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OLG Düsseldorf gibt seine Schulnotenrechtsprechung in wichtigen Punkten auf – vorerst! (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 08.03.2017 – VII-Verg 39/16)

Das OLG Düsseldorf hält in seinem Beschluss vom 08.03.2017 (Az. VII-Verg 39/16) anlässlich der Dimarso-Entscheidung des EuGH vom 14.07.2016 (Az. C-6/15, vgl. Neusüß, Vergabeblog.de vom 21/08/2016, Nr. 27080) weder daran fest, dass die Bewertungsmethode zu veröffentlichen ist, noch daran, dass ein Bieter die Bewertung des Erfüllungsgrads seines Angebots im Vorhinein erkennen können muss; nach Auffassung des Verfassers kann die ausdrücklich nur zum außer Kraft getretenen Vergaberecht ergangene Entscheidung auf das geltende Vergaberecht übertragen werden.

§ 97 Abs. 1 GWB, § 127 Abs. 4 GWB

Leitsätze des Bearbeiters

  1. Die Bewertungsmethode muss Bietern nicht vorab bekannt gemacht werden.
  2. Einem Bieter muss es im Vorhinein nicht möglich sein zu erkennen, welchen bestimmten Erfüllungsgrad sein Angebot auf der Grundlage der Zuschlagskriterien erreichen muss, um mit einer bestimmten Notenstufe oder Punktzahl bewertet zu werden, auch wenn die Bewertungsmethode (freiwillig) bekannt gegeben wurde.
  3. Leitsätze 1 und 2 gelten ausdrücklich nur für das außer Kraft getretene Vergaberecht. Die Entscheidung äußert sich nicht zum geltenden Vergaberecht.
  4. Bei der Wertungsentscheidung haben öffentliche Auftraggeber einen gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum.

Sachverhalt

Die Antragsgegnerin schrieb den beabsichtigten Abschluss eines Rahmenvertrags für Gerätekraftwagen in einem offenen Verfahren europaweit aus. Als Zuschlagskriterium bildete die Antragsgegnerin u. a. sieben unterschiedlich gewichtete konkret beschriebene Anforderungsblöcke, die zusammen den Nutzwert der Fahrzeuge ergeben sollten. Den Zuschlag sollte das Angebot erhalten, das das beste Nutzwert-Preis-Verhältnis aufwies.

Für jeden Anforderungsblock sollten Bewertungspunkte von 1-5 vergeben werden, die im Ergebnis folgendermaßen definiert und den Bietern bekannt gemacht wurden:

  • 1 = nicht akzeptabel (Abweichungen, aufgrund dessen der Verwendungszweck nicht mehr erfüllt werden kann)
  • 2 = erhebliche Beanstandungen (Abweichungen, die Verwendungszweck stark beeinflussen)
  • 3 = noch akzeptabel (Abweichungen, die den Verwendungszweck nicht maßgeblich beeinflussen)
  • 4 = leichte Mängel (Abweichungen, die den Verwendungszweck nicht beeinflussen)
  • 5 = ohne Mängel.

Die Antragstellerin rügte die Bewertungsmethode vor Angebotsabgabe nicht.

Sie erreichte insgesamt einen Nutzwert von 4,75 Punkten (Punktabzug wegen eines erhöhten Ruhestroms von 630 mA statt 500 mA), die Beigeladene von 4,95 Punkten (Punktabzug wegen Fehlens eines bundesweiten Service-Netzes). Fehlende höhenverstellbare Kopfstützen und Feuerwehrhelmhalter führten nicht zu Abzügen beim Angebot der Beigeladenen. Aufgrund des günstigeren Angebots der Beigeladenen beabsichtigte die Antragsgegnerin, entsprechend den Zuschlagskriterien der Beigeladenen den Zuschlag zu erteilen, und informierte darüber die übrigen Bieter.

Die Antragstellerin leitete daraufhin ein Nachprüfungsverfahren ein. Die Vergabekammer gab ihrem Antrag mit der Begründung statt, das Bewertungssystem lasse im Vorhinein nicht die Bestimmung zu, welchen Erfüllungsgrad die Angebote bei den technischen Anforderungen aufweisen müssten, um mit den festgelegten Punktewerten bewertet zu werden.

