§ 135 Abs. 3 GWB enthält eine im vergangenen Jahr neu in das GWB eingefügte Vorschrift. Sie setzt erstmals Art. 2d RL 89/665/EWG bzw. RL 92/13/EWG, jeweils in der Fassung der RL 2007/66/EG, in deutsches Recht um. Danach ist ein vergebener Auftrag nicht unwirksam, wenn der öffentliche Auftraggeber (1.) der Ansicht ist, dass eine Auftragsvergabe auch ohne wettbewerbliche Bekanntmachung zulässig ist, er (2.) seine Absicht, den Vertrag abzuschließen freiwillig ex-ante bekanntmacht, und er (3.) den Vertrag nicht vor Ablauf einer Frist von mindestens zehn Kalendertagen nach europaweiter Veröffentlichung der Ex-ante-Transparenzbekanntmachung abschließt. Diese freiwillige Bekanntmachung muss gemäß § 135 Abs. 3 Satz 2 GWB u.a. eine Begründung, den Auftrag ohne wettbewerbliche Bekanntmachung zu vergeben, und den Namen des avisierten Vertragspartners umfassen.
Ausschreibungspflichtige öffentliche Aufträge, die ohne wettbewerbliche Bekanntmachung im EU-Amtsblatt de-facto vergeben wurden, sind andernfalls gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB von Anfang unwirksam, wenn dieser Verstoß in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt wird. Diese Unwirksamkeit kann nicht später als sechs Monate nach Vertragsabschluss geltend gemacht werden (§ 135 Abs. 2 Satz 1 GWB). Die Frist zur Geltendmachung der Unwirksamkeit verkürzt sich auf 30 Kalendertage, wenn der Auftraggeber die nichtberücksichtigten Bieter und Bewerber über den Vertragsabschluss informiert hat oder der vergebene Auftrag im EU-Amtsblatt bekannt gemacht wurde (§ 135 Abs. 2 Satz 1 u. 2 GWB).
§ 135 Abs. 3 GWB; Art. 2d Abs. 4 RL 89/665/EWG bzw. RL 92/13/EWG, Art. 60 Abs. 4 RL 2009/81/EG.
Leitsatz
Ob der öffentliche Auftraggeber gemäß § 135 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB der Ansicht sein durfte, einen Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zu vergeben, ist im Nachprüfungsverfahren inhaltlich voll überprüfbar.
Sachverhalt
Das Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen beabsichtigte, eine Rahmenvereinbarung über die Lieferung von Leberdialyse-Monitore mit einem Gesamtwert von rund 1 Mio. abzuschließen. Zu diesem Zweck veröffentlichte die Vergabestelle am 30.08.2016 eine freiwillige Ex-ante-Transparenzbekanntmachung im EU-Amtsblatt und kündigte darin an, den Vertrag mit dem ausgewählten Unternehmer zehn Tage später zu schließen. Sie wies darauf hin, dass Einwände hiergegen binnen der Zehntagesfrist schriftlich zu erheben seien. Zur Begründung für das Verhandlungsverfahren ohne vorherigen Teilnahmewettbewerb verwies das Herz- und Diabeteszentrum NRW auf § 14 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b VgV, weil nur der ausgewählte Auftragnehmer Monitore liefern könne, die einer bestimmten Medizingerätenorm entsprächen und zudem mit anderen medizintechnischen Geräte kompatibel seien. Am 10.09.2016 wurde der Vertragsschluss sodann vollzogen.
Später am 16.12.2016 rügte ein Wettbewerber die Auftragsvergabe als rechtswidrig und forderte die Durchführung eines Ausschreibungswettbewerbs, an den er sich beteiligen wolle. Die Vergabestelle half der Rüge nicht ab. Der Konkurrent beantragte daraufhin am 06.01.2017 die Nachprüfung, also noch binnen sechs Monaten nach Vertragsabschluss.
Die Entscheidung
Der Münsteraner Spruchkörper der VK Westfalen gab dem Nachprüfungsantrag statt und stellte fest, dass die abgeschlossene Rahmenliefervereinbarung unwirksam ist.
Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
Ein Unternehmen kann vergaberechtswidrige, aber bereits geschlossene Verträge unter Einhaltung der in § 135 GWB genannten Fristen in einem Nachprüfungsverfahren für unwirksam erklären lassen. Vorliegend war nach Ansicht der VK Westfalen nur die Ausschlussfrist von sechs Monaten nach § 135 Abs. 2 Satz 1 GWB beachtlich. Denn der Auftraggeber hatte weder eine Bekanntmachung über den vergebenen Auftrag veröffentlicht noch den Antragsteller anderweitig informiert.
