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Bereichsausnahme Rettungsdienst: Erste Entscheidung bestätigt Wirksamkeit (VK Rheinland, Beschl. v. 19.08.2016 – VK D – 14/2016–L)

EntscheidungDer Anwendungsbereich der Bereichsausnahme aus § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB 2016 ist nicht auf den Katastrophen- und Zivilschutz beschränkt. Werden Leistungen des Rettungsdienstes an anerkannte Hilfsorganisationen übertragen, ist Vergaberecht nicht anwendbar. Ein Verstoß gegen Grundfreiheiten scheidet ebenso aus.

§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB 2016, § 110 Abs. 2 Nr. 1 GWB 2016, § 111 Abs. 3 Nr. 5 GWB 2016, § 130 GWB 2016, § 166 Abs. 1 S. 3 GWB 2016, §§ 64ff. VgV 2016; § 2 Abs. 1 RettG NRW, § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO; Art. 49 AEUV, Art. 56 AEUV

Sachverhalt

Die Klingenstadt Solingen benötigt Rettungsdienstleistungen (Notfallrettung und qualifizierter Krankentransport). Sie beruft sich dabei auf die neue Bereichsausnahme Rettungsdienst in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB 2016 und führt ein Auswahlverfahren außerhalb des Vergaberechts durch.Hiergegen geht das private Rettungsdienstunternehmen Falck vor (Antragsteller sind sowohl eine deutsche GmbH mit Sitz in Hamburg als auch die dänische Konzernmutter Falck A/S aus Kopenhagen). Beigeladen sind diverse anerkannte Hilfsorganisationen.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer verwirft den Nachprüfungsantrag.

Rechtliche Würdigung

Die erste Entscheidung zum neuen Ausnahmetatbestand ist im Markt mit Spannung erwartet worden. Die Bereichsausnahme Rettungsdienst ist Resultat einer umfangreichen Interessenvertretung der anerkannten Hilfsorganisationen auf europäischer und nationaler Ebene. Private Dienstleister wie das Unternehmen Falck (Konzernmutter in Dänemark) befürchten eine Verdrängung aus dem Markt. Rechtlich wirft sie eine Reihe von Fragen auf. Ist die Regelung konform mit dem europäischen Primärrecht (Grundfreiheiten im AEUV) bzw. mit dem Grundgesetz (Grundrechte, z.B. Art. 12 GG)? Wie ist die Regelung konkret auszulegen und welche Leistungen des Rettungsdienstes umfasst sie?

Die Vergabekammer Rheinland (Spruchkörper Düsseldorf) sieht die Tatbestandsvoraussetzungen des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB 2016 hier zumindest teilweise, in Bezug auf die Rettungsdienstleistungen erfüllt (II.1 des Beschlussumdruckes) und verwirft den Nachprüfungsantrag.

Sie bezieht sich auch auf die Definition des Rettungsdienstes im Landesrecht. § 2 Abs. 1 Rettungsgesetz Nordrhein-Westfalen (RettG NRW) sieht drei Elemente vor: die Notfallrettung, den Krankentransport sowie die Hilfeleistung für Verletzte und Kranke bei außergewöhnlichen Schadensereignissen. Die Notfallrettung sowie die Hilfeleistung für Verletzte und Kranke bei außergewöhnlichen Schadensereignissen subsumiert die Vergabekammer problemlos unter die Bereichsausnahme. Sie stützt sich dabei auf die in Richtlinie und GWB 2016 genannten CPV-Nummern.

Die Antragstellerinnen vertraten die These, die Bereichsausnahme beschränke sich auf Gefahrenabwehr in Extremsituationen. Dem tritt die Vergabekammer zu Recht entgegen, weil bei dieser Auslegung der Begriff Katastrophenschutz im Gesetzestext überflüssig wäre. Diese Betrachtungsweise erscheint deswegen richtig, weil Einsatzformationen des Katastrophenschutzes wie Schnelleinsatzgruppen und Einsatzeinheiten über lange Zeit vorgehalten und trainiert werden müssen. Sie können nicht im Katastrophenfall beschafft werden. Die Vergabekammer schreibt ohne die Notwendigkeit der alltäglichen Vorhaltung für den Katastrophenfall näher zu beleuchten: Der Wert der Tätigkeit der gemeinnützigen Organisationen ergibt sich gerade aus ihrem flächendeckenden Einsatz im Katastrophenschutz und in der alltäglichen Notfallrettung.

