Nicht erst mit der Vergaberechtsmodernisierung im Jahr 2016 wurde durch die Nachprüfungsinstanzen die Aufstellung und Bewertung konzeptioneller Kriterien im Vergabeverfahren aufgegriffen. Gerade im Lichte der in der Veröffentlichung oder in den Vergabeunterlagen transparent gemachten Bewertungskriterien, deren Unterkriterien und dem Erwartungshorizont folgten vielerlei, im Ergebnis teils divergente Beschlüsse. Aktuell können Vergaberechtspraktiker innerhalb der Beschlüsse der Nachprüfungsinstanzen nachlesen, wie konzeptionelle Lösungen von Bietern nicht gefordert werden können, gleichwohl wurden keine Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt.
Gemäß § 127 Abs. 1 GWB ist der Zuschlag auf das Angebot mit dem besten Preis- Leistungsverhältnis zu erteilen. Dabei ist der öffentliche Auftraggeber verpflichtet die Leistung jedes Bieters transparent zu ermitteln, indem vorab Zuschlagskriterien und deren Gewichtung bekannt gemacht werden, an welche sich der Auftraggeber bei seiner Auswertung selbst bindet.
Bereits vor über einem Jahr bekräftigte das OLG Düsseldorf seine hohen Transparenzanforderungen an eine Bewertungsmatrix (Beschl. v. 16.12.2015 – VII-Verg 25/15). Seither stellte sich für nahezu alle öffentlichen Auftraggeber die Frage, wie konzeptionelle Beschreibungen im Rahmen von Vergabeverfahren von Bietern gefordert werden können. Das Damoklesschwert einer intransparenten Bewertung scheint über eine Vielzahl dieser Vergaben zu schweben.
Insbesondere im IT-Bereich werden von den Bietern innovative Lösungen erwartet, damit diese sich an die speziellen Anforderungen der Auftraggeber anpassen. Für Auftraggeber besteht dahingehend der Wunsch, dass nicht nur technische Neuerungen, sondern auch prozessorientierte Innovationen bei einer Vergabe abgeschöpft werden. Dieser Kontext stellt die Auftraggeber, speziell bei einem heterogenen Markt, vor eine enorme Herausforderung. Aus diesem Grund kann, gerade bei IT-Vergaben, gemäß § 31 Abs. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 VgV zumeist nur eine funktionale Leistungsbeschreibung genutzt werden. Dabei wird nicht die technische Umsetzung, sondern die zu lösende Aufgabe anhand von zuvor definierten Mindestanforderungen, beschrieben.
Linderung erhoffte man sich in diesem Zusammenhang durch das Urteil des EuGH zu „TNS Dimarso“ (Urt. v. 14.07.2016 – C-6/15, “TNS Dimarso”). Demnach ist ein Auftraggeber nicht verpflichtet den potenziellen Bietern vorab die detaillierte Bewertungsmethodik bekannt zu machen. Allerdings darf dies nicht zu einer (nachträglichen) Änderung von Zuschlagskriterien oder deren Gewichtung führen. Gleichwohl verstößt eine strengere nationale Rechtsprechung nicht gegen Europarecht. Vergabepraktiker erhofften sich, aufgrund dieses Leitsatzes, eine Rechtsprechung, welche vermehrt dem EuGH folgt.
Am 02.11.2016 erließ das OLG Düsseldorf (Beschl. v. 02.11.2016 – VII-Verg 25/16) neuerlich einen Beschluss zu den Transparenzanforderungen von Bewertungskriterien, wobei das OLG die in dieser Vergabe veröffentlichten Zuschlagskriterien mit dessen Erfüllungsgrad als „gelungen“ beurteilt hat.
In diesem Lichte ist auch der darauffolgende Beschluss der VK Südbayern (Beschl. v. 21.11.2016 – 37-09/16) zu betrachten. Demzufolge muss auch bei Kriterien, welche auf Bieterseite Konzepte zulassen sollen, der Erwartungshorizont so klar formuliert sein, dass dem Auftraggeber keine uneingeschränkte Wahlfreiheit bei der Wertung dieser Kriterien obliegt.
