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Das Ende der Aufgreifschwellen? Oder: Wann muss der Angebotspreis aufgeklärt werden? (EuG, Urt. v. 26.01.2017 – T-700/14 TV1/Kommission)

Ein ungewöhnlich/unangemessen niedriges Angebot darf nicht bezuschlagt werden. Das regeln die § 60 Abs. 3 VgV und § 16d EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A. Erscheint der Preis eines Angebotes deshalb ungewöhnlich/unangemessen niedrig, so muss der Auftraggeber vom Bieter Aufklärung verlangen und es näher prüfen (§ 60 Abs. 1 und 2 VgV, § 16d EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A). Hierfür haben weite Teile der deutschen Vergaberechtsprechung sog. „Aufgreifschwellen“ entwickelt, bei deren Erreichen der Auftraggeber verpflichtet ist, den Angebotspreis eingehend aufzuklären und zu prüfen.
Einem ähnlichen Vergaberegime unterliegen auch Beschaffungen der Europäischen Kommission: Scheint ein Angebot ungewöhnlich niedrig zu sein, so muss die Kommission vor Ablehnung eines Angebotes die einzelnen Positionen des Angebotes aufklären. Auch hier ist also die Frage zu beantworten, wann ein Angebotspreis ungewöhnlich niedrig ist und aufgeklärt werden muss. Die Entscheidung des EuG vom 26.01.2017 ist nicht nur wegen dieser vergleichbaren Rechtslage, sondern auch wegen des jüngsten Urteils des BGH vom 31.01.2017 X ZB 10/16 (Anm. d. Red.: siehe dazu die ausführliche Besprechung auf  ) zur Prüfung der Preisbildung von allgemeinem Interesse.
§ 60 VgV, § 16d EU Abs. 1 VOB/A

Leitsatz

Der bloße Umstand, dass der Preis des Angebotes des erfolgreichen Bieters niedriger ist als der des aktuellen Auftragnehmers, kann als solcher nicht belegen, dass das Angebot des erfolgreichen Bieters ungewöhnlich niedrig ist (Rdnrn. 58, 59).

Sachverhalt

Die Kommission hat für den Fernseh- und Informationsdienst Europe by Satellite integrierte Dienstleistungen für die audiovisuelle Produktion, Verbreitung und Archivierung europaweit in vier Losen ausgeschrieben. Auf das Los, das Dienste für Streaming, Komprimierung, Hosting und Bereitstellung von Inhalten zum Gegenstand hatte, gab die bei München ansässige TV1 GmbH erfolglos ein Angebot ab. Gegen die Beauftragung des um 11% günstigeren Konkurrenten rief die TV1 GmbH das europäische Gericht an und begründete ihre Klage u.a. damit, dass das um 40% unter dem geschätzten Auftragswert liegende Angebot des erfolgreichen Bieters ungewöhnlich niedrig und keine nähere Aufklärung erfolgt sei, weshalb das Angebot auszuschließen gewesen wäre. Der Sachverhalt lässt allerdings offen, ob das Angebot der TV1 GmbH auch preislich zweitplatziert war.

Die Entscheidung

Die europäischen Richter erinnern zunächst daran, dass nach der EuGH-Rechtsprechung (Urt. v. 18.12.2014 C-568/13 Data Medical Service, Rdnr. 50) ein ungewöhnlich niedriges Angebot im Verhältnis zu den Einzelposten des Angebotes und zur betreffenden Leistung zu beurteilen ist. Dementsprechend können insoweit auch alle im Hinblick auf die fragliche Leistung maßgeblichen Umstände bei der Preisprüfung berücksichtigt werden (Rdnr. 37). Zudem weist das Gericht allgemein darauf hin, dass ein Bieter nicht ausgeschlossen werden darf, wenn er keine Gelegenheit hatte, den Inhalt seines ungewöhnlich niedrig scheinenden Angebotes zu rechtfertigen: Wenn Zweifel an der Verlässlichkeit des Bieters bestehen, insbesondere an seiner ordnungsgemäßen Auftragserfüllung, dann besteht die Verpflichtung zur Aufklärung (Rdnr. 40).