Spannend bleibt, ob der sogenannte qualifizierte Krankentransport von der Bereichsausnahme erfasst wird. Hier sind unterschiedliche Auslegungen von Gesetz und Richtlinie denkbar. Krankentransport wird national und auf europäischer Ebene unterschiedlich praktiziert: Es gibt vom unqualifizierten Krankentransport (Taxifahrten mit notfallmedizinisch nicht qualifiziertem Personal, auch als Liegendtaxi mit ausgemusterten KTW möglich) über den qualifizierten Krankentransport (in Deutschland normalerweise mindestens ein Rettungssanitäter und KTW [Krankentransportwagen mit notfallmedizinischer Grundausstattung]) bis hin zum qualifizierten Krankentransport mit einem Mehrzweckfahrzeug, welches wie ein RTW [Rettungswagen] ausgestattet ist, diverse Erscheinungsformen. Einerseits ist die Bereichsausnahme eng auszulegen, andererseits ist gerade der qualifizierte Krankentransport eine wichtige Ressource für Großeinsatzlagen und Katastrophen und daher ein wichtiges Element für professionelle präklinische Hilfe und damit Gefahrenabwehr bei zeitkritischen und lebensbedrohlichen Notfallsituationen, etwa beim Kreislaufstillstand.

Die Frage, ob der qualifizierte Krankentransport unter die Bereichsausnahme fällt, war im konkreten Fall nicht relevant und wurde von der Vergabekammer auch nicht entschieden: Die Leistungen der Notfallrettung überwogen im Wert die Leistungen des qualifizierten Krankentransportes. Maßgeblich ist insoweit § 110 Abs. 2 Nr. 1 GWB 2016. Nach dieser Vorschrift unterfallen öffentliche Aufträge, die sich teils auf Dienstleistungen beziehen, welche der Sonderregelung unterfallen, und teils auf nicht näher bestimmte andere Dienstleistungen, denjenigen Vorschriften, die für den Hauptgegenstand gelten. Nach einhelliger Auskunft der Verfahrensbeteiligten war Schwerpunkt des Auftrages die Notfallrettung; damit fiel der gesamte Auftrag unter die Bereichsausnahme.

Nach Ansicht der Antragsteller war § 111 Abs. 3 Nr. 5 GWB 2016 heranzuziehen: Nach dieser Vorschrift ist das GWB 2016-Vergaberecht anzuwenden, wenn ein Auftrag teils dem Vergaberecht unterfällt und teils sonstigen Vorschriften außerhalb dieses Teils unterfällt. Zu Recht weist die Vergabekammer auf die Materialien zu den Richtlinien und zur Gesetzgebung hin. Der Erwägungsgrund 28 zur Richtlinie 2014/24/EU besagt, dass gemischte Aufträge (reiner Krankentransport und Rettungsdienst) unter die Sonderregelung für den reinen Krankentransport fallen, wenn dessen Wert überwiegt. Auch die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 107 GWB 2016 bezieht sich hierauf (BT-Drs. 18/6281 S. 79). Insofern war ein Umkehrschluss zulässig: Gemischte Aufträge (Notfallrettung und Krankentransport) fallen unter die Bereichsausnahme, wenn die Notfallrettung wertmäßig überwiegt. Die Anwendung von § 111 Abs. 3 Nr. 5 GWB 2016 würde die Regelung der Bereichsausnahme sinnlos werden lassen.

Der qualifizierte Krankentransport fällt wenn man ihn nicht schon unter die Bereichsausnahme fasst unter die Sonderregelung für soziale und andere besondere Dienstleistungen (CPV-Nr. 75252000-7 gemäß Anhang 14 der Richtlinie 2014/24/EU: Rettungsdienstleistungen, soweit sie nicht nach Art. 10 Buchstabe h) ausgeschlossen sind). Die Sonderregelung ermöglicht ein vereinfachtes Ausschreibungsverfahren (§ 130 GWB 2016, §§ 64-66 VgV 2016), u.a. eine direkte Anwendung des Verhandlungsverfahrens mit Teilnahmewettbewerb.