„Demnach müssen die Öffentlichen Auftraggeber die Bewertungsmaßstäbe so genau und objektiv angeben, dass sich im Vorhinein bestimmen lässt, „welchen Erfüllungsgrad die Angebote auf Grundlage des Kriterienkatalogs und konkreter Kriterien ausweisen müssen, um mit den festgelegten Kriterien bewertet zu werden“, und das Bewertungssystem darf keinen „Raum für Manipulation und Willkür bei der Bewertung der Angebote“ lassen. Für die Bieter muss zu erkennen sein, „unter welchen Voraussetzungen konkret“ ein Kriterium mit wie vielen Punkten gewertet wird. Sie müssen „im Vorhinein beurteilen können, auf welche konkreten Leistungen die [Auftraggeberin] besonderen und gegebenenfalls unverzichtbaren Wert gelegt hat.“[1]
Diese Transparenzforderung der VK Südbayern geht über die Leitsätze des OLG Düsseldorf hinaus und stellt für öffentliche Auftraggeber eine zusätzliche Erschwernis dar Innovationen im Vergabeverfahren im Rahmen von konzeptionellen Bewertungskriterien zu erfragen und abzugreifen.
In unmittelbarer Konkurrenz zu diesen Urteilen ist u.a. der Beschluss des OLG Frankfurt (Beschl. v. 23.11.2016 – 11 Verg 4/16). Demnach müssen Kriterien durch öffentliche Auftraggeber nicht bis ins letzte Detail aufgeschlüsselt werden. Vielmehr muss für den Bieter nur erkenntlich sein, auf welche Eckpunkte ein Auftraggeber besonderen Wert legt.
Auf Grund der Vielzahl von Nachprüfungsentscheidungen zu dieser Thematik, wobei die Auflistung in diesem Artikel nicht abschließend zu verstehen ist, bleibt die zentrale Frage bestehen, ob überhaupt noch konzeptionelle Kriterien erstellt werden können, und wenn ja, in welchen Umfang der Erwartungshorizont bekanntgegeben werden muss.
Eine erste Möglichkeit besteht darin, vollständig auf konzeptionelle Bewertungskriterien zu verzichten. Dies erfordert jedoch, dass die öffentlichen Auftraggeber künftig einen noch detaillierteren Fokus auf eine umfangreiche Markterkundung legen, bei der zum Beispiel im Bereich der Vergabe von IT, analysiert wird, welche Neuerungen einem Auftraggeber zur Verfügung gestellt werden können und ob diese das künftige Vergabeverfahren tangieren.
Im Weiteren müssen die Anforderungen und der Erwartungshorizont zu den einzelnen Kriterien detailliert und abschließend vorab beschrieben sowie veröffentlicht werden, damit keinerlei Möglichkeit für eine, wie auch immer geartete, (nachträgliche) Einflussnahme eines Auftraggebers besteht.
Dementsprechend muss, wie bei einer Matrjoschka[2], jede Anforderung in ihre Einzelanforderungen divergiert werden, damit durch die Bieter vorab ersichtlich wird, welche Punkte sie für welches Kriterium erhalten werden.
Folgt man der dargestellten Rechtssprechung begrenzt sich die Auswahlmöglichkeit mithin auf nachfolgende Kriterientypen. Die Definition der Bewertungs- und Gewichtungspunkte erfolgte lt. Kapitel 4.18ff UfAB VI, Version 1.0. Die Skala der Bewertungspunkte reicht innerhalb der Kritierntypen von 0 bis 5 möglichen Punkten.
1. Bewertungskriterien, die mit „JA“ oder „NEIN“ beantwortet werden können
Durch den Auftraggeber muss die Fragestellung so formuliert werden, dass durch den Bieter die Frage abschließend und eindeutig mit „JA“ oder „NEIN“ beantwortet werden kann.
