Der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf ist das für den Sitz der Vergabekammern des Bundes zuständige Beschwerdegericht. Marco Junk vom Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) sprach mit Heinz-Peter Dicks, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht, Vorsitzender des Vergabesenats und des 2. Kartellsenats des OLG Düsseldorf, unter anderem über die jüngste Vergaberechtsreform 2016 und die geplante Novellierung des Unterschwellenvergaberechts (UVgO), über Schulnoten und Hans Brox im Vergaberecht sowie über den Fachanwalt für Vergaberecht und mangelhafte Leistungsbeschreibungen.
Lieber Herr Dicks, im Jahr 2011 waren Sie schon einmal unser Gast im Vergabeblog-Interview. Seitdem ist viel passiert, im Vergaberecht, aber sicher auch ganz persönlich. Was verbinden Sie mit den zurückliegenden Jahren?
Dicks: Was im Vergaberecht in den letzten Jahren rechtlich geschehen ist, wissen wir. Mir persönlich ist widerfahren, dass mich 2010 eine aufwendige Operation für längere Zeit dienstunfähig gemacht hat. Dies hat Eindruck und Erkenntnisse bewirkt. Auch Ihr Interview im Jahr 2011 [nachzulesen hier, Anm. d. Red.] hat mir nach meiner Rekonvaleszenz sprichwörtlich wieder „auf die Beine geholfen“. Seither versuche ich, mir mehr Gelassenheit zu verschreiben und den Senat weiterhin mit liebenswerten und klugen Kolleginnen und Kollegen auch für die Zeit nach meinem Eintritt in den Ruhestand im März 2018 besetzt zu halten. Genauso verbinde ich mit den vergangenen Jahren die Hoffnung, unter meiner Mitwirkung im Senat nicht allzu viele „Leichen in den Keller“ des OLG Düsseldorf gelegt zu haben, wobei wir wissen: Alle, und zwar ausnahmslos auch wir, „kochen nur mit Wasser“.
Nun erleben wir aktuell nach der großen Vergaberechtsreform von 2009 die nächste Reform, und dieses Mal geht es auch der Systematik an den Kragen, jedenfalls ein wenig. Nach wie vor sind wir weit weg von so etwas wie einem einheitlichen Vergaberechtsbuch. Mutige Reform oder Reförmchen?
Dicks: Die Vorbereitung und Durchführung der Vergaberechtsreform 2016 in Deutschland ist eine hoch anzuerkennende kollegiale Leistung des Referats von Herrn Ministerialrat Dr. Solbach im BMWi und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie verdient vor allem auch wegen des gelungenen Zeitmanagements höchsten Respekt. Es ist eine mutvolle Reform und kein „Reförmchen“, zumal die Vergabeverordnung auf der untersten Stufe der Kaskade die VOL/A hat wegfallen lassen. Die EU-Vorgaben sind in der Regel 1:1 umgesetzt worden. Daran kann es Einzelkritiken geben, die die Gesamtleistung aber nicht schmälern.
Was glauben Sie, warum einige Kräfte, namentlich im Baubereich, so verzweifelt an „ihrem“ Vergaberecht hängen? Das Totschlagargument „in der Praxis bewährt“ überzeugt doch angesichts der Vielzahl an Einzelfallrechtsprechung nicht.
Dicks: Bauauftragsvergaben sind im neuen Vergaberecht in Gestalt der VOB/A-EU in der Tat eine Sondersituation. Anfangs habe ich dies schlecht gefunden und eine Abschaffung der VOB/A vorgezogen. Doch ist zu notieren, dass die VOB/A-EU öffentlichen Auftraggebern nahezu alle Handlungsdirektiven an die Hand gibt, Bauvergaben fehlerfrei mit einem Zuschlag abzuschließen. Dies ist bei Dienstleistungs- und Lieferaufträgen oberhalb des Schwellenwerts anders. Dabei müssen nicht juristisch ausgebildete Praktiker – und dies ist der Regelfall – sowohl die neue Vergabeverordnung als auch Vorschriften des GWB gleichzeitig auf dem Schreibtisch liegen haben, dies wegen zahlreicher Verweisungen. Von daher sind Bauvergaben für den Auftraggeber einfacher und rechtssicherer zu handhaben und bin ich vorsichtig dabei, die VOB/A-EU zu verwerfen.