Die Entscheidung

Auf die sofortige Beschwerde der Beigeladenen hob das OLG Düsseldorf die Entscheidung der Vergabekammer auf und wies den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurück.

1. Zunächst stellte der Senat fest, dass die Antragstellerin mit ihrem Vorbringen zur Intransparenz der Bewertungsmethode trotz unterbliebener Rüge nicht präkludiert und der Antrag daher insoweit zulässig sei. Der vermeintliche Vergaberechtsverstoß sei für die Antragstellerin nicht erkennbar gewesen, im Wesentlichen weil von einem durchschnittlichen Bieter keine Kenntnis der sich noch entwickelnden Rechtsprechung zur Transparenz von Bewertungsmaßstäben verlangt werden könne. Ob bei einem anwaltlich vertretenen Bieter etwas anderes gelte, könne dahinstehen, da nicht festgestanden habe, dass die Antragstellerin zum maßgeblichen Zeitpunkt anwaltlich vertreten gewesen sei.

2. Der Antrag sei aber unbegründet.

a) Der Senat stellte zunächst die Entwicklung der so genannten Schulnotenrechtsprechung dar. Diese basiere maßgeblich auf der Entscheidung des EuGH vom 14.2.2008 (Az. 6-532/06). Nach dieser Entscheidung müssen alle Kriterien, die vom Auftraggeber bei der Bestimmung des wirtschaftlich günstigsten Angebots berücksichtigt werden, sowie ihre relative Bedeutung den potentiellen Bietern zum Zeitpunkt der Vorbereitung der Angebote bekannt sein. Daraus habe der Senat abgeleitet, dass auch eine detaillierte Bewertungsmatrix den Bietern vorab bekannt zu geben sei.

b) An dieser Auffassung hält der Vergabesenat des OLG Düsseldorf angesichts der Dimarso-Entscheidung des EuGH vom 14.07.2016 (Az. C-6/15), ausdrücklich beschränkt auf das am 17.04.2016 außer Kraft getretene Vergaberecht, nicht mehr fest. Der EuGH hatte entschieden, dass europarechtliche Vorgaben die Bekanntgabe der Bewertungsmethode vor Angebotsabgabe nicht fordern. Nach Auffassung des OLG Düsseldorf lässt sich nicht feststellen, dass der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie 204/18/EG über die Transparenzanforderungen des europäischen Rechts hinausgehen wollte.

c) Aus dem Umstand, dass der EuGH bereits die Veröffentlichung der Bewertungsmethode nicht fordere, ergebe sich zweifelsfrei, dass es einem Bieter auch nicht im Vorhinein möglich sein müsse, zu erkennen, welchen bestimmten Erfüllungsgrad sein Angebot auf der Grundlage der Zuschlagskriterien erreichen muss, um mit einer bestimmten Notenstufe oder Punktzahl eines Notensystems bewertet zu werden. Das gelte auch für den Fall, dass den Bietern die Bewertungsmethode vorab bekannt gegeben worden sei.

d) Zwei Punkte sind weiterhin zu beachten: Die Bekanntgabe der Bewertungsmethode dürfe erstens nicht zu einer Irreführung der Bieter führen, die Leistungsbeschreibung, die Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung müssten hinreichend klar bleiben, so das OLG Düsseldorf. Zweitens sei die Wertungsentscheidungen daraufhin zu überprüfen, ob das vorgeschriebene Verfahren für die Bewertung eingehalten und der Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt werde sowie die von der Vergabestelle selbst aufgestellten Vorgaben beachte und keine sachwidrigen und gegen allgemeine Bewertungsgrundsätze verstoßenden Erwägungen angestellt werden. Es findet also eine ex-post-Überprüfung der Bewertungsentscheidung statt.

Da die vorgenannten Punkte nach Auffassung des OLG Düsseldorf im entschiedenen Fall eingehalten wurden, hat es auch die Wertungsentscheidung nicht beanstandet.

e) Auch mit den übrigen Rügen drang die Antragstellerin nach Auffassung des OLG Düsseldorfs nicht durch. Von einer Darstellung wird hier abgesehen.