2. Kumulative Bewertungskriterien
Durch den Auftraggeber wird die Aufgabenstellung funktional beschrieben. Die dargestellte Aufgabe kann durch verschiedenartige Lösungsansätze, welche dem Auftraggeber vorab vollumfänglich bekannt sein müssen, erbracht werden. Dabei ist jede der denkbaren Lösungsansätze für den Auftraggeber nutzbar, sodass für jede Lösung eine positive Bewertung erfolgt. Somit kann durch einen Bieter eine oder sogar mehrere Lösungen bestätigt werden. Sofern durch einen Bieter mehrere Lösungsansätze angeboten werden, kann er bei dem Kriterium mehr Bewertungspunkte erzielen. Die verschiedenen Lösungen, welche durch den Bieter angeboten wurden, sind nach der Zuschlagserteilung bereitzustellen.
3. Entweder-Oder-Kriterien
Durch den Auftraggeber wird, wie bereits bei der zweiten Alternative vorgestellt, eine Aufgabenstellung funktional beschrieben. Gleichwohl existieren mehrere Lösungen, welche für den Auftraggeber den gleichen Nutzen haben. Durch einen Bieter kann daher eine Lösung bestätigt werden, wobei alle Lösungen die gleiche Bewertung erhalten.
4. Abschichtende Bewertungskriterien
Auch hier erfolgt eine funktionale Beschreibung der Aufgabenstellung. Vorliegend gibt es aber Lösungen, welche für den Auftraggeber einen größeren Mehrwert haben. Daher kann durch den Bieter nur eine Lösung bestätigend beantwortet werden. Je schlechter die Lösung für den Auftraggeber ist, desto weniger Punkte erhält ein Bieter für sein Angebot innerhalb des Kriteriums.
In der Praxis wird häufiger das Problem bestehen, dass aus welchen tatsächlichen Gründen auch immer, eine vollständige Ausdifferenzierung der Kriterien in Verbindung mit den Erwartungshorizonten gemäß dem „Matrjoschka Prinzip“ nicht möglich ist.
Unterstellt man den Auftraggebern, dass eine umfangreiche Markterkundung durchgeführt wurde und dennoch die Notwendigkeit für konzeptionelle Bewertungskriterien besteht, bleibt folgende Alternative zur Lösung der zentralen Fragestellung:
Der essentielle Wesensgehalt konzeptioneller Kriterien ist, dass durch einen Auftraggeber zwar das Ziel definiert, nicht jedoch der detaillierte Lösungsweg bekannt und/oder beschrieben werden kann. Folglich ist es nicht möglich die Zielstellung detailliert nach dem Matrjoschka-Prinzip in dessen Bestandteile zu differenzieren. Daher wird es, sofern künftig durch einen Auftraggeber noch Konzepte verlangt werden dürfen, immer ein Delta zwischen der Bekanntmachung und der tatsächlichen Bewertung der Bewertungskriterien anhand der Angebotsunterlagen geben. Diese Feststellung resultiert aus dem Grundgedanken einer konzeptionellen Bewertung, da dem öffentlichen Auftraggeber gerade nicht bekannt ist, wie seine Zielvorstellung durch die Bieter umgesetzt werden kann. Mithin muss für einen Bieter jedoch erkenntlich sein, auf welche Punkte der Auftraggeber bei seiner Entscheidung Wert legt. Darüber hinaus ist der Auftraggeber zumindest nachträglich verpflichtet im Rahmen seiner Informationspflicht gem. § 134 GWB die Entscheidungs- und Erwägungsgründe transparent und detailliert den Bietern mitzuteilen. Die Abfrage von Innovationen kann beispielsweise anhand des folgenden Kriteriums erfolgen, welches zwar den Erwartungshorizont darstellt, gleichwohl die Umsetzung des Gesamtkonzepts anhand der aufgeworfenen Zielvorstellung bewertet:
Nachfolgend wird ein konkretes Beispiel zum Kundensupport dargestellt. Hierbei ist zu beachten, dass innerhalb der Leistungsbeschreibung detaillierte Ausführungen zu diesem Kriterium erfolgen müssen (hinsichtlich unbestimmter Rechtsbegriffe, z.B. „hohe Qualität“ und geforderter Mindestanforderungen):
Vorliegend wird zwar der durch den Auftraggeber zu bewertende Erwartungshorizont klar dargestellt, allerdings werden für die Erwartungshorizonte keine separierten Bewertungspunkte verteilt. Vielmehr soll den Bietern die Möglichkeit gegeben werden, darzulegen, wie die einzelnen Teilbereiche der Gesamtlösung zusammenwirken. Folglich ist gewährleistet, dass durch den Bieterkreis eine konzeptionelle Lösung erarbeitet wird. Durch eine Ausdifferenzierung des Erwartungshorizontes mit einzelnen Bewertungspunkten könnte faktisch kein Konzept erarbeitet werden, da es andernfalls bei dem Kriterientypus zu einer reinen Abfrage von Stichpunkten führen würde und somit das Ziel, die Erarbeitung von Konzepten, konterkariert wird.
