Das Landesvergabegesetz des Landes Sachsen-Anhalt (LVG LSA) sieht auch für den Unterschwellenbereich – für Bauleistungen ab einem Gesamtauftragswert von 150.000 EUR netto – Primärrechtsschutz in Form von Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer Sachsen-Anhalt vor. Um eine rechtzeitige Beanstandung einer Vergabeentscheidung vor Zuschlagsentscheidung zu ermöglichen, muss der Auftraggeber die unterlegenen Bieter spätestens sieben Kalendertage vor dem Vertragsabschluss schriftlich über die beabsichtigte Zuschlagserteilung, den Namen des Bieters, dessen Angebot angenommen werden soll und über die Gründe der vorgesehenen Nichtberücksichtigung des jeweiligen Angebotes des unterlegenen Bieters informieren, vergleichbar einem Vorabinformationsschreiben im Oberschwellenbereich gemäß § 101a Abs. 1 GWB. Die Vergabekammer Sachsen-Anhalt hat nun die Anforderungen an die Versendung dieser Information für den Auftraggeber und die daraus resultierenden möglichen Rechtsfolgen für die Bieter näher definiert.
§ 19 Abs. 1 und 2 LVG LSA
Sachverhalt
§ 19 Abs. 1 und 2 LVG LSA regeln Folgendes:
§ 19 Information der Bieter, Nachprüfung des Vergabeverfahrens unterhalb der Schwellenwerte
(1) Unterhalb der Schwellenwerte nach § 100 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen informiert der öffentliche Auftraggeber die Bieter, deren Angebote nicht berücksichtigt werden sollen, über den Namen des Bieters, dessen Angebot angenommen werden soll, und über die Gründe der vorgesehenen Nichtberücksichtigung ihres Angebotes. Er gibt die Information schriftlich, spätestens sieben Kalendertage vor dem Vertragsabschluss, ab.
(2) Beanstandet ein Bieter vor Ablauf der Frist schriftlich beim öffentlichen Auftraggeber die Nichteinhaltung der Vergabevorschriften und hilft der öffentliche Auftraggeber der Beanstandung nicht ab, ist die Nachprüfungsbehörde durch Übersendung der vollständigen Vergabeakten zu unterrichten. Der Zuschlag darf in dem Fall nur erteilt werden, wenn die Nachprüfungsbehörde nicht innerhalb von vier Wochen nach Unterrichtung das Vergabeverfahren mit Gründen beanstandet. Der Vorsitzende der Vergabekammer kann diese Frist im Einzelfall um zwei Wochen verlängern. Wird das Vergabeverfahren beanstandet, hat der öffentliche Auftraggeber die Entscheidung der Nachprüfungsbehörde umzusetzen. Die Frist beginnt am Tag nach dem Eingang der Unterrichtung.
Im Rahmen der der Entscheidung der VK Sachsen-Anhalt zugrundeliegenden Öffentlichen Ausschreibung von Straßenbauarbeiten nach dem 1. Abschnitt der VOB/A reichte die Antragstellerin ein Angebot ein, das preislich den zweiten Rang erzielte.
Einer Beanstandung der Antragstellerin hinsichtlich der Kalkulation des erstplatzierten Angebotes half die Antragsgegnerin ab und schloss den Bieter mit dem erstplatzierten Angebot vom weiteren Verfahren aus.
Mit Schreiben vom 04.02.2015 beabsichtigte die Antragsgegnerin der Antragstellerin gemäß § 19 Abs. 1 LVG LSA mitzuteilen, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt werde und der Zuschlag auf das Angebot eines anderen, namentlich benannten Bieters erteilt werden solle. Nach Aussage der Antragsgegnerin hatte der zuständige Mitarbeiter der Antragsgegnerin das Absageschreiben – wie auch die Absageschreiben an die anderen nicht berücksichtigten Bieter – gefertigt, adressiert, kuvertiert und in den Postausgang seines Amtes gegeben. In der Vergabedokumentation war unter Angabe des Datums und des Namenszeichens des Mitarbeiters festgehalten, dass das Schreiben am 04.02.2015 zur Post gegeben worden war. Ein Rücklauf eines der Absageschreiben wegen Unzustellbarkeit war nicht festgestellt worden.