Rechtliche Würdigung

1. In erfrischender Klarheit schließt sich das OLG Düsseldorf der Rechtsprechung des EuGH und der Auffassung verschiedener Stimmen aus der Literatur (vgl. nur in Vergabeblog.de: Neusüß vom 04/12/2016, Nr. 28130 und vom 21/08/2016, Nr. 27080 sowie Ortner, vom 25/09/2016, Nr. 27344) zu den daraus für das nationale Recht zu ziehenden Konsequenzen an. Das OLG Düsseldorf kompensiert fehlende Anforderungen an den Erfüllungsgrad auch nicht durch höhere Anforderungen an die Konkretisierung der Zuschlagskriterien, sondern weist den Nachprüfungsantrag im Ergebnis ab.

2. Leider beschränkt das OLG Düsseldorf seine Aussagen ausdrücklich auf das außer Kraft getretene Vergaberecht. Ob und gegebenenfalls inwieweit sich nach Auffassung des OLG Düsseldorf aus der Dimarso-Entscheidung des EuGH auch Konsequenzen für das geltende Vergaberecht ergeben, bleibt damit offen.

3. Nach Auffassung des Verfassers ist eine Übertragung der Dimarso-Entscheidung auf das geltende Vergaberecht zwar nicht zwingend, im Ergebnis aber geboten (vgl. dazu bereits Neusüß, Vergabeblog.de vom 04/12/2016, Nr. 28130):

a) Die Richtlinie 2014/24/EU und das neugefasste GWB sehen Anforderungen an Zuschlagskriterien vor, die im bisherigen Recht nicht enthalten waren. In Art. 67 Abs. 4 2014/24/EU heißt es:

Die Zuschlagskriterien dürfen nicht zur Folge haben, dass dem öffentlichen Auftraggeber uneingeschränkte Wahlfreiheit übertragen wird. Sie müssen die Möglichkeit eines wirksamen Wettbewerbs gewährleisten und mit Spezifikationen einhergehen, die eine wirksame Überprüfung der von den Bietern übermittelten Informationen gestatten, damit bewertet werden kann, wie gut die Angebote die Zuschlagskriterien erfüllen. Im Zweifelsfall nehmen die öffentlichen Auftraggeber eine wirksame Überprüfung der Richtigkeit der von den Bietern beigebrachten Informationen und Nachweise vor.

Umgesetzt wird diese Regelung in §  127 Abs. 4 GWB:

Die Zuschlagskriterien müssen so festgelegt und bestimmt sein, dass die Möglichkeit eines wirksamen Wettbewerbs gewährleistet wird, der Zuschlag nicht willkürlich erteilt werden kann und eine wirksame Überprüfung möglich ist, ob und inwieweit die Angebote die Zuschlagskriterien erfüllen. Lassen öffentliche Auftraggeber Nebenangebote zu, legen sie die Zuschlagskriterien so fest, dass sie sowohl auf Hauptangebote als auch auf Nebenangebote anwendbar sind.

Das OLG Düsseldorf könnte eine Fortsetzung der Schulnotenrechtsprechung  unter dem neuen Vergaberecht  also mit einer Änderung der Richtlinie und des GWB rechtfertigen, wenn die Feststellungen des EuGH zum alten Recht auf das neue Recht nicht übertragbar wären.

b) Es spricht allerdings viel dafür, dass Art. 67 Abs. 4 2014/24/EU und nachfolgend §  127 Abs. 4 GWB nur die bisherige Rechtsprechung des EuGH kodifizieren und damit keine Rechtsänderung bewirken. So hat der EuGH bereits zum alten Recht festgestellt, dass es für die Vergabestelle möglich sein muss, die Erfüllung von Zuschlagkriterien effektiv zu kontrollieren und das die Transparenzpflicht dazu dient, die Gefahr von willkürlichen Entscheidungen zu verhindern (EuGH, Urteil vom 06. November 2014 C-42/13, Rn. 44, juris; EuGH, Urteil vom 04. Dezember 2003 C-448/01, Rn 52, juris).