Einen Verstoß gegen europäisches Primärrecht, namentlich die Dienstleistungs- und die Niederlassungsfreiheit (Art. 56, 49 AEUV) sowie das Diskriminierungsverbot, sieht die Vergabekammer nicht. Sie verweist auf die Rechtsprechung des EuGH, insbesondere auf die Entscheidungen vom 28.01.2016, C 50/14 [CASTA] und vom 11.12.2014, C·113/13 [Spezzino]. Die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sind demnach dahingehend auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung zur Bereichsausnahme (die auf die entsprechende EU-Richtlinie des EU-Gesetzgebers zurückzuführen ist), nicht entgegenstehen, soweit der rechtliche Rahmen der Vergabe zugunsten der anerkannten Hilfsorganisationen tatsächlich zu dem sozialen Zweck und zu den Zielen der Solidarität und der Haushaltseffizienz beiträgt. Dem liegt zugrunde, dass die vom AEUV geschützten Güter und Interessen, nämlich Gesundheit und das Leben von Menschen, den höchsten Rang einnehmen. Mit der nunmehr vorliegenden Bereichsausnahme spricht sich der Gesetzgeber dafür aus, den Schutz der nationalen Strukturen im Bevölkerungsschutz, welcher sich maßgeblich auf das ehrenamtliche Engagement der Hilfsorganisationen zurückführen lässt, aufzuwerten.

Die beigeladenen anerkannten Hilfsorganisationen allgemein und die geschlossenen Verträge im konkreten Fall erfüllten die voranstehenden Tatbestandsvoraussetzungen, die der EuGH aufgestellt habe. Der soziale Zweck dieser Bevorzugung und das Ziel der Haushaltseffizienz seien gewahrt.
Die Vergabekammer bejaht auch ohne weiteres, dass die beteiligten Hilfsorganisationen gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB sind. Sie verweist auf die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/6281, S. 79) und das Beispiel in § 26 Abs. 1 S. 2 ZSKG. Die Definition richte sich unproblematisch nach nationalem Recht, weil EU-Recht diese Organisationen nicht definiere. Art. 77 Abs. 2 der RiLi 2014/24/EU tauge hierfür nicht, u.a. weil er sich auf einen völlig anderen Regelungszusammenhang beziehe.

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Praxistipp

Mit Spannung wird erwartet, wie sich der bereits angerufene Vergabesenat des OLG Düsseldorf positioniert. Eine Entscheidung wird im ersten Quartal 2017 erwartet. Bei nicht aufschiebbaren Beauftragungen kann ein Auftraggeber durchaus erwägen, ob er sich auf die Bereichsausnahme beruft. Dabei sollte eine ordentliche Vergabedokumentation erstellt werden. Auch eine maßgeschneiderte Vergabe im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb ist nun unproblematisch über die Sonderregelung möglich.

Die Bereichsausnahme Rettungsdienst wird jedenfalls Streitigkeiten nicht vermeiden können. Dieser Streit wird sich wie in den Konzessionsländern bislang auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit verlagern, wenn Vergabekammern und Vergabesenate mangels abdrängender Verweisung in § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO nicht mehr zuständig sind. Rettungsdienstbeauftragungen sind aufgrund des öffentlich-rechtlichen Charakters normalerweise dem Verwaltungsrechtsweg zugewiesen.

Ob auch im steuerrechtlichen Sinne gemeinnützige Unternehmen von Privaten Rettungsdienstleistern unter den Schutz der Bereichsausnahme fallen können, bleibt abzuwarten.

Der Autor ist Bevollmächtigter eines Verfahrensbeteiligten.

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Über René Kieselmann

René M. Kieselmann ist Rechtsanwalt und verantwortet als Partner der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte das Dezernat Vergaberecht. Er berät zusammen mit seinem Team bundesweit vor allem die öffentliche Hand, aber auch Bieter. Schwerpunkte sind u.a. IT-Vergaben und Rettungsdienst/Bevölkerungsschutz. Er ist Mitglied der Regionalgruppe Berlin/Brandenburg des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW)

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