Vergleichsverträge zur Behebung schwerer Störungen des Vertragsverhältnisses unterliegen den gleichen Grenzen für Auftragsänderungen wie alle anderen öffentlichen Aufträge. Ein Vergleichsvertrag zur Behebung einer schweren Störung des Vertragsverhältnisses kann eine unzulässige wesentliche Auftragsänderung darstellen und somit zur Neuausschreibung verpflichten.
§ 132 GWB
Leitsatz
Art. 2 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge ist dahin auszulegen, dass ein öffentlicher Auftrag nach seiner Vergabe nicht wesentlich geändert werden darf, ohne dass ein neues Vergabeverfahren eröffnet wird, selbst wenn die betreffende Änderung objektiv eine Vergleichsvereinbarung darstellt, die von Seiten beider Parteien wechselseitige Zugeständnisse beinhaltet und dazu dient, einen Streit mit ungewissem Ausgang beizulegen, der aus einer Störung des Vertragsverhältnisses entstanden ist. Etwas anderes kann nur gelten, wenn die Auftragsunterlagen sowohl die Befugnis vorsehen, bestimmte, selbst wichtige Bedingungen nach der Auftragsvergabe anzupassen, als auch die Modalitäten regeln, nach denen von dieser Befugnis Gebrauch gemacht wird.
Sachverhalt
Der in Dänemark spielende Fall betrifft einen großvolumigen Auftrag zur Lieferung und Wartung eines Kommunikationssystems für Notfalldienste, u.a. Polizeieinheiten. Im Zuge der Auslieferung kam es zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer zu erheblichen Problemen, für die sich beide Parteien gegenseitig die Schuld zuwiesen. Der Vertrag konnte daher nicht wie vorgesehen erfüllt werden. Zur Beilegung der Streitigkeiten schlossen die Parteien eine Vergleichsvereinbarung, in der beide Seiten erhebliche Zugeständnisse machten, um unverhältnismäßige Verlustrisiken auf beiden Seiten zu vermeiden. Gegen diesen Vergleich klagte ein Konkurrent, der bei der ursprünglichen Ausschreibung nicht zum Zug gekommen war. Das Oberste dänische Gericht legte den Fall schließlich dem EuGH vor. Die Vorlagefrage zielte darauf ab, ob auch dann eine neue Ausschreibung erfolgen müsse, wenn eine schwere Störung des Vertragsverhältnisses vorliege, zu deren Behebung ein Vergleich geschlossen werde.
Die Entscheidung
Der EuGH hat eine Pflicht zur Neuausschreibung bejaht. Es könne keine Rolle spielen, ob die wesentliche Änderung eines Auftrags auf dem gezielten Willen der Parteien beruhe oder der Überwindung von objektiven Schwierigkeiten diene, die bei der Durchführung des Auftrags aufgetreten sind, selbst wenn es sich um ein Vorhaben mit grundsätzlich unsicherem Charakter handele. Der Gleichbehandlungsgrundsatz, der dem Schutz der anderen potenziell am Auftrag interessierten Unternehmen wiege hier schwerer (Rdn. 32). Dies gelte auch dann, wenn die Schwierigkeiten auf Gründe zurückzuführen sind, auf die die Parteien überhaupt keinen Einfluss haben (Rdn. 34).
Es sei vielmehr Sache des Auftraggebers, den Auftragsgegenstand bei mit Unsicherheiten behafteten Aufträgen im Vergabeverfahren umsichtig zu bestimmen (Rdn. 36). Überdies könne er sich die Möglichkeit vorbehalten, nach Vertragsschluss selbst wesentliche Änderungen vorzunehmen, wenn er in den Auftragsbedingungen die Modalitäten dafür festlegt (Rdn. 37).
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung des EuGH ist streng aber wenig überraschend. Die Fälle, in denen eine Ausschreibung ausnahmsweise unterbleiben darf, sind nach der überzeugenden Auffassung des Gerichtshofs in den Richtlinien abschließend geregelt. Für weitergehende Ausnahmen vom Vergaberecht ist kein Platz, zumal sonst ein hohes Risiko für Umgehungsgeschäfte entstehen würde.
Auch wenn der Fall nach altem Recht zu entscheiden war, dürfte das Urteil auf Vertragsänderungen nach der Vergabereform 2016 gleichermaßen anwendbar sein. Das Gesetz enthält in § 132 GWB für den Oberschwellenbereich nunmehr eine abschließende Aufzählung von Fallgestaltungen, in denen eine Auftragsänderung ohne Ausschreibung zulässig ist. Im Unterschwellenbereich soll im Rahmen der UVgO künftig die identische Rechtslage gelten. Den Fall einer schweren Störung des Vertragsverhältnisses kennen diese Vorschriften nicht.
Für den deutschen Rechtskreis sind die Auswirkungen der Entscheidung des EuGH durchaus erheblich, da nunmehr feststehen dürfte, dass auch Vertragsänderungen, die zivilrechtlich unter Anwendung der Regeln etwa über die sog. Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) vorgenommen werden, eine Pflicht zur Neuausschreibung auslösen können. Eine Ausschreibung kann nur dann unterbleiben, wenn die Störung der Geschäftsgrundlage zugleich einen in § 132 GWB geregelten Ausnahmetatbestand erfüllt. Nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB sind z.B. Änderungen ohne Ausschreibung möglich, wenn diese auf unvorhersehbaren Umständen beruhen. Die Regelung dürfte aber häufig deshalb nicht zur Anwendung gelangen, weil viele Umstände bei Anwendung der im Verkehr üblichen Sorgfalt doch vorhersehbar gewesen wären.
Praxistipp
Ändern sich die Grundlagen einer Ausschreibung wesentlich, so entsteht häufig Streit zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer über die Vertragsdurchführung. Das Vergaberecht kennt hier aber leider kein Erbarmen. Auftraggeber sollten daher viel Wert darauf legen, solche Situationen so gut wie möglich zu antizipieren und im Vertragsentwurf entsprechende Änderungsmechanismen zu verankern, mit denen auf etwaige Störungen reagiert werden kann. Nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 GWB müssen solche Klauseln aber sehr exakt formuliert sein und auch klare Angaben zu Art, Umfang und Voraussetzungen von Anpassungen enthalten. Das stellen hohe Ansprüche an die Vertragsgestaltung dar.
Dr. Michael Sitsen ist Rechtsanwalt bei Orth Kluth Rechtsanwälte in Düsseldorf und Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Er berät und begleitet seit vielen Jahren Auftraggeber und Bieter bei Ausschreibungen aller Art. Neben dem Vergaberecht gehört auch das Beihilfenrecht zu seinen Beratungsschwerpunkten. Er hält Schulungen zum Vergaberecht, u.a. für den Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME), und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen. Vor seiner anwaltlichen Tätigkeit war er mehrere Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter des bekannten Vergaberechtlers Prof. Dr. Jost Pietzcker in Bonn.
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