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Liefer- & Dienstleistungen

Wer trägt die Beweislast für eine mögliche Mindestlohnunterschreitung bei einem Angebot mit niedrigen Stundenverrechnungssätzen? (VK Südbayern, Beschl. v. 14.02.2014 – Z3-3-3194-1-43-12/13)

EntscheidungNiedrige Stundenverrechnungssätze rechtfertigen nicht automatisch einen Angebotsausschluss unter Verweis auf damit vermutlich verbundene Mindestlohnunterschreitungen.

Gerade bei der Vergabe standardisierter Dienstleistungen im Niedriglohnsektor, wie Reinigungs- und Sicherheitsdienstleistungen, müssen sich öffentliche Auftraggeber immer wieder mit der Frage auseinandersetzen, wie sie einerseits ihren eigenen Controller oder Haushälter glücklich machen, andrerseits aber der Gefahr entgehen, schlechte Leistungen zu Dumpingpreisen und unter Missachtung gesetzlich normierter Mindestlöhne und Sozialstandards einzukaufen. Die Entscheidung der VK Südbayern vom 14.02.2014 gibt Anlass, sich mit den insoweit bestehenden (Ausschluss-)Rechten der öffentlichen Hand sowie ihren korrespondieren Aufklärungspflichten auseinanderzusetzen.

§ 19 EG Abs. 6 VOL/A, Art. 55 Abs. 1 RL 2004/18/EG, Art. 69 RL 2014/24/EU

Sachverhalt

Gegenstand des Verfahrens war die Vergabe von Reinigungsleistungen. Als Wertungskriterien waren angegeben: 1. Niedrigster Reinigungs-Leistungswert in m2/h (45 Punkte), niedrigster Stundenverrechnungssatz (30 Punkte) und niedrigster Gesamtjahrespreis (25 Punkte).

Bei der Angebotswertung stellte der Auftraggeber fest, dass ein Angebot Stundenverrechnungssätze enthielt, bei denen ein Aufschlag von (nur) rd. 60 % auf den gesetzlich festgeschriebenen Mindestlohn im Gebäudereinigerhandwerk kalkuliert wurde. Alle anderen Bieter hatten einen Aufschlag von rd. 70 % kalkuliert. Dies entspricht auch einer Annahme der Bundesfinanzdirektion West, die in einem Rundschreiben vom 14.02.2012 dargelegt hatte, dass sich ein Aufschlag von ca. 70 % auf den produktiven Lohn als Untergrenze herauskristallisiert habe, um die lohnabhängigen Kosten erwirtschaften zu können.

Der Auftraggeber bat den Bieter mit den niedrigen Stundenverrechnungssätzen daraufhin zum Aufklärungsgespräch. In diesem Gespräch erläuterte der Bieter seine Kalkulation dahingehend, dass die niedrigen Stundenverrechnungssätze u.a. dadurch erreicht würden, dass extrem niedrige Kalkulationssätze beim kaufmännischen Personal, bei den allgemeinen Betriebskosten und bei Risiko und Gewinn angesetzt wurden. Zur Begründung führte er an, dass diese unternehmensbezogenen Kosten deshalb so gering seien, weil sein Unternehmen in räumlicher Nähe bereits Objektleiter und Infrastruktur im Einsatz habe, die derzeit nicht voll ausgelastet seien, aber durch den ausgeschriebenen Auftrag ausgelastet werden könnten. Ohne dass sich der Verfahrensdokumentation entnehmen ließe, dass sich der Auftraggeber mit dieser Begründung im Detail auseinandergesetzt hat, wurde dem Bieter noch am selben Tag per Fax mitgeteilt, dass sein Angebot wegen Unauskömmlichkeit der Stundenverrechnungssätze ausgeschlossen werde. Der Bieter rügte diesen Ausschluss und reichte einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer Südbayern ein.

Die Entscheidung

Diese gab dem vom Angebotsausschluss betroffenen Bieter recht und verpflichtete die Vergabestelle, die Wertung zu wiederholen.