Die Ausnahmeregelung des § 135 Abs. 3 GWB eröffnet unter den dort genannten Voraussetzungen die Möglichkeit, die Feststellung der eigentlich gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB eintretenden Unwirksamkeit eines öffentlichen Auftrages zu vermeiden. Ob die Voraussetzungen des durch § 135 Abs. 3 GWB eröffneten Ausnahmetatbestandes vorliegen, ist im Rahmen des § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB immanent zu prüfen. Demgemäß sind auch die Fristen in § 135 Abs. 2 GWB für die Feststellung der Unwirksamkeit nach Abs. 1 zu beachten. Einem Unternehmen, dass die in § 135 Abs. 3 GWB genannte Frist von zehn Tagen nicht für Einwände gegenüber dem Auftraggeber nutzt, ist der Weg zur Vergabekammer nicht verwehrt. Bei der Zehntagesfrist handelt es sich um keine Ausschlussfrist, sondern um eine Mindest-Stillhaltefrist, die eine wirksame Nachprüfung ermöglichen soll. Ziel dieser Stillhaltefrist ist es, dass der Auftraggeber seine Absicht, den Vertrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zu vergeben, aufgrund neuer Argumente von am Auftrag interessierten Unternehmen nochmals überprüfen kann.
Der Nachprüfungsantrag ist auch begründet.
Die Voraussetzungen nach § 135 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB lagen nicht vor. Danach muss der Auftraggeber der Ansicht sein, dass die Auftragsvergabe ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im EU-Amtsblatt zulässig ist. Hierbei erfolgt eine inhaltliche Kontrolle durch die Nachprüfungsinstanz, deren Intensität und Tiefe offen ist. Nach der Überprüfung muss objektiv feststehen, dass kein Vergaberechtsverstoß durch den Auftraggeber vorliegt. Rein subjektive Vorstellungen der Vergabestelle, ob die Ansicht aufgrund der konkreten Umstände in sachlicher und rechtlicher Hinsicht vertretbar war, sind nach Auffassung des Münsteraner Spruchkörpers nicht ausreichend. Im vorliegenden Sachverhalt verneinte die VK Westfalen, dass der Auftrag aus technischen Gründen nur von einem bestimmten Unternehmen erbracht oder bereitgestellt werden konnte. Sie verwies hierbei auf den Ausnahmecharakter des § 14 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. b VgV und die deshalb gebotene enge Auslegung.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung ist in zweierlei Hinsicht von Interesse. Zum einen erörtert die VK Westfalen, ob die in § 135 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB enthaltene Zehntagesfrist bei Nichtbeachtung einen Nachprüfungsantrag ausschließt. Zum anderen thematisiert sie, ob der Begriff der Ansicht in § 135 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB objektiv oder subjektiv auszulegen ist.
§ 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB und § 135 Abs. 3 GWB stehen in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis (vgl. entsprechend EuGH, Urt. v. 11.09.2014 C-19/13 Fastweb, Rdnrn. 39 f.). Die durch die Ausschlussfristen in § 135 Abs. 2 GWB bedingte (schwebende) Unwirksamkeit eines nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB de-facto erteilten Auftrages tritt nicht ein, wenn ausnahmsweise die Voraussetzungen nach § 135 Abs. 3 GWB gegeben sind. Bei der Anwendung dieser Ausnahmeregelung kommt deshalb den nur für die beiden Regelfälle nach § 135 Abs. 1 GWB gedachten Ausschlussfristen nach § 135 Abs. 2 GWB keine Bedeutung mehr zu. Denn § 135 Abs. 3 GWB unterstellt die von Anfang an bestehende Rechtswirksamkeit, nicht die (schwebende) Unwirksamkeit eines vergebenen Auftrages i.S.d. § 135 Abs. 1 GWB. Dementsprechend kann im Anwendungsfall des § 135 Abs. 3 GWB auch nicht die Unwirksamkeit einer Auftragsvergabe nach § 135 Abs. 1 GWB festgestellt werden. Eine immanente Prüfung der Voraussetzungen des § 135 Abs. 3 GWB im Rahmen von § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB würde dem Regel-Ausnahme-Verhältnis widersprechen. Deshalb ist der in § 135 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB enthaltenen Zehntagesfrist ein Ausschlusscharakter beizumessen, wovon auch der EuGH auszugehen scheint, wenn er nach dem zehntägigen Fristablauf nur noch Schadensersatzklagen für möglich hält (EuGH, Urt. v. 11.09.2014 C-19/13 Fastweb, Rdnr. 62).