Wurden Sie bzw. KollegInnen der Rechtsprechung eigentlich im Zuge der aktuellen Reform um Stellungnahme gebeten? Falls ja, was waren Ihre wichtigsten Anliegen, falls nein, was wären sie gewesen?
Dicks: Das BMWi in Gestalt des zuständigen Referats hat sich bei der Umsetzung des neuen EU-Rechts rund ein halbes Dutzend Mal der Aussprachemöglichkeiten mit einem sogenannten Expertengremium bedient, dem Universitätsprofessoren, Angehörige öffentlicher Auftraggeber, der Anwaltschaft sowie der Vergabenachprüfungsinstanzen, namentlich Richter, unter anderem meine Person, angehört haben. Mein wichtigstes Anliegen ist gewesen, der EU-Rechtsreform unter Beachtung der Rechtssetzungsregeln zu einer Eins-zu-eins-Umsetzung in das nationale Recht zu verhelfen. Dies ist jedenfalls im Wesentlichen geglückt.
Kommen wir zur Gegenwart: Das BMWi hatte seinen Diskussionsentwurf zur Unterschwellenvergabeordnung „UVgO“ veröffentlicht. Allein der Blick in § 2 des Entwurfs zeigt, dass auch im Unterschwellenbereich die Grundsätze des Wettbewerbs, der Transparenz, Nichtdiskriminierung, Gleichbehandlung und Verhältnismäßigkeit, wie wir sie aus dem Oberschwellenbereich kennen, gelten. Wesentlicher Unterschied zu § 2 VOL/A ist der Wegfall des Zusatzes „in der Regel“. Erfolgt damit eine Angleichung des Ober- und Unterschwellenbereichs, wie er der bisherigen Rechtsprechung wohl zu entnehmen ist?
Dicks: Ihre Beobachtung ist richtig: § 2 Abs. 1 Diskussionsentwurf zur UVgO spricht sich für die Vergabeprinzipien Wettbewerb, Transparenz, Wirtschaftlichkeit und Verhältnismäßigkeit auch unterhalb des Auftragsschwellenwerts aus. Abs. 2 von § 2 regelt die Gleichbehandlung.
Demgegenüber hat § 2 Abs. 1 Satz 1 VOL/A, 1. Abschnitt von Wettbewerb und Transparenz lediglich „in der Regel“ gesprochen, hat diese Einschränkung beim Gleichbehandlungsgebot (Diskriminierungsverbot, § 2 Abs. 1 Satz 2 VOL/A, 1. Abschnitt) aber nicht wiederholt. Die Erläuterungen zur VOL/A geben keinen Aufschluss darüber, was sich der Verdingungsausschuss mit der Aufnahme der Einschränkung „in der Regel“ bei den Grundsätzen von Wettbewerb und Transparenz gedacht hat. Das Gleichbehandlungsgebot hat er jedenfalls mit keiner solchen Einschränkung versehen.
Meiner Meinung nach sollte man das frühere „in der Regel“ darum nicht überbewerten. Es bedeutet ja: Grundsätzlich, im Prinzip haben Wettbewerbs- und Transparenzgebot zu gelten. Nur in wohlbegründeten Ausnahmefällen darf davon abgesehen werden. Bei den Ausnahmefällen hat der Verdingungsausschuss möglicherweise an die freihändige Vergabe gedacht, unter anderem beispielsweise an § 3 Abs. 5 Buchst. g und l VOL/A, 1. Abschnitt – besondere Dringlichkeit oder für die Leistung kommt aus besonderen Gründen nur ein Unternehmen in Betracht.
Mit dem Wegfall des In-der-Regel-Zusatzes im Diskussionsentwurf zur UVgO wird nach meinem Erachten zu Recht angestrebt, bei den vergaberechtlichen Prinzipien die Unterschwellenwertvergaben an die GWB-Vergaben anzugleichen.
Unabhängig davon: Öffentliche Auftraggeber oder Vertreter, die oberhalb und unterhalb des Auftragsschwellenwerts – abgesehen vielleicht von Wertgrenzen für die verschiedenen Verfahren – unterschiedliche Vergabeverfahren predigen und anwenden, haben „den Schuss nicht gehört“. Sie haben entweder aktuelle unternehmens- und personalpolitische Erkenntnisse nicht registriert oder die gebotenen Schlussfolgerungen daraus nicht gezogen und sind „von gestern“. Deswegen irritiert mich, ehrlich gesagt, ein wenig noch die Entscheidung des X. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 10.05.2016 (X ZR 66/15) [Besprechung im Vergabeblog nachzulesen hier, Anm. d. Red.].