Den klägerischen Einwand, der erfolgreiche Angebotspreis lag um 40% unter dem geschätzten Auftragswert und begründe deshalb eine Aufklärungspflicht der Kommission, hat das Gericht zurückgewiesen (Rdnr. 46). Die Richter hielten nämlich die kommissarische Verteidigung für plausibel, dass bei der Auftragswertschätzung der unstrittige Preisrückgang für die nachgefragten Leistungen nicht berücksichtigt war. Ein solcher Umstand darf bei der Preisprüfung später noch berücksichtigt werden (Rdnr. 54). Außerdem lagen alle Preisangebote unter dem geschätzten Jahresbudget (Rdnr. 49), weshalb das Gericht insoweit keinen Anhaltspunkt für eine preisliche Aufklärungspflicht feststellte.

Die zweite Rüge, der Preisabstand von 11% zwischen den beiden Angeboten des erfolgreichen Bieters und der möglicherweise zweitplatzierten – TV1 GmbH begründe ein aufklärungspflichtiges ungewöhnlich niedriges Angebot, hielten die Unionsrichter ebenfalls für unbegründet (Rdnr. 76). Der bloße Umstand, dass der Preis des Angebotes des erfolgreichen Bieters niedriger ist als der des Angebotes eines anderen Bieters, kann nicht belegen, dass das erstgenannte Angebot ungewöhnlich niedrig ist (Rdnr. 58). Das gilt auch für den Fall, dass der erfolgreiche Bieter billiger offeriert als der derzeitige Leistungserbringer (Rdnr. 59). Vielmehr hat die TV1 GmbH nichts weiter dafür vorgetragen, das ein ungewöhnlich niedriges Angebot in diesem besonderen Leistungssektor begründet hätte (Rdnr. 60). Das weitere klägerische Vorbringen, die nachgefragten Leistungen würden erhebliche Investitionen in die Infrastruktur erfordern, hat das Gericht angesichts der Größe und Erfahrungen des erfolgreichen Bieters ebenfalls zurückgewiesen, weil es ist nicht auszuschließen ist, dass ein solches Unternehmen über einen gewissen Teil der nötigen Infrastruktur selbst verfügt (Rdnr. 66). Auch der Einwand, der bezuschlagte Bieter sei nicht imstande gewesen, das ausgeschriebene System innerhalb der vorgesehenen Zeit einzurichten, hielten die Unionsrichter schon für deshalb unbegründet, weil es sich um einen zeitlich nach der Vergabeentscheidung eingetretenen Umstand handelt (Rdnr. 70 ff.). Schlussendlich konnten die von der TV1 GmbH geltend gemachten Umstände nicht belegen, dass das Angebot des erfolgreichen Bieters ungewöhnlich niedrig war und daher hätte aufgeklärt werden müssen (Rdnr. 75).

Die Kommission war deshalb nach Ansicht der Unionsrichter im Ergebnis nicht verpflichtet gewesen, den bezuschlagten Bieter zu näheren Angaben aufzufordern, weil weder sein Angebot noch die Begleitumstände Zweifel an seiner Verlässlichkeit hervorgerufen haben (Rdnrn. 77, 87).

Rechtliche Würdigung

Die Verpflichtung öffentlicher Auftraggeber zur Preisaufklärung ungewöhnlich niedriger Angebote hat der EuGH erstmals bei der Baukoordinierungs-RL 71/305 bestätigt: Wenn das Angebot eines Bieters nach Auffassung des öffentlichen Auftraggebers im Verhältnis zu den zu erbringenden Leistungen offensichtlich ungewöhnlich niedrig ist, muss der Bieter vor der Vergabe des Auftrages aufgefordert werden, einen Beleg für sein Preisangebot beizubringen, oder ihm muss unter angemessener Fristsetzung die Möglichkeit eingeräumt werden, zusätzliche Angaben zu treffen (EuGH, Urt. v. 10.02.1982 C-76/81 Transporoute, Rdnr. 18). Schon damals stand die Ermittlung des zweifelhaften Angebotes am Anfang einer effektiven kontradiktorischen Erörterung zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und dem Bieter (EuGH, Urt. v. 27.11.2001 C-285/99 u. C-286/99 Lombardini und Mantovani, Rdnr. 57).

Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung könnte das Urteil des EuG rechtliche Zweifel an der Zulässigkeit von Aufgreifschwellen bei der Preisprüfung streuen. Denn die richterlichen Entscheidungsgründe könnten so zu verstehen sein, dass dem bloßen Preisabstand zwischen Angeboten und somit Aufgreifschwellen, ganz gleich in welcher prozentualen Höhe, keine besondere Bedeutung für die Frage beigemessen wird, ob ein Angebot ungewöhnlich/unangemessen niedrig und deshalb näher aufzuklären ist. Die vom BGH noch nicht entschiedene Streitfrage, ob die Aufgreifschwelle immer erst bei einem Preisabstand von 20% zum nächsthöheren Angebot erreicht ist oder schon bei über 10% eingreift, kann deshalb möglicherweise obsolet erscheinen. Gleiches könnte dafür gelten, dass ein ungewöhnlich/unangemessen niedriger Preis nach dem BGH nicht nur anhand eines signifikanten Abstandes zum nächstgünstigen Angebot in demselben Vergabeverfahren festgestellt werden kann, sondern auch bei augenfälliger Abweichung von in vergleichbaren Ausschreibungen oder sonst erfahrungsgemäß geforderten Preisen.

Für die Beschaffungspraxis sind Aufgreifschwellen aber ein praktikabler Maßstab, um schnell und einfach feststellen zu können, ob ein nähere Preisprüfung/-aufklärung erfolgen muss oder nicht. Die vom europäischen Gericht zum Vorliegen von Zweifeln an der Verlässlichkeit des Angebots geforderte Berücksichtigung aller für die ausgeschriebenen Leistungen maßgeblichen Umstände könnte einerseits gegen starre Aufgreifschwellen sprechen. Andererseits weist das europäische Gericht ausdrücklich darauf hin, dass öffentlichen Auftraggebern auch bei der preislichen Aufklärung ein weites Ermessen zusteht (Rdnr. 44), was eben auch für die Zulässigkeit von Aufgreifschwellen streiten kann. Dafür spricht ferner, dass der EuGH die Mitgliedsstaaten und insbesondere die öffentlichen Auftraggeber für befugt hält, auf welche Weise eine Ungewöhnlichkeitsschwelle für ein ungewöhnlich niedriges Angebot zu errechnen ist (EuGH, Urt. v. 18.12.2014 C-568/13 Data Medical Service, Rdnr. 49). Für eine einheitliche Rechtsanwendung und höhere Rechtssicherheit wäre es daher wünschenswert, wenn bspw. der Bundesgesetzgeber differenzierte Aufgreifschwellen oder eine Berechnungsmethode bestimmt, um die Pflicht zur preislichen Aufklärung näher festzulegen.

Ausdrücklich offen gelassen haben die Unionsrichter allerdings die Frage, ob die TV1 GmbH überhaupt klagebefugt war (Rdnr. 88). Hierzu hat der BGH in seinem Urteil vom 31.01.2017 (X ZB 10/16) festgestellt, dass jeder Bieter nach § 97 Abs. 6 GWB einen Rechtsanspruch auf Einhaltung der preisprüfungsrelevanten Bestimmungen hat, ganz gleich, ob bspw. die Gefahr besteht, dass der zu vergebende Auftrag infolge der Preisbildung nicht ordnungsgemäß ausgeführt werden kann. Insoweit ist mit dem BGH übereinzustimmen, dass ein Bieter z.B. zur Frage der ordnungsgemäßen Auftragsausführung des Konkurrenten in der Regel nichts Konkretes vortragen kann, weil dies Einblicke in dessen unternehmerische Sphäre voraussetzen würde, über die er normalerweise nicht verfügt.

Praxistipp

Ob und welche Schlüsse der EuGH aus den rechtlichen Ausführungen des EuG zur Aufklärung ungewöhnlich niedriger Preisangebote folgern könnte, bleibt abzuwarten. Denn die vom EuG gewürdigten Regelungen zur Preisprüfung sind zwar zu den entsprechenden Vorschriften der europäischen Vergaberichtlinien durchaus ähnlich, aber eben auch nicht identisch. Auftraggeber und Bieter sollten sich deshalb weiterhin vor allem an der aktuellen Rechtsprechung zur Höhe der Aufgreifschwellen des BGH und der für sie jeweils zuständigen Vergabesenate und Vergabekammern orientieren.

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Über Holger Schröder

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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