Zwar gestand die Vergabekammer dem öffentlichen Auftraggeber zu, dass er berechtigt und sogar verpflichtet war, die einzelnen Stundenverrechnungssätze auf der dritten Wertungsstufe einer vertieften Prüfung zu unterziehen. Es trat damit dem Argument des Antragstellers entgegen, dass eine Auskömmlichkeitsprüfung gemäß § 19 EG Abs. 6 VOL/A dann und nur dann stattzufinden habe, wenn der Gesamtpreis unangemessen niedrig sei. Dies sei aber erst ab einer Größenordnung von 20 % Differenz zum Gesamtpreis des nächstplatzierten Angebotes anzunehmen. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 31.10.2012, Az.: VII Verg 17/12) kam die Vergabekammer hier jedoch zu dem Schluss, dass § 19 EG Abs. 6 VOL/A auch dann gilt, wenn zwar nicht ein offenbares Missverhältnis von Preis und Leistung in Rede steht, aber ein solches vom Auftraggeber in den Vergabeunterlagen fiktiv zur Wahrung der allseitigen Gesetzestreue für den Fall des Unterschreitens der vorgegebenen Mindeststundenverrechnungssätze unterstellt wird. Vorliegend seien die kalkulierten Stundenverrechnungssätze ausdrücklich vor dem Hintergrund der Einhaltung des Mindestlohns zum Wertungskriterium gemacht worden. Eine Prüfung der Stundenverrechnungssätze der Antragstellerin, die vorliegend unter 15,00 liegen, sei daher unumgänglich.

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Die Tatsache, dass die Prüfung der Stundenverrechnungssätze aus Sicht der Vergabekammer gerechtfertigt war, bedeutet jedoch nicht, dass dies auch für den Angebotsausschluss gilt. Eine Unterschreitung der von der Bundesfinanzdirektion angenommenen Mindeststundenverrechnungssätze indiziert nach Auffassung der Kammer keine Unauskömmlichkeit des Angebots und auch keine automatische Mindestlohnunterschreitung. Die Vergabekammer gesteht dem öffentlichen Auftraggeber zwar bezüglich der Prognose, ob ein Bieter die Leistung trotz einer Unterschreitung der angenommenen Mindeststundenverrechnungssätze die Leistung trotzdem zuverlässig und vertragsgerecht erbringen wird, einen Beurteilungsspielraum zu. Die maßgebliche Beurteilung sei jedoch fehlerhaft erfolgt. Insbesondere müsse der öffentliche Auftraggeber nachvollziehbar darlegen, warum er aufgrund der niedrigen Stundenverrechnungssätze davon ausging, dass der Bieter letztlich den gesetzlichen Mindestlohn nicht zahlen würde und daher mit einer gesetzesformen Leistungserbringung nicht zu rechnen wäre. Nur dann wäre der Vergabestelle eine Annahme des Angebots nicht zumutbar gewesen. Insoweit trifft den öffentlichen Auftraggeber aus Sicht der Vergabekammer die Darlegungs- und Beweislast. Da sich der Verfahrensdokumentation vorliegend nicht entnehmen ließ, dass sich der öffentliche Auftraggeber mit den Kalkulationssätzen des Bieters tatsächlich im Detail auseinandergesetzt hatte, sah die Vergabekammer den Ausschluss als nicht gerechtfertigt an.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung der Vergabekammer Südbayern befindet sich auf einer Linie mit den in jüngster Zeit ergangenen Entscheidungen der Vergabekammer Münster (Beschluss vom 01.10.2013, Az.: VK 12/13) und der Vergabekammer Nordbayern (Beschluss vom 30.01.2014, Az.: 21.VK-3194-53/13). Auch dort hatten die Vergabekammern jeweils die Prüfung der Einzelpreise selbst für gerechtfertigt gehalten, den Ausschluss im jeweiligen Einzelfall jedoch als ermessensfehlerhaft angesehen.

Im Falle der Entscheidung der Vergabekammer Münster konnte die Annahme einer Prüfpflicht allerdings auf § 10 TVgG NRW gestützt werden, der insoweit eine ausdrückliche Regelung trifft. Eine vergleichbare Norm fehlt in Bayern. Hier behilft sich die Vergabekammer damit, dass sie die Berechtigung der Vergabestelle zur Prüfung der Einzelpreise damit begründet, dass diese selbst die Stundenverrechnungssätze zum Wertungskriterium erhoben habe und dass dies gerade auch der Prüfung der Einhaltung der Mindestlohnvorgaben dienen sollte. Ohne eine solche explizite Wertungs- oder Begründungsvorgabe aber lässt sich außerhalb von Sondervorschriften wie § 10 TVgG-NRW bei Angeboten, deren Gesamtpreise nicht relevant von den anderen Gesamtpreisen abweichen, jedenfalls eine Verpflichtung des Auftraggebers zur Prüfung von Einzelpreisen nach geltendem Recht nicht so ohne Weiteres begründen (vgl. hierzu auch OLG Düsseldorf, Beschluss vom 31.10.2012, Az.: VII Verg 17/12, B 2. c). Künftig dürfte sich eine Prüfpflicht allerdings aus der Umsetzung von Art. 69 i.V.m. Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24/EU ergeben.

