dass der Anwendungsbereich sowohl des nationalen als auch des europäischen Vergaberechts nicht disponibel ist. Hinzu kommt, dass die oben genannten vergabe- und verwaltungsrechtlichen Entscheidungen bereits einige Zeit zurückliegen und etwa die jüngere Rechtsprechung zum Bereich der Rettungsdienstleistungen, der Vergabe von Arzneimittel-Rabattverträgen oder von sozialen Arbeitsmarktdienstleistungen noch nicht aufnehmen konnte.
Da der EuGH im Zusammenhang mit seiner Rechtsprechung zum Konzessionsmodell im Rettungsdienstbereich die Anforderungen an das Vorliegen eines relevanten Betriebsrisikos relativ stark abgesenkt hat, könnte bei der Beauftragung von Leistungsgegenständen, die sich im jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnis vollziehen, auch die Annahme einer Dienstleistungskonzession nahe liegen.
Bei der Beauftragung von Geschäftsführungs- oder sonstigen Koordinierungsaufgaben im Zusammenhang mit der Bildung von Familien- und Jugendhilfeverbünden ist das Vorliegen eines öffentlichen Auftrags ebenfalls im Einzelfall anhand des jeweiligen Leistungsbildes zu bestimmen.
Während im Falle eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags die entsprechenden formalen Vergabeverfahren durchzuführen sind, erfolgt auch die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen nicht losgelöst von europa- und vergaberechtlichen Bindungen. Dies gilt zumindest dann, wenn an dem betreffenden Vertrag ein grenzüberschreitendes Interesse besteht. Der EuGH verlangt insoweit, dass die Grundregeln des AEUV im Allgemeinen, die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art. 94 AEUV und Art. 56 AEUV) und das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Besonderen zu beachten sind und dass die Nachprüfung ermöglicht wird, ob die Vergabeverfahren unparteiisch durchgeführt wurden. Aus diesen Feststellungen des EuGH folgt, dass – wenngleich eine förmliche Ausschreibung nicht notwendig ist – auch die Vergabe von Leistungserbringungsvereinbarungen auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendhilferechts i.d.R. im Wege eines wettbewerblichen und diskriminierungsfreien Verfahrens erfolgen sollte.
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Dort berät und vertritt er insbesondere öffentliche Auftraggeber, aber auch Unternehmen, in allen Fragen des Vergaberechts, ein Schwerpunkt liegt hierbei im Dienstleistungsbereich. Mehr Informationen finden Sie in unserem Autorenverzeichnis.
Thema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren.
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW).
Sehr geehrter Herr Ott,
ich befasse mich gerade im Rahmen meines Aufgabengebietes in der Jugendföderung mit dem Thema Vergabe und Jugendföderung. Gibt es in dem Zusammenhang aktuellere Auffassungen, in wieweit die UVgO angewendet werden muss, wenn es um die Zuwendungen freier Träger geht und die nachfolgenden Ausgaben in Form von Sachmitteln und Honoraren?
Vielen Dank,
mit freundlichen Grüßen
R. Söhndel