Im Juli lag dem EuGH in der Rechtssache „TNS Dimarso“ (Urteil v. 14.07.2016 – C-6/15) eine Bewertungsmatrix zur Überprüfung vor, die eine Abstufung zwischen „hoch“, „ausreichend“ und „niedrig“ vorsah [Besprechung im Vergabeblog nachzulesen hier, Anm. d. Red.]. Ein System, dass wohl von deutschen Nachprüfungsinstanzen als intransparent bewertet werden würde. Die hohen Transparenzanforderungen, die vom Vergabesenat des OLG Düsseldorf aufgestellt wurden und bereits von anderen Vergabesenaten bestätigt wurden, wurden weder vom Generalanwalt noch vom Gerichtshof in Erwägung gezogen. Letzterer sprach aus, dass der öffentliche Auftraggeber nicht verpflichtet ist, den Bietern seine Bewertungsmethode zur Kenntnis zu bringen. Wird das die derzeitige Rechtsprechung der deutschen Nachprüfungsinstanzen beeinflussen?
Dicks: Gewiss, aber in dem Sinn, dass wir insbesondere die sogenannte Schulnotenrechtsprechung inzwischen auf ihre Übereinstimmung mit dem Dimarso-Urteil im Senat grundlegend überdacht, geordnet und darüber im November 2016 einen Meinungsaustausch mit anderen Vergabesenaten gehabt haben, der den Senat in seiner Ansicht im Ergebnis und in der Begründung bestärkt hat. Es gibt zu dem Problemkreis inzwischen auch mehrere bestätigende Entscheidungen anderer Vergabesenate – unter anderem OLG Celle NZBau 2016, 381, 384; OLG Frankfurt am Main VergabeR 2016, 768; OLG Dresden 26.1.2016 – Verg 1/16. Literarische und sonstige Kritiken sind bislang polemisch, in der Auseinandersetzungstiefe ausgesprochen seicht zu nennen und aus unserer Sicht vernachlässigbar. Das ergibt vice versa die Gefahr von Rechtsanwaltshaftung. Die sog. Schulnotenrechtsprechung stimmt mit EuGH-Dimarso überein.
Die rechtsgenaue Ableitung der Rechtsprechung, auch die Übereinstimmung mit dem EuGH, sprengt den Rahmen dieses Interviews. Sie kann vielleicht ein Thema für einen kommenden Vergabetag des DVNW sein. An dieser Stelle darum nur so viel: Die funktionale Ausschreibung ist durch die sog. Schulnotenrechtsprechung nicht „tot“. Auch müssen Bieter die ihrem Angebot zuzuteilenden Wertungspunkte bei der Angebotsvorbereitung nicht ausrechnen können.
Hans Brox, den alle Juristen wegen seines „Allgemeiner Teil des BGB“ kennen, hat einmal gesagt, das Recht sei für das Volk da, weshalb es nach Möglichkeit von diesem verstanden werden sollte. Übertragen auf das Vergaberecht sind das die Rechtsanwender, also Beschaffer, die angesichts derart vieler Nuancen oft überfordert sind, vermutlich gäbe es sonst auch den Vergabeblog nicht. Wie sollte dem aus Ihrer Sicht begegnet werden?
Dicks: Die Antwort ist: Im Vergaberecht – wie auch sonst – muss mit dem „inneren Kompass“ gehandelt werden, das heißt, mit einem grundlegenden Gespür für Gleichbehandlung und Transparenz und vor allem dafür, was „geht“ und was nicht. Transparenz ist sowieso das wichtigste Prinzip in Vergabeverfahren. Manche Zeitgenossen haben ein Gefühl dafür, andere – Technokraten – eher nicht. Das ist vollkommen unabhängig davon, ob der Betreffende Jura studiert hat oder nicht. In Senatsterminen haben wir hoch respektable Erläuterungen durch Amtfrauen und Amtmänner gehört. Der Vergabe-Praktiker, der den „inneren Kompass“ hat, muss sich freilich auch durchzusetzen verstehen.
Um beim Thema zu bleiben: Nun gibt es den „Fachanwalt für Vergaberecht“, über dessen Notwendigkeit in der eigenen Zunft gestritten wurde. Glauben Sie, dass sich dadurch etwas verbessert?
Dicks: Ich befürworte den Fachanwalt für Vergaberecht. Dies eröffnet jüngeren Kolleginnen und Kollegen in der Anwaltschaft Berufschancen. Ob sie im Einzelfall die erforderlichen Fallzahlen erreichen, kann fraglich sein. Dies kann möglicherweise nur in größeren Kanzleien gelingen. Trotzdem sind bei uns auch „Außenseiter“ willkommen, immer wieder erfolgreich und geschätzt, weil sie zumeist keinen „Schrotschuss“ anbringen, sondern gezielt dasjenige, was Bieter im Einzelfall genau stört. Der Fachanwalt für Vergaberecht wird demnach wohl keine materiellen Verbesserungen im Vergaberechtsschutz hervorbringen, allenfalls zusätzliche Nachprüfungsverfahren.
Am 6. Oktober wirkten Sie bei unserem 3. Deutschen Vergabetag in Berlin mit. Thema Ihres Vortrags war „Das vergessene Problem: Die mangelhafte Leistungsbeschreibung“. Wieso haben sie sich gerade dafür entschieden?
Dicks: In den Jahren 2008 und 2009 habe ich zu diesem Thema mit dem Vorsitzenden-Kollegen Herrn Keldungs aus einem Bausenat des OLG Düsseldorf Vorträge gehalten und eine Abhandlung bei IBR geschrieben. Danach ist das Thema in der Versenkung verschwunden.
Nach und nach ist mir die nach wie vor bestehende Aktualität dieses Themas durch Gespräche mit Rechtsanwälten und Vertretern von Bieterunternehmen bewusst geworden. Die Leistungsbeschreibung, insbesondere das Leistungsverzeichnis, ist eine exorbitant wichtige Schnittstelle zwischen dem Vergaberecht und dem Baurecht. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Leistungsverzeichnisses, die Vollständigkeit und das rechtliche Verständnis – sind technische, baurechtliche und vergaberechtliche Auffassungen etwa verschieden? – haben einen enormen Einfluss auf spätere Nachtragsforderungen des Auftragnehmers, die bekanntermaßen in den Tatsacheninstanzen schwierige, langwierige und bisweilen kaum mehr entscheidbare Prozesse hervorbringen, und auf Bauverzögerungen und ‑verteuerungen. Mir ist daran gelegen gewesen, die Zusammenhänge aufzuzeigen und im Rahmen der Möglichkeiten eines kurzen Referats Problemlösungen, jedenfalls die Richtung, aufzuzeigen.
Abschließend eine hypothetische Frage: Gäbe es das Vergaberecht nicht, welches Rechtsgebiet würden Sie sich zur Betätigung aussuchen, und warum?
Dicks: Wenn ich die Wahl hätte: Das zivile Baurecht, mit dem ich im 5. Zivilsenat, dem ältesten Bausenat des OLG Düsseldorf, gewissermaßen aufgewachsen und nach wie vor verwachsen bin. Erst nach meiner Tätigkeit im Bausenat bin ich in den Senat für gewerblichen Rechtsschutz und in den Kartellsenat eingetreten, der später auch Vergabesenat geworden ist. Am Baurecht haben mich die technischen und die rechtlichen Zusammenhänge, die Praxisnähe und die faktischen Überraschungen fasziniert. Im Bausenat haben wir – auch als Berichterstatter – deshalb oftmals Ortsbesichtigungen mit oder ohne Sachverständige vorgenommen, um den Sachverhalt an Ort und Stelle zu klären. Die dadurch mögliche Tatsachen- und Rechtsnähe hat mich interessiert. Sie hat lebensnahe Entscheidungen und häufig auch Einigungen der Parteien ermöglicht.
Vielen Dank für das interessante Interview, Herr Dicks!
Heinz-Peter Dicks, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bonn. Er war Zivil- und Strafrichter am Landgericht Kleve und am Amtsgericht Emmerich und ist seit 1993 Richter am OLG Düsseldorf. Seit 2004 ist Dicks Vorsitzender des Vergabesenats und des 2. Kartellsenat des OLG Düsseldorf.
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