Die Zehntagesfrist bezweckt – ebenso wie die in § 134 Abs. 2 GWB geregelte zehn- bzw. fünfzehntägige Wartefrist – einerseits den interessierten Unternehmen vor der Auftragserteilung ein Anfechtungsrecht zuzubilligen, andererseits aber mit dem fristwahrenden, wirksam erteilten Zuschlag für Rechtssicherheit zu sorgen. Die Meinung, dass die Zehntagesfrist dem Auftraggeber lediglich ermöglichen solle, seine Entscheidung aufgrund neuer Argumente nochmals überprüfen zu können, erscheint nur in dem Sinne zutreffend, als der Auftraggeber allenfalls über Abhilfe oder Nichtabhilfe der unternehmensseitigen Einwände bzw. Rügen zu befinden hat. Erw.grd. 26 und 43 der RL 2007/66/EG machen insoweit deutlich, dass die Zehntagesfrist eine wirksame Nachprüfung ermöglichen und Rechtsunsicherheit vermeiden soll. Will ein Unternehmer deshalb den drohenden Vertragsabschluss verhindern, so muss er vor Ablauf der Zehntagesfrist des § 135 Abs. 3 GWB einen Nachprüfungsantrag einreichen, mit dem Ziel, dem Auftraggeber bei fortbestehendem Beschaffungswillen zu untersagen, den angekündigten Vertrag abzuschließen, und zu verpflichten, ein ordnungsgemäßes (wettbewerbliches) Vergabeverfahren durchzuführen. Andernfalls ist sein Nachprüfungsantrag unzulässig, wenn der Vertrag nach Ablauf der Stillhaltefrist von mindestens zehn Tagen rechtswirksam geschlossen wurde.
Zu Diskussionen lädt ferner die Meinung ein, nach der Kontrolle der drei Voraussetzungen des § 135 Abs. 3 GWB durch die Nachprüfungsinstanz müsse objektiv feststehen, dass kein Vergaberechtsverstoß durch den Auftraggeber vorläge und dass seinen subjektiven Vorstellungen keine prioritäre Bedeutung beizumessen sei. § 135 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB nimmt aber ausdrücklich auf die Ansicht und somit auf innere Tatsachen des Auftraggebers Bezug. Die weitgehende Ausblendung der subjektiven Sichtweise zugunsten einer vorrangigen objektiven Würdigung der Rechtslage scheint deshalb nicht sachgerecht zu sein. Auf die Bedeutung der subjektiven Sicht weist auch der EuGH (Urt. v. 11.09.2014 C-19/13 Fastweb, Rdnr. 48) hin, wenn er auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Auftraggebers und auf sein sorgfältiges Handeln hinsichtlich der tatsächlichen Erfüllung der Ausnahmegründe für ein Verhandlungsverfahren ohne vorherigen Teilnahmewettbewerb hinweist. Freilich darf die Berücksichtigung subjektiver Erwägungen nicht dazu führen, dass der Auftraggeber von einer sorgfältigen Prüfung der Sach- und Rechtslage entbunden oder gar die Darlegungs- und Beweislast zu Ungunsten eines Antragstellers umgekehrt wird. Der Auftraggeber muss seine subjektive Ansicht auf eine wettbewerbliche Veröffentlichung der Auftragsvergabe verzichten zu dürfen, klar und unmissverständlich in sachlicher und rechtlicher Hinsicht in der Ex-ante-Transparenzbekanntmachung begründen, damit interessierte Unternehmen in voller Kenntnis der Sachlage entscheiden können, ob sie es für nützlich erachten, ein Nachprüfungsverfahren einzuleiten (vgl. EuGH, Urt. v. 11.09.2014 C-19/13 Fastweb, Rdnr. 48).
Praxistipp
Auftraggeber sollten sich nicht vorschnell dazu verleiten lassen, Beschaffungen allein wegen der Möglichkeit einer Ex-ante-Transparenzbekanntmachung und der beachtlichen Zehntagesfrist ohne belastbare Sach- und Rechtsbegründung durchzuführen. Der bloße Wunsch, einen Auftrag gerne ohne wettbewerbliche Bekanntmachung an ein einziges Unternehmen vergeben zu wollen, genügt jedenfalls nicht. Da die mit der Ex-ante-Transparenzbekanntmachung verbundenen Risiken und Unwägbarkeiten von der Rechtsprechung noch nicht abschließend und obergerichtlich geklärt sind, dürften Vergabestellen aktuell gut beraten sein, § 135 Abs. 3 GWB nur in vergaberechtlich fundierten Beschaffungsfällen anzuwenden.
Holger Schröder
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss „Fachanwalt für Vergaberecht“ der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.
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