Von besonderer rechtlicher wie praktischer Relevanz sind die deutlichen Worte, die die Vergabekammer zurDarlegungs- und Beweislast des öffentlichen Auftraggebers im Hinblick auf die angenommene Mindestlohnunterschreitung findet. Auf den ersten Blick scheinen diese Ausführungen im Widerspruch zu anderen Entscheidungen aus diesem Themenbereich zu stehen. So heißt es etwa im ersten Leitsatz der auch von der Vergabekammer Südbayern in Bezug genommenen Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 31.10.2012 (s.o.): Es ist Sache des Bieters, Zweifel an der Auskömmlichkeit seines Angebotes zu entkräften. Letztlich handelt es sich hier jedoch nicht um einen Widerspruch, sondern um zwei ineinander greifende Verpflichtungen: zwar ist es zunächst Aufgabe des Bieters, im Rahmen der Angebotserstellung oder der Auskömmlichkeitsprüfung darzulegen, dass er trotz niedriger Stundenverrechnungssätze bereit und in der Lage ist, den gesetzlichen Mindestlohn zu zahlen. Im nächsten Schritt trifft dann aber den öffentlichen Auftraggeber die Pflicht dazulegen, ob und inwieweit er diese Angaben für plausibel hält und wieso er ggf. meint, hieraus den zwingenden Schluss ziehen zu können, dass der Bieter sich bei den angebotenen Stundenverrechnungssätzen nicht gesetzeskonform verhalten kann. Dabei muss der Auftraggeber auch ggf. durch weitere Nachfragen beim Bieter die Tatsachenbasis seiner Entscheidung zu erhärten versuchen. So hat der EuGH zur Auskömmlichkeitsprüfung gem. Art. 55 Abs. 1 der Richtlinie 2004/18/EG im Jahr 2012 (Urteil vom 29.03.2012, Rs. C-599/10) entschieden, dass der öffentliche Auftraggeber zur Wahrung der praktischen Wirksamkeit dieser Regelung die an die betreffenden Bewerber gerichtete Aufforderung klar zu formulieren hat, so dass diese in zweckdienlicher Weise den vollen Beweis der Seriosität ihrer Angebote erbringen können.

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Praxistipp

So begrüßenswert die erwähnten Vergabekammer-Entscheidungen aus Bietersicht sein mögen, stellen sie die öffentlichen Auftraggeber vor das nicht unerhebliche praktische Problem, plausibel und möglichst durch Fakten unterlegt, einen Ausschluss wegen zu niedriger Stundenverrechnungssätze und damit prognostisch einhergehender Mindestlohnunterschreitungen zu begründen, ohne gleichzeitig tatsächlichen Einblick in die maßgeblichen Unternehmenskennzahlen zu haben. Einen derartigen Einblick hätten eigentlich erst die jedenfalls in einigen Bundesländern (z.B. Berlin und Nordrhein-Westfalen) installierten Prüfbehörden. Letztlich dürfte das Dilemma für den öffentlichen Auftraggeber nur dadurch lösbar sein, dass er quasi den Spieß umdreht und dem Bieter einen möglichst detaillierten Fragenkatalog zu den Stundenverrechnungssätzen sowie zu den sich hieraus auf die Wahrung der Mindestlöhne ergebenden Konsequenzen übermittelt und die Beantwortung dieser Fragen ebenso wie seine hieraus gezogenen Schlüsse hinreichend detailliert dokumentiert.

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Über Dr. Rut Herten-Koch

Dr. Rut Herten-Koch berät sowohl die öffentliche Hand und ihre Unternehmen als auch private Eigentümer, Investoren, Projektentwickler und Bieter in Vergabeverfahren. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrung in der Begleitung und Gestaltung komplexer Verfahren – sei es im Bauplanungs- oder im Vergaberecht. Darüber hinaus vertritt Rut Herten-Koch ihre Mandanten vor den Vergabenachprüfungsinstanzen und den Verwaltungsgerichten. Seit 2002 ist sie als Rechtsanwältin im Bereich öffentliches Recht und Vergaberecht in Berlin tätig. Rut Herten-Koch ist seit Juli 2015 Partnerin bei Luther.

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