Am 17.02.2015, bei der Antragsgegnerin eingegangen am 18.02.2015, bat die Antragstellerin die Antragsgegnerin um Information gemäß § 19 LVG LSA, sie hatte also anscheinend das Absageschreiben vom 04.02.2015 nicht erhalten. Daraufhin gab ihr die Antragsgegnerin das Schreiben vom 04.02.2015 erneut zur Kenntnis.
Mit Zuschlagsschreiben vom 19.02.2015, also einen Tag später, erteilte die Antragsgegnerin den ausgeschriebenen Auftrag an das in dem Absageschreiben benannte Unternehmen.
Mit Schreiben vom 23.02.2015 rügte die Antragstellerin die Nichtberücksichtigung ihres Angebotes und legte gegenüber der Antragsgegnerin Widerspruch gegen diese Entscheidung ein.
Die Antragsgegnerin half der Beanstandung nicht ab und übergab die Vergabeakten der Vergabekammer.
Die Entscheidung
Die VK Sachsen-Anhalt verwirft den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin als unzulässig. Die Antragstellerin habe die von ihr behaupteten Verstöße gegen die Vergabevorschriften im Sinne von § 19 Abs. 1 und 2 LVG LSA nicht fristgerecht gerügt.
Gemäß § 19 Abs. 2 LVG LSA werde die Nachprüfungsbehörde nur tätig, wenn ein Bieter vor Ablauf der Frist des § 19 Abs. 1 LVG LSA – der Frist von mindestens sieben Kalendertagen, die ein Auftraggeber warten muss, nachdem er die Information über die beabsichtigte Zuschlagserteilung an die unterlegenen Bieter abgegeben hat, bevor er den Zuschlag erteilen darf – schriftlich beim Auftraggeber die Nichteinhaltung der Vergabevorschriften beanstandet und der Auftraggeber der Beanstandung nicht abhilft.
Zum Zeitpunkt des Beginns dieser Frist führt die Vergabekammer aus:
„Voraussetzung für den Beginn der Frist ist nach § 19 Abs. 1 Satz 2 LVG LSA die schriftliche Abgabe der Information durch den Auftraggeber. Auf den Zugang des Schreibens beim Bieter kommt es bei der Fristberechnung nach dem Gesetzeswortlaut nicht an. Eine förmliche Zustellung an die Bieter sieht das Gesetz nicht vor.“
Die Antragsgegnerin habe hier die Absageschreiben an die nicht berücksichtigten Bieter, wie aus der Vergabedokumentation ersichtlich sei, am 04.02.2015 zur Post gegeben. Ein Rücklauf eines der Schreiben wegen Unzustellbarkeit sei nicht ersichtlich. Der Auftrag sei erst am 19.02.2015 – also am 15. Kalendertag nach Absendung der Schreiben – erteilt worden. Die Antragsgegnerin habe damit ihre Pflichten gemäß § 19 LVG LSA ordnungsgemäß erfüllt.
Damit sei der Antrag auf Nachprüfung des Verfahrens verspätet eingegangen, was die Antragsgegnerin aufgrund der ordnungsgemäßen Abgabe der Schreiben zur Post nicht zu vertreten habe.
Rechtliche Würdigung
Die Vergabekammer stellt ausdrücklich klar, dass es für den Beginn der Warte- oder Stillhaltefrist gemäß § 19 Abs. 1 LVG LSA, also der Frist von hier sieben Kalendertagen, die der Auftraggeber abwarten muss, ehe er den Zuschlag erteilen darf, allein auf die Abgabe der Information ankommt. Wann der Zugang der Mitteilung beim jeweiligen Bieter erfolgt, ist dafür irrelevant. Die Vergabekammer legt die Vorschrift des § 19 Abs. 1 S. 2 LVG LSA insofern genau so aus, wie die für den Oberschwellenbereich geltende Regelung des § 101a Abs. 1 S. 5 GWB, als dass es auf die Absendung und nicht auf den Zugang ankommt. Dies ist für den Oberschwellenbereich in § 101a Abs. 1 S. 5 GWB sogar ausdrücklich geregelt.
Allerdings beginnt die Frist des § 101a Abs. 1 GWB erst am Tag nach der Absendung, während nach dem Wortlaut von § 19 Abs. 1 LVG LSA die Frist dort wohl bereits mit der Abgabe der Information zu laufen beginnt.
Die Verwendung der unterschiedlichen Begriffe „Absendung“ in § 101a Abs. 1 GWB und „Abgabe“ in § 19 Abs. 1 LVG LSA dürfte dagegen keine Bedeutung haben. Die in § 19 Abs. 1 S. 2 LVG LSA verwendete Formulierung, der Auftraggeber „gibt die Information schriftlich […] ab“, entspricht insofern der von 2001 bis 2003 geltenden Fassung des § 13 VgV, der Vorgängernorm des 2009 eingeführten § 101a GWB. Auch in § 13 VgV a. F. hieß es, der Auftraggeber „gibt die Information schriftlich […] ab“. Zu dieser Vorschrift hatte der Bundesgerichtshof bereits im Jahr 2004 (BGH, Beschl. v. 09.02.2004 – X ZB 44/03) entschieden, dass es für den Beginn der Stillhaltefrist nicht auf den Zugang der Information beim Bieter ankomme, und dabei die Begriffe „Abgabe“ und „Absendung“ synonym verwendet und deren Bedeutung näher definiert:
„Entgegen der Meinung […], beginnt die Frist, vor deren Ablauf nach § 13 Satz 4 VgV a.F. der Vertrag nicht wirksam geschlossen werden kann, nicht erst, sobald allen Bietern, deren Angebote nicht berücksichtigt werden sollen, die schriftliche Information zugegangen ist, sondern bereits, sobald die Absendung an diese Bieter abgeschlossen ist. Dies folgt aus dem Wortlaut von § 13 Satz 2 VgV a.F. Er erwähnt den Zugang der schriftlichen Information bei den betroffenen Bietern nicht. § 13 Satz 2 VgV a.F. stellt nicht einmal auf die Bieter ab. Nach dieser Vorschrift ist vielmehr entscheidend, dass „der öffentliche Auftraggeber“ die Information „abgibt“. Das kann zwanglos dahin verstanden werden, dass es für den Beginn der zu beachtenden Frist nur darauf ankommt, wann der öffentliche Auftraggeber sich der schriftlichen Mitteilungen an die betroffenen Bieter entäußert, wann er diese Schriftstücke also aus seinem Herrschaftsbereich so herausgegeben hat, dass sie bei bestimmungsgemäßem weiteren Verlauf der Dinge die Bieter erreichen, deren Angebote nicht berücksichtigt werden sollen.“
Womit sich die VK Sachsen-Anhalt allerdings nicht auseinandersetzt, ist die Frage, ob es für den Beginn der Stillhaltefrist erforderlich ist, dass der Zugang der Information beim Bieter überhaupt, also zu irgendeinem Zeitpunkt, erfolgt.
In der Literatur wurde zumindest in der Vergangenheit zu der Vorschrift des § 101a Abs. 1 GWB zum Teil vertreten, der Zugang des Absageschreibens sei insofern von erheblicher Bedeutung, als der fehlende Zugang dazu führe, dass schon keine ordnungsgemäße Information vorliege, welche die Frist in Gang setzen würde. Ohne Zugang innerhalb der Frist könne die Information ihren europarechtlich gebotenen Schutzzweck, den betroffenen Bietern und Bewerbern effektiven Rechtsschutz zu ermöglichen, nicht erfüllen (so z. B. Dreher, in: Dreher/Motzke, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 2. Auflage 2013, § 101a GWB Rd. 68ff.; Dreher/Hoffmann, Die Informations- und Wartepflicht sowie die Unwirksamkeitsfolge nach den neuen §§ 101a und 101b GWB, NZBau 2009, 216, 218; so auch noch Fett, in: Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht Kompaktkommentar, 2. Auflage 2011, § 101a GWB Rd. 38; aA aber in der Neuauflage: Fett, in: Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht Kompaktkommentar, 3. Auflage 2014, § 101a GWB Rd. 42 und König, in: Kulartz/Kus/Portz, Kommentar zum GWB-Vergaberecht, § 101a GWB, Rd. 20).
Aufgrund der Tatsache, dass in dem von der VK Sachsen-Anhalt zu entscheidenden Fall das Informationsschreiben vom 04.02.2015 offenbar die Antragstellerin gar nicht erreicht hatte, hätte man sich die Frage, ob dadurch mangels ordnungsgemäßer Information die Frist des § 19 Abs. 1 LVG LSA erst gar nicht ausgelöst werden konnte, durchaus stellen können. Hier wäre aber wohl jedenfalls eine Heilung aufgrund der nochmaligen Kenntnisgabe des Schreibens vom 04.02.2015 an die Antragstellerin – wohl noch vor Zuschlagserteilung – in Betracht gekommen. Da die Antragstellerin das Schreiben vom 04.02.2015 auf ihre Nachfrage hin offenbar – so dürfe die Sachverhaltsschilderung der Vergabekammer zumindest zu verstehen sein – am 18.02.2015, also einen Tag vor Zuschlagserteilung, noch einmal erhalten hatte, dürfte dieser Fall so zu behandeln sein, als ob das Informationsschreiben trotz rechtzeitiger Absendung erst einen Tag vor Ablauf der Stillhaltefrist zugegangen wäre. Ein solcher Fall wäre aber, da es gerade nicht auf den Zeitpunkt des Zugangs ankommt, vergaberechtskonform.
Die Stimmen, die einen tatsächlichen Zugang des Informationsschreibens zu irgendeinem Zeitpunkt als zwingende Voraussetzung für den Beginn der Frist ansehen, bürden dem Auftraggeber die Darlegungs- und Beweislast für den Zugang des Schreibens bei jedem einzelnen Bieter auf. Einen solchen Beweis wird der Auftraggeber jedoch unter normalen Umständen bei Versendung des Schreibens als einfachen Brief per Post grundsätzlich nicht führen können. Um den Nachweis des Zugangs sicherstellen zu können, müsste der Auftraggeber damit letztlich stets eine förmliche Zustellung, durch Einschreiben mit Rückschein etc., wählen, die aufwendig und kostenintensiv ist. Daher dürfte die Aufbürdung der Beweislast für den Zugang im Ergebnis – zumindest für Auftragsvergaben wie hier im Unterschwellenbereich – unverhältnismäßig sein.
Julia Gielen
Julia Gielen ist Rechtanwältin bei der KPMG Rechtsanwaltsgesellschaft mbH (KPMG Law) am Standort Berlin. Sie ist spezialisiert auf das Vergaberecht und das Öffentliche Wirtschaftsrecht und bildet einen Teil der Practice Group Öffentlicher Sektor. Sie berät und vertritt Auftraggeber und Unternehmen bei der öffentlichen Auftragsvergabe, insbesondere im Bereich Bau, Immobilien, Infrastruktur und Informationstechnologie. Ihre Tätigkeit umfasst dabei u. a. die Verfahrens- und Vertragsgestaltung, die Vertretung in Nachprüfungsverfahren und Beschwerdeverfahren sowie die Beratung und Vertretung bei Prüfungen durch Rechnungsprüfungs- und Revisionsinstanzen. Der Beitrag gibt die persönlichen Ansichten der Autorin wieder und repräsentiert nicht unbedingt die Ansichten der KPMG Rechtsanwaltsgesellschaft.
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