Auch die Gewährleistung eines wirksamen Wettbewerbs hat der EuGH bereits aus dem Gleichbehandlungs- und Wettbewerbsgrundsatz abgeleitet (Vgl. nur EuGH, Urteil vom 29. April 2004 C-496/99 P, Rn. 108ff., juris).
Aus den neuen Regelungen ergeben sich daher keine Anforderungen, die nicht vom EuGH in der TNS-Dimarso-Entscheidung bereits zu berücksichtigen waren.

Im Übrigen sieht auch die neue Rechtslage keine Pflicht zur Veröffentlichung der Bewertungsmethode, sondern ausdrücklich nur eine Pflicht zur Veröffentlichung der Zuschlagskriterien und ihrer Gewichtung vor, vgl. Art. 67 Abs. 5 Richtlinie 2014/24/EU und §  127 Abs. 5 GWB. Auf die nahezu gleichlautende Vorgängerregelung stellte der EuGH in der TNS-Dimarso-Entscheidung maßgeblich ab.

c) Im Ergebnis ist dem OLG Düsseldorf eine einfache Fortsetzung der Schulnotenrechtsprechung nach dem TNS-Dimarso-Urteil des EuGH auch unter dem neuen Vergaberecht verwehrt.

4. Durch den ausdrücklichen Hinweis, dass sich die hier besprochene Entscheidung des OLG Düsseldorf auf das außer Kraft getretene Recht bezieht, hält sich das OLG Düsseldorf aber die Option offen, in geeigneten Fällen die Schulnotenrechtsprechung unter dem neuen Vergaberecht wieder aufzunehmen und insbesondere zu fordern, dass es einem Bieter im Vorhinein möglich sein muss zu erkennen, welchen bestimmten Erfüllungsgrad sein Angebot auf der Grundlage der Zuschlagskriterien erreichen muss, um mit einer bestimmten Notenstufen oder Punktzahl eines Notensystems bewertet zu werden. Rechtssicherheit besteht also weiterhin nicht.

Praxistipp

1. Absolut rechtssicher ist weiterhin nur ein Vergabeverfahren, das der nur für das alte Vergaberecht aufgegebenen Schulnotenrechtsprechung des OLG Düsseldorf weiterhin folgt und in dem daher die Bewertungsmethode einschließlich einer konkreten Beschreibung des Erfüllungsgrads den Bietern vorab bekannt gegeben wird.

2. Gerade bei funktionalen Ausschreibungen sollten aber die Einschränkungen und der Mehraufwand durch Beachtung der Schulnotenrechtsprechung gegen die verbleibenden, nunmehr deutlich geringeren rechtlichen Risiken abgewogen werden. Insbesondere wenn der Erfüllungsgrad nach dieser Abwägung nicht weiter konkretisiert werden soll, ist besonderes Augenmerk auf die Ausgestaltung der Zuschlagskriterien zu richten, um den (strengen) Anforderungen der Rechtsprechung zu genügen.

3. Weiterhin muss nach wohl einhelliger Auffassung die Bewertungsmethode jedenfalls vor Wertung der Angebote feststehen, auch wenn sie nicht bekannt gemacht wird, soweit der Einzelfall keine Abweichung aus besonderen Gründen rechtfertigt. Dies ist in den Vergabeunterlagen zu dokumentieren.

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Über Dr. Peter Neusüß

Der Autor Dr. Peter Neusüß ist Rechtsanwalt der Sozietät Sparwasser & Heilshorn Rechtsanwälte, Freiburg. Herr Dr. Peter Neusüß berät im Bereich des Vergabe-, Bau-, Abfall- und Energierechts insbesondere die öffentliche Hand, aber auch private Unternehmen. Er begleitet  und unterstützt öffentliche Auftraggeber im Vergabeverfahren von der Vorbereitung einschließlich der Einbindung der (kommunalen) Gremien über die Erstellungder Vergabeunterlagen und Bieterinformationen bis hin zur Zuschlagserteilung und vertritt sie, soweit erforderlich, in Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern und den Oberlandesgerichten.

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