Aus den dargestellten Kriterientypen zeigt sich, dass durch einen Auftraggeber eine sehr umfangreiche Marktrecherche durchgeführt werden muss. Unabhängig von den zuvor getroffenen Feststellungen darf eine mangelhaft durchgeführte Marktrecherche nicht missbräuchlich dazu führen, dass durch Auftraggeber ausschließlich das Instrument „konzeptioneller“ Kriterien genutzt wird. Die Anforderungen sind im angemessenen Umfang in deren Bestandteile zu divergieren und nur bei tatsächlich innovativen Lösungswegen ist auf konzeptionelle Kriterien zurückzugreifen.
In der Summe ist festzustellen, dass ein Vergabepraktiker, welcher aktuell zu 100 Prozent eine rechtssichere Vergabe durchführen möchte, ausschließlich Kriterien wählen muss, welche er abschließend mit seinem Erwartungshorizont und Erfüllungsgrad beschreiben kann. Hierzu stehen ihm die nach dem Matrjoschka-Prinzip beschriebenen Kriterientypen (1 bis 4) zur Verfügung.
Auftraggeber, welche einen unbekannten, aber eventuell sehr guten Lösungsweg, anstreben, müssen den nachinstanzlich nicht abschließend beschriebenen Weg über konzeptionelle Kriterien wählen. Dies erfordert neben einer detaillierten Marktkenntnis ein gewisses Maß an Mut.
Gleichzeitig muss durch die Nachprüfungsinstanzen indes ein Delta zwischen der Bekanntmachung und der tatsächlichen Bewertung akzeptiert werden.
Anmerkung der Autoren:
Aus Gründen der Übersichtlichkeit und besseren Lesbarkeit wird in den Beiträgen überwiegend die männliche Form verwendet. Jede Formulierung gilt natürlich ebenso für die weibliche Form. Die von den Autoren im Vergabeblog vertretenen rechtlichen Ansichten geben ausschließlich ihre private Meinung wieder und sind keine offizielle Positionierung der Landeshauptstadt München oder von it@M zu vergaberechtlichen Fragestellungen.
[1] VK Südbayern, Beschl. v. 21.11.2016 – 37-09/16
[2] Bei einer Matrjoschka handelt es sich um eine ineinander stapelbare, russische Holzpuppe, welche aus Holz gefertigt wird.
Ina Bellmann
Ina Bellmann ist Mitarbeiterin in der Vergabestelle für IT- und Telekommunikationstechnologie der Landeshauptstadt München. In ihr Aufgabengebiet fällt die Vergabe von Fachapplikationen für die Landeshauptstadt München. Insgesamt ist Frau Bellmann seit nunmehr sieben Jahren im Bereich Vergabewesen für Liefer- und Dienstleistungen tätig.
Michael Kaul
Michael Kaul ist Mitarbeiter in der Vergabestelle für IT- und Telekommunikationstechnologie der Landeshauptstadt München. In sein Aufgabengebiet fällt die Vergabe von Fachapplikationen für die Landeshauptstadt München.
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