Da vom Verordnungsgeber nicht ausreichend geprüft worden ist, ob mehrere Tarifverträge für den straßengebundenen Personenverkehr in NRW als repräsentativ festgelegt werden können, ist die zugrundeliegende Verordnung nichtig. Solange keine rechtmäßige Verordnung erlassen wird, dürfen bzw. müssen Aufgabenträger daher keine entsprechende ÖPNV-Tariftreueerklärung verlangen.
§ 4 Abs. 2 (Tariftreuepflicht) TVgG-NRW; § 21 TVgG-NRW; § 1 RepTVVO-NRW
Sachverhalt
Mit EU-weiter Bekanntmachung vom Mai 2013 schrieb der Antragsgegner, ein Zweckverband und Aufgabenträger des ÖPNV, Busverkehrsleistungen im offenen Verfahren aus. Entsprechend der nordrheinwestfälischen Rechtslage gab der Antragsgegner im Bekanntmachungstext und in den Vergabeunterlagen vor, dass die Bieter mit ihrem Angebot die nach dem Tariftreue- und Vergabegesetz NRW (TVgG) geforderten Erklärungen abgeben müssen. Das TVgG sieht in seinem § 4 Abs. 2 vor, dass öffentliche Aufträge über Verkehrsleistungen nur an Bieter vergeben werden dürfen, die sich mit ihrem Angebot dazu verpflichten, ihren Beschäftigten mindestens das nach einem einschlägigen und repräsentativen Tarifvertrag vorgesehene Entgelt zu bezahlen. Die nordrheinwestfälische Landesregierung hat zur Konkretisierung dieser Vorgabe die Verordnung zur Feststellung der Repräsentativität von Tarifverträgen im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs (RepTVVO) erlassen. Für den straßengebundenen ÖPNV wird darin allein der kommunale Spartentarifvertrag Nahverkehrsbetriebe (TV-N NW) als repräsentativer Tarifvertrag festgelegt. Tarifvertragsparteien des TV-N NW sind der kommunale Arbeitgeberverband NRW und die vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di).
Die Antragstellerin, ein privates Bus- und Schienenverkehrsunternehmen, rügte diese Vorgabe. Als privates Verkehrsunternehmen wende sie den für das private Omnibusgewerbe geltenden TV-NWO und nicht den für kommunale Verkehrsunternehmen geltenden TV-N NW an. Gegenüber diesen Unternehmen werde sie benachteiligt. Auch sei die RepTVVO von den einfachgesetzlichen Ermächtigungsnormen des TVgG wie der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie nicht gedeckt und deshalb nichtig. Es habe nicht nur der TV-N NW für repräsentativ erklärt werden dürfen, sondern auch der TV-NWO.
Den eingelegten Nachprüfungsantrag wies die VK Detmold mit Beschluss vom 06.08.2013 (Vergabeblog.de vom 01/09/2013, Nr. 16925) als unzulässig zurück. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte jedoch Erfolg.
Die Entscheidung
Das OLG Düsseldorf folgt der Rechtsauffassung der Antragstellerin. Die RepTVVO sei nichtig, da für den straßengebundenen Personenverkehr allein der TV-N NW für repräsentativ erklärt wurde. Deshalb durfte der Antragsgegner die entsprechende Tariftreueerklärung nicht fordern und dürfe dies auch weiterhin nicht, sofern vom zuständigen Ministerium keine rechtmäßige Verordnung erlassen wird. Mit diesem Ausspruch macht das OLG von seiner Normverwerfungskompetenz für untergesetzliche Normen (hier: Landesverordnung) Gebrauch. Begründet wird dies im Kern damit, dass das zuständige Arbeitsministerium nicht auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage entschieden hat, ob neben dem TV-N NW auch der TV-NWO für repräsentativ erklärt werden konnte. Dabei seien die herrschenden Marktverhältnisse im NRW-ÖPNV nicht umfänglich in die Entscheidung miteinbezogen worden. Bei der Festlegung des TV-N NW sei nämlich nicht erkannt worden, dass der TV-NWO nicht nur bei Anmietverkehren, sondern auch bei Ausschreibungen von Aufgabenträgern ohne eigenes Verkehrsunternehmen, große Relevanz besitzt. Schließlich seien sowohl der TV-NWO als auch der TV-N NW dazu geeignet, den Gesetzeszweck des TVgG-NRW, nämlich Vermeidung von Sozialdumping und Verdrängungswettbewerb aufgrund niedriger Löhne, zu erfüllen. Dies werde allein schon darin deutlich, dass die Entgelte des TV-NWO signifikant über dem vergabespezifischen Mindestlohn von aktuell 8,85 Euro liegen und der Abstand zwischen beiden Tarifverträgen weniger als einen Euro betrage. Da der Erlass der Verordnung (nur TV-N NW) aus diesen Gründen bereits nicht von der einfachgesetzlichen Verordnungsermächtigung des § 21 TVgG-NRW gedeckt sei, hatte der Senat mangels Entscheidungserheblichkeit keine Veranlassung, Verstöße gegen die verfassungsrechtliche Tarifautonomie zu prüfen.
Rechtliche Würdigung
Erstmals macht ein Vergabesenat von seiner Normverwerfungskompetenz für Verordnungen Gebrauch und hebelt so die vom nordrheinwestfälischen Gesetzgeber beabsichtigte Marktordnung für den ÖPNV aus. Der langerwartete Beschluss des OLG Düsseldorf beendet so die seit Inkrafttreten der ReptVVO geführte Kontroverse um die so genannte ÖPNV-Tariftreue nach § 4 Abs. 2 TVgG-NRW. Unabhängig davon, dass der Gerichtsbeschluss grundsätzlich nur zwischen den Streitbeteiligten Rechtskraft entfaltet, kommen die Wirkungen der Entscheidung einer allgemeinverbindlichen Nichtigerklärung der RepTVVO gleich. Dies folgt daraus, dass das OLG Düsseldorf alleinige Nachprüfungsinstanz für Entscheidungen der Vergabekammern in NRW ist. Die Anwendbarkeit der Verordnung dürfte damit faktisch ausgeschlossen sein.
Praxistipp
Auf Grundlage dieser Entscheidung erwarten wir, dass der Landesgesetzgeber die RepTVVO nachbessert, indem er neben dem TV-N NW auch den privaten TV NWO als repräsentativ vorgibt. Bis dahin muss die Vergabe von Busverkehrsleistungen nunmehr nicht mehr von der Abgabe einer Verpflichtungserklärung zum TV-N NW abhängig gemacht werden. Vielmehr dürfte die Einhaltung des vergabespezifischen Mindestlohnes von gegenwärtig 8,85 Euro ausreichend sein. Damit die Aufgabenträger des ÖPNV sich in dieser Frage weiterhin auf rechtssicherer Basis bewegen können, empfiehlt es sich die aktuellen Maßnahmen des zuständigen Ministeriums zu beobachten. Erfahrungsgemäß veröffentlicht die Landesregierung zeitnah hierzu eine sog. FAQ-Liste, in der sie Auftraggebern ihre Auslegung von relevanten Urteilen mitteilt.
Bekanntermaßen haben viele ÖPNV-Aufgabenträger Beschaffungsvorhaben bis zur endgültigen Entscheidung des OLG gebremst bzw. zurückgehalten. Um von der nunmehr gültigen Rechtslage profitieren zu können, empfiehlt es sich, möglichst zeitnah in die Vorbereitung und Durchführung von anstehenden Vergabeverfahren einzusteigen. Dies nichts zuletzt deshalb, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Landesgesetzgeber den Versuch unternimmt, die aktuelle ReptVVO nachzubessern.
Für interessierte Bieter gilt zudem, dass die Forderung nach einer Verpflichtung zur Beachtung des TV-N NW in allen laufenden und zukünftigen Vergabeverfahren einen Vergabeverstoß darstellt und daher unverzüglich gerügt werden sollte.
Die Autoren Bettina Werres und Sascha F. Schaefer sind Rechtsanwälte bei der PricewaterhouseCoopers Legal Rechtsanwaltsgesellschaft AG (PwC Legal). Beide sind spezialisiert in der Rechtsberatung rund um den Öffentlichen Personenverkehr (ÖPNV). Gegenstand ihrer Beratung sind sowohl Direktvergaben und wettbewerbliche Verfahren nach der VO (EG) 1370/2007 (Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste) als auch die Vergabe von öffentlichen Dienstleistungsaufträgen über öffentliche Personenverkehrsdienste mit Bussen und Straßenbahnen nach dem allgemeinen Vergaberecht (GWB, VgV, VOL/A, SektVO). Die Autoren gehören dem zehnköpfigen, in Düsseldorf angesiedelten Team "Verkehr" von PwC Legal an. Dieses berät in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg im Bereich Verkehr in allen rechtlichen, steuerlichen und strategischen